9punkt - Die Debattenrundschau

Gewisse Spannung zur Gegenwart

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.03.2018. NZZ und Guardian sehen das italienische Wahlergebnis als ein Desaster für Europa. Die FAZ porträtiert den Internetunternehmer Davide Casaleggio, der die Strippen hält, an denen die Fünf Sterne schweben. Vor seinem Abgang als Gründungsintendant verspricht Neil MacGregor in der FAZ eine Leitungskommission fürs Humboldt-Forum. Die Islamologin Rachid Benzine äußert sich in Le Monde eher skeptisch über Macrons Idee einer "Halal-Steuer".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.03.2018 finden Sie hier

Europa

Andres Wysling zeichnet in der NZZ ein desaströses Bild von Italien nach den Wahlen. Gewonnen haben die Linkspopulisten von Luigi Di Maios Cinque Stelle und die Rechtspopulisten von Matteo Salvinis Lega Nord. Zum größten Problem Italiens, der riesigen Überschuldung, haben jedoch beide nichts zu sagen: "Beide haben es verstanden, mit hetzerischen Parolen Scharen von Protestwählern zu mobilisieren. Salvini richtete sich vor allem an die Klasse der Kleinunternehmer; mit dem patriotischen Wettern über Massenimmigration und dem Versprechen von Steuersenkungen, insbesondere einer Flat Tax, fand er viel Unterstützung im Norden. Di Maio seinerseits machte mobil gegen das politische Establishment; mit der Aussicht auf staatliche Investitionsprogramme und ein bedingungsloses Grundeinkommen köderte er seine Anhänger vor allem im strukturschwachen Süden."

Für die Verfechter einer starken EU, die nach den Wahlniederlagen der Rechten in den Niederlanden und in Frankreich Hoffnung geschöpft hatten, ist der Wahlausgang in Italien ein Desaster, erkennt Rafael Behr im Guardian: "That is bad news for those on either side of the Channel impatient to see the EU regain its lost momentum and function in the spirit of its foundational values. Pro-Europeans, appalled by the referendum result, are sometimes too quick to see Brexit as a singular misfortune to befall the most Eurosceptic member of the club. While the British experience doesn't invite imitation, the forces that created it are part of a crisis that is truly, enduringly pan-European."

Matthias Rüb porträtiert in der FAZ den Internet-Unternehmer Davide Casaleggio, dessen verstorbener Vater Gianroberto Beppe Grillo und die Fünf-Sterne-Bewegung sozusagen geschaffen hat und tief beeinflusste. Nun führt Davide die Firma Casaleggio Associati, die die Partei mit steuert - besonders über das Abstimmungsportal "Rousseau", durch das per Urwahl auch auch der neue Parteivorsitzende Luigi Di Maio gekürt wurde: "Casaleggio weiß, welche Mitglieder an welcher Sondierung und an welcher Abstimmung teilgenommen haben. Und er kann potenziell auch wissen, wie jedes Mitglied abgestimmt hat. Da laut Satzung alle Befragungen und Abstimmungen der 'Fünf Sterne' über 'Rousseau' abgewickelt werden, betrachten Kritiker Davide Casaleggio als Big Brother der inzwischen größten Einzelpartei Italiens und mithin als mächtigsten Internetunternehmer des Landes. Dissidenten der Bewegung sagen, Casaleggio setze aus dem Hintergrund die Parteilinie durch und stelle Nonkonformisten kalt."

In der Slowakei haben am Wochenende 25.000 Menschen an einem Gedenkmarsch für den ermordeten Journalisten Jan Kuciak teilgenommen. Präsident Andrej Kiska richtete strenge Worte an die Politiker des Landes. Alexandra Mostyn resümiert die Ereignisse in der taz: "Wer auch immer hinter dem kaltblütigen Mord stecken mag, die politische Verantwortung schreiben die Slowaken Robert Fico und seinem Innenminister Robert Kalinak zu. Die Rufe nach deren Rücktritt werden immer lauter."
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Kulturpolitik

Bevor er sich verabschiedet, verspricht Neil MacGregor im Interview mit Andreas Kilb in der FAZ noch eine neue Führungsstruktur für das Humboldt-Forum: "In jedem anderen europäischen Land wäre sie strikt hierarchisch aufgebaut. In Deutschland, oder zumindest bei diesem Projekt mit so vielen Akteuren, funktioniert das nicht. Deshalb soll die künftige Intendanz über eine Leitungskommission verfügen, um das Potenzial der beteiligten Institutionen zu koordinieren."
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Ideen

In der SZ hält Johan Schloemann wenig von dem Vorschlag der Gleichstellungsbeauftragten Kristin Rose-Möhring, die Nationalhymne geschlechtsneutral umzudichten: "Sollte man nicht so viel historisches Bewusstsein haben, dass man eine gewisse Spannung zur Gegenwart aushalten kann? Wie viel Identifikation erwartet man überhaupt? ... Man könnte auch so argumentieren: Wenn der Nationalismus heute ohnehin als problematisches, gar männliches, aber vielleicht notwendiges Gemeinschaftskonstrukt gesehen wird, warum sollen dann seine historisch bedingten Symbole das nicht auch widerspiegeln?
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Stichwörter: Nationalhymne

Religion

Emmanuel Macron möchte eine Art französischen Staatsislam schaffen. Der ausländische Einfluss soll weggedrängt werden. Die in Frankreich ausgebildeten Imame sollen durch eine "Halal"-Steuer (eine Inspiration an der deutschen Kirchensteuer?) finanziert werden. Diese soll zum Beispiel auf Halal-Produkte erhoben werden, die in französischen Hypermarchés ganze Regalmeter einnehmen. Die Islamwissenschaftlerin Rachid Benzine ist in Le Monde skeptisch. Erstens gebe es auch ausländische Einflüsse, die man dulden könne - aus Algerien und Marokko, wo der Islam eine Religion der Eintracht sei. Und zweitens "ist die Halal-Industrie alles andere als von den Muslimen dominiert: Es sind eher die großen Lebensmittelproduzenten und Supermarktketten, die sich dank der muslimischen Konsumenten bereichern. Wie soll man ihnen eine Steuer für eine Institution des muslimischen Glaubens auferlegen?"
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Gesellschaft

Kürzlich empfahl in der Welt Richard Schröder Chemnitz als Vorbild für die Essener Tafel, die wegen zu vieler Flüchtlinge einen Aufnahmestopp erlassen hatte (unser Resümee). Auf Zeit online beschreibt heute Philipp Reichert, wie die Potsdamer das Problem in den Griff bekommen haben. Auch hier drohten Flüchtlinge die Einheimischen zu verdrängen: "Gemeinsam mit der Stadt, mit Flüchtlingsunterkünften und Sozialarbeitern hat die Tafel berechnet, wie viele Menschen zusätzlich versorgt werden können. So, dass trotzdem noch für alle etwas übrig bleibt. Die Helfer entschieden sich, an 200 Flüchtlinge pro Woche zusätzlich Essen auszugeben. Seitdem müssen alle Bedürftigen Abstriche machen. Sie dürfen nur noch einmal wöchentlich zur Tafel kommen und erhalten etwas weniger Lebensmittel. "Natürlich gibt es Neider", sagt Sommer. Doch die habe es schon immer gegeben... Die meisten Kundinnen und Kunden hätten die Entscheidung akzeptiert."

In der Berliner Zeitung kritisiert Götz Aly den "Dünkel" jener, die die Mitarbeiter der Essener Tafel als "Rassisten" und "Nazis" gebrandmarkt haben.

In Berlin ist die Stimmung nicht gut. Immer mehr Menschen fühlen sich unsicher in der Stadt. Aggressives Verhalten von Flüchtlingen sei ein Grund, das Versagen der Behörden bei so vielen Grundfunktionen ist das andere, erklärt Frank Bachner im Tagesspiegel. Er zitiert unter anderen die Rechtsanwältin Karla Vogt-Röller, die oft Flüchtlinge verteidigt: "Doch auch sie selbst empfindet diese Wut, reagiert so auf zunehmende Respektlosigkeit, auf aggressive junge Männer. Mit fast ohnmächtiger Wut registriert sie, dass viele Verfahren aus Personalnot eingestellt werden. 'Wenn sich der Staat so überlastet fühlt, dass er das Recht nicht mehr durchsetzen kann, ist die Demokratie in Gefahr.' Ihre Tochter wurde in Neukölln in der U-Bahn von jungen arabischen Männern angegrabscht. Als sie sich wehrte, hörte sie: 'Wenn du das nicht willst, musst du ein Kopftuch tragen.'"

Schule
ist ein anderes schwieriges Thema in Berlin. In der Berliner Zeitung fragt sich Martin Klesmann, warum Schulsenatorin Sandra Scheeres nicht mal dafür sorgen kann, dass alle Kinder in den Schulen lesen, schreiben und rechnen lernen. Anders als zur Frage über den Umgang mit sexueller Vielfalt an Schulen gibt es dazu allerdings keine wissenschaftliche Studie: "Das ist schade, denn die Hälfte aller Drittklässler erreicht in Rechtschreibung nicht einmal die Mindeststandards, in Lesen und Mathematik sieht es nicht viel besser aus. ... Die Berliner Bildungspolitik ist hier aus dem Lot geraten. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Bildungssenatorin Scheeres es deshalb auch gar nicht so genau wissen will. Stattdessen versuchte sie zu verhindern, dass die jüngsten Testergebnisse öffentlich werden."
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Urheberrecht

(Via Netzpolitik) Wegen eines Streits mit dem S.Fischer Verlag um Werke der Gebrüder Mann, die in den USA bereits gemeinfrei, in Deutschland aber noch geschützt sind, hat das Projekt Gutenberg den Zugang für deutsche Nutzer zu allen seinen Digitalisaten gesperrt, berichtet Martin Holland bei heise.de: "Die Blockade deutscher Nutzer soll nur temporär bleiben, versichern die Verantwortlichen, die in Berufung gehen wollen. Die Organisation werde nur von Freiwilligen getragen und habe keinerlei Einnahmen abgesehen von Spenden, solche Auseinandersetzungen seien aber teuer. Die vollständige Aussperrung aller deutschen Nutzer scheine am geeignetsten, um künftigen rechtlichen Maßnahmen zuvorzukommen, immerhin gebe es auf Gutenberg.org Tausende Titel, deren Veröffentlichung in ähnlicher Weise angegangen werden könnte."
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Medien

Die Schweizer öffentlich-rechtlichen Sender haben die No-Billag-Abstimmung überstanden, werden aber sparen müssen. Auch in Deutschland folgt heute eine "Krisensitzung", schreibt Claudia Tieschky in der SZ: Die Sender müssen bis 2012 entweder drei Milliarden Euro sparen, oder die Rundfunkgebühr muss um 1,70 Euro angehoben werden. Sie spricht mit Heinz Fischer-Heidlberger von der Kommission KEF, die den Finanzbedarf der Sender errechnet. Er verteidigt seine Arbeit, die zuletzt von den Sendern kritisiert wurde: "Die Anstalten sind gut beraten, nicht an den verfassungsrechtlich starken Grundfesten einer staatsfernen und unabhängigen Ermittlung des Finanzbedarfs zu rütteln. Die Alternative wäre, dass der Staat festlegt, wie viel TV und Hörfunk kosten dürfen."

Die RBB-Intendantin Patricia Schlesinger entdeckt in einem Gastbeitrag im FAZ.Net angesichts der Legitimationskrise der Sender die europäische Öffentlichkeit: "Heute brauchen wir eine Neufassung der europäischen Rundfunkidee. Gesucht wird nicht weniger als ein europäischer Gesellschaftsvertrag über den Rundfunk und seine Funktion im digitalen Zeitalter. Eine solche Vereinbarung aller Europäerinnen und Europäer wäre zugleich ein Bollwerk gegen die Schwächung der europäischen Demokratien, die schon immer mit der politischen Manipulation der Medien begonnen hat."
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