9punkt - Die Debattenrundschau

Wer die Kontrolle hat

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.03.2017. Wenn die Rechte ihre Politik durchsetzen kann, was genau soll dann mit den muslimischen Staatsbürgern in Europa geschehen? Im Guardian bittet Nick Cohen um Konkretisierung. Im Streit um Abtreibung geht es längst nicht mehr nur um Abtreibungsverbote, lernt die SZ. In der Jungle World fordert der senegalesische Ökonom und Anthropologe Tidiane N'Diaye die arabischen Länder auf, sich endlich mit ihrer Geschichte des Sklavenhandels auseinanderzusetzen. In der NZZ feiert Giorgio Fontana die Schönheit des Räsonierens.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.03.2017 finden Sie hier

Europa

Sobald es einen Terroranschlag gibt, steht die radikale Rechte in Europa und Amerika sofort bereit, das für ihre Agenda auszunutzen und pauschal gegen Muslime zu hetzen. In einigen Ländern haben sie bereits das Sagen. Vielleicht ist es an der Zeit für die Rechtspopulisten, endlich mal zu erklären, wie genau sie eine weiße Monokultur durchsetzen wollen, meint Nick Cohen im Guardian: "Wenn die Muslime im Westen alle gleich sind, wie sollen dann die muslimischen Bürger im Westen behandelt werden? Soll es ein Register für Muslime geben, wie Trump es vorschlägt? Sollen sie deportiert werden? Wenn der Übertritt zum Islam jemanden in einen Terroristen verwandeln kann, soll dann der Übertritt zum Islam bei uns genauso verboten werden, wie der Übertritt zum Christentum in Saudi-Arabien? Wenn Männer wie Farage damit fertig sind, die Linken zu beschuldigen, wie genau sehen dann ihre Pläne aus für die Immigranten, die jetzt unsere Mitbürger sind? Es gab mal eine Zeit, in der es hysterisch gewesen wäre, solche Fragen auch nur anzudeuten. Heute wünschte ich mir, unsere zahmen Journalisten würden sie stellen."

Mit der Wahl des Grünen Alexander Van der Bellen als Präsidenten ist eine Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich möglicherweise nur vertagt, fürchtet Alexandra Föderl-Schmid in der taz. Das liegt auch daran, dass die FPÖ sich der Diskussion in den Medien immer mehr entzieht und statt dessen eigene Kommunikationskanäle zu ihren Unterstützern aufgebaut hat: "Inzwischen gibt es sogar einen eigenen Fernsehkanal: FPÖ-TV - Straches Ehefrau arbeitet dort als Moderatorin. Ein Millionenpublikum erreicht die FPÖ aber über Facebook und Websites, die von Anhängern oder gar eigenen Angestellten gefüllt werden: Dazu zählen wochenblick.at und vor allem unzensuriert.at. Laut der Branchenseite 10000flies.de zählte eine Meldung des Portals unzensuriert.at, für das FPÖ-Mitarbeiter verantwortlich zeichnen, im Jahr 2015 zu den drei Artikeln mit den meisten Interaktionen auf Facebook im deutschsprachigen Raum. Mehr als die Hälfte der Zugriffe erfolgt aus Deutschland."

Auch in Deutschland ist die AfD an kritischer Berichterstattung wenig interessiert, meldet turi2. "AfD Sachsen schließt Spiegel-Redakteurin Melanie Amann vom heutigen Landesparteitag aus. Die Landesvorsitzende Frauke Petry und der restliche Landesvorstand hätten ihren Ausschluss beschlossen, sagt Amann. ... Schon im Januar hatte die AfD Amann mitgeteilt, sie sei auf einem sächsischen Landesparteitag unerwünscht. Die AfD hatte u.a. auch Reporter der Sächsischen Zeitung von Parteitagen ausgeschlossen."

Außerdem: Die Zeit hat Anne Hähnigs Reportage über ostdeutsche Wählerinnen online nachgereicht, die mit rechten Parteien sympathisieren.
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Geschichte

In einem langen Interview mit der Jungle World fordert der senegalesische Ökonom und Anthropologe Tidiane N'Diaye die arabischen Länder auf, sich endlich mit ihrer Geschichte des Sklavenhandels auseinanderzusetzen, der über die Jahrhunderte gesehen nicht nur viel größer war als der transatlantische, sondern auch nicht weniger rassistisch als jener: "Lange bevor europäische Anthropologen im 19. Jahrhundert die bekannten Rassetheorien entwickelten, war Ibn Chaldun im 14. Jahrhundert einer der ersten, der über Merkmale von Menschengruppen phantasierte. In seinem universalgeschichtlichen Werk 'Muqaddima' entwickelte er in der Einleitung die Idee, dass das Klima direkten Einfluss auf den Entwicklungsstand von Zivilisationen und den Volkscharakter habe. Schwarzen und Slawen wurde darin unterschiedslos ein 'bestialischer Charakter' attestiert. Der syrische Geograph al-Dimashqi schrieb über die Schwarzen: 'Kein göttliches Recht wurde ihnen offenbart. Kein Prophet erschien ihnen. So sind sie unfähig, Vorstellungen von Gebot und Verbot, von Verlangen und Abstinenz zu begreifen. Ihre Mentalität ähnelt der von Tieren.'"
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Politik

Mit den Rechtspopulisten auch die Abtreibungsgegner auf dem Vormarsch. Dass Abtreibungsfrage und Gleichberechtigung untrennbar miteinander verbunden sind, kann man derzeit vor allem in den USA lernen, berichtet Susan Vahabzadeh in der SZ: "Im US-Staat Oklahoma wird derzeit ein neues Abtreibungsrecht diskutiert, wonach für jede Abtreibung die schriftliche Genehmigung des Kindsvaters erforderlich wäre. Der republikanische Abgeordnete Justin Humphrey, der dieses Gesetz durchdrücken will, erklärt seine Position so: 'Ich kann schon verstehen, dass sie' - die Frauen - 'das Gefühl haben, das sei ihr Körper.' Verstehen kann er es, er sieht es nur anders und erklärt dann weiter, Frauen seien halt eher 'hosts', Gastgeber. Das Zitat klingt nach Mittelalter, stammt aber aus dem Februar 2017. Damit rührt Humphrey an einen zentralen Punkt. Er stellt tatsächlich gar nicht die Abtreibung an sich in Frage, sondern wer die Kontrolle hat über den Körper einer Frau."
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Ideen

In der NZZ beklagt der italienische Schriftsteller Giorgio Fontana den Niedergang des Intellektuellen in der Welt des Populismus, die Kompetenz und Kenntnis als Belehrung schmäht. Er wünschte sich die alte Schönheit des Räsonierens zurück und eine neue Unordnung im Denken: "Natürlich ist es nachvollziehbar, dass sich der Weltbürger verunsichert fühlt. Und ebenso ist es verständlich, dass dieser Verlust an Orientierung Ängste befördert. Und gerade darum ist ernsthafte theoretische Arbeit unabdingbar: nicht, um die Unordnung, in der wir uns wiedergefunden haben, zum Verschwinden zu bringen, aber um sie besser lesen zu lernen und um zu verstehen, wie sie mit Mitteln der Vernunft begreifbar und auch beherrschbar zu machen wäre."

Ebenfalls in der NZZ bereitet Leopold Federmair die um sich greifende Dummheit der Menschen große Sorgen: "Erasmus schrieb sein 'Lob der Torheit' als komödiantischen Monolog, hinter dem er den Ernst eines mündigen Humanisten recht und schlecht verbarg. Er ging davon aus, dass Dummheit zum Lachen reizt und die satirische Darstellung womöglich eine heilsame Wirkung hat. Ich für meinen Teil kann an der Dummheit meistens nichts Lustiges finden, auch nicht an den Beispielen, die Erasmus gibt. Nein, Dummheit ist gefährlich, nicht nur für den Dummen, der, ohne es zu merken, zur Schlachtbank geht, sondern auch für die anderen, für seine Umgebung, manchmal für ein ganzes Land."
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Gesellschaft

Wer ist ein Deutscher? Jeder, der hier lebt, könnte man Arno Widmanns Artikel in der FR zusammenfassen. Auch die Menschen, die vor Mord und Totschlag aus ihrer Heimat hierher geflohen sind. Und die viel zu oft auch hier angegriffen werden: "Die Flüchtlinge waren genau vor solchen Menschen geflohen. Hier stoßen sie wieder auf sie. Es gibt sie immer und überall. Sie verteidigen nicht ihre Gesellschaften gegen Fremde; sie arbeiten an der Vernichtung ihrer Gesellschaften. Wer eine Mauer baut, braucht einen Schießbefehl. Er muss aus Bürgern Schützen machen. Wir werden die Erfahrungen der Flüchtlinge brauchen, um nicht hier Zustände zu schaffen, die man am Ende nicht mehr ändern, sondern vor denen man nur noch fliehen kann."

Anfang des Jahres entschied das OLG Düsseldorf, ein Brandanschlag auf die Synagoge in Wuppertal (mehr hier) sei nicht als antisemitische Tat zu werten, sondern als Kritik an Israel. Im Tagesspiegel sind die Rabbiner Abraham Cooper und Yitzchok Adlerstein entsetzt über das Urteil: "Das Wuppertaler Gericht hat ein neues Werkzeug für diejenigen geschaffen, die den ältesten Hass der Welt verleugnen oder jedenfalls untätig bleiben wollen: Ihn einfach als politischen Protest abtun. So gehen die Schuldigen straffrei aus, der Druck auf die Strafverfolgungsbehörden wird beseitigt und das Gewissen der Teilnahmslosen bleibt ungerührt. Das stellt für Deutschland ein besonderes Problem dar."

Außerdem: In der Berliner Zeitung empfiehlt Alina Bronsky den chinesischen Zensurbehörden, die die Veröffentlichung ausländischer Kinderbücher einschränken wollen, zur aufklärenden Lektüre "'Der Regenbogenfisch', ein sozialistisches Lehrstück par excellence".
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Wissenschaft

Die vor allem mit amerikanischen Geld finanzierte trotzkistische Partei für Soziale Gleichheit (PSG - Socialist Equality Party) und ihr Ableger, die "International Youth and Students for Social Equality" (IYSSE) haben sehr erfolgreich eine Kampagne losgetreten, die Professoren wie Herfried Münkler oder Jörg Baberowski als "rechtsextrem" denunziert und Veranstaltungen mit den beiden verhindert, schreibt Heike Schmoll in der FAZ. Die Universitäten tun sich dabei nicht als Verteidiger der freien Rede hervor, so Schmoll: "das Präsidium hat sich in Bremen genauso wenig entschlossen gezeigt, den freien Diskurs zu sichern, wie an anderen Universitäten. In Berlin hat es nach Auskunft von HU-Präsidentin Sabine Kunst schon Solidaritätserklärungen für Baberowski gegeben; sehr lautstark können sie kaum gewesen sein, sonst wären sie der Öffentlichkeit aufgefallen."
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