9punkt - Die Debattenrundschau

Leider kein Mitleid

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.03.2018. Über hundert Professoren und Pädagogen solidarisieren sich mit Hartmut von Hentig - die NZZ wundert sich. Eine Menge emeritierte Professoren, Uwe Tellkamp und Henryk Broder solidarieren sich mit Demos gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik, aber nur wenn sie friedlich sind, notiert der Tagesspiegel. Die Welt schildert, wie fundamentalistische Christen in Brasilien Stimmung gegen Künstler machen. Die Diskussion über den Missbrauch von Facebook-Nutzerdaten durch die Firma Cambridge Analytica geht weiter. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.03.2018 finden Sie hier

Europa

Thorsten Benner und Jan Weidenfeld warnen in politco.eu davor, EU-Hilfen an Länder wie Polen und Ungarn zu limitieren, solange diese Länder in der Flüchtlingsfrage nicht kooperieren. Denn dann würde China die Lücken füllen, das jetzt schon starken politischen Einfluss, besonders auf südosteuropäische Länder hat (die Autoren belegen das mit EU-Erklärungen zu China, in denen auf Druck Ungarns oder Griechenlands Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen entfernt wurden). Überdies werde die Flüchtlingspolitik dieser Länder von der Bevölkerung geteilt. Der Gegenvorschlag der Autoren: "Brüssel würde sehr viel besser dastehen, wenn EU-Gelder an Rechtsstaatlichkeit und die Garantie von Pressefreiheit gebunden wären. Für die ungarische und polnische Regierung wäre es sehr viel schwieriger, eine Mehrheit ihrer Wähler zu überzeugen, dass eine Einschränkung von Meinungsfreiheit den Verzicht auf EU-Gelder wert ist."

Überall (etwa hier in Spiegel online) wird nun berichtet, dass der türkisch-kurdische Krieg seine Verlängerung in Deutschland findet - etwa mit Anschlägen kurdischer Extremisten auf Ditib-Moscheeen -, aber wie stark werden in Deutschland die Stimmen gemäßigter Kurden wahrgenommen? Bei den Ruhrbaronen veröffentlicht Ali Ertan Toprak von der Kurdischen Gemeinde Deutschland einen "verzweifelten Appell an die Deutsche Öffentlichkeit " und betont im übrigen, dass eine Intervention gegen die türkische Politik im deutschen Interesse liege: "Die EU-Hilfen, die die Türkei im Rahmen des sogenannten 'Flüchtlingsabkommens' erhält (die aktuelle Marge beträgt 3 Milliarden Euro), sind ein Blutgeld. Erdogan produziert derzeit die Flüchtlinge selbst, für deren 'Abhalten' er sich von der EU bezahlen lässt. Das ist das 'Geschäftsmodell' eines Verbrechers. Es ist keine Ironie, ein Großteil von der Türkei vertriebenen Menschen finden aktuell bei Assad Zuflucht. Das ist konzeptlose Nato-Politik in Syrien."

Außerdem: SZ online hat eine Presseschau mit Reaktionen zur Wahl Putins zusammengestellt.
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Wissenschaft

Beim wichtigsten deutschsprachigen Pädagogenkongress in Essen erlebte der umstrittene Erziehungswissenschaftler Hartmut von Hentig eine Wiederauferstehung, erzählt Christian Füller in der NZZ: Hentigs Anhänger haben sich dort manifestiert, um gegen den Entzug des Trapp-Preises für Hentig zu protestieren. Sie "nennen es eine 'Höchststrafe für Lebensleistung und Reputation' ihres Meisters. So steht es in einer Stellungnahme, die über hundert Professoren und Pädagogen unterzeichnet haben. Hentigs Verteidigern geht es darum, den einstigen Parade-Intellektuellen wieder zu einem satisfaktionsfähigen Mann zu machen. Sie betonen seine Unschuld an der sexuellen Gewalt, die allein Gerold Becker ausgeübt hatte". Sogar eine eigene Webseite haben die Wissenschaftler für Hentigs Verteidigung eingerichtet. "In einem der dort präsentierten Videos gibt Hartmut von Hentig seine Meinung über Missbrauchsopfer kund: 'Kinder, denen das geschehen ist, schütten Kübel von Gemeinheit über mich aus', sagt Hentig. 'Mit denen kann ich leider kein Mitleid haben.'"
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Kulturpolitik

Nachdem Ines de Castro abgesagt hat, soll Lars-Christian Koch, derzeit kommissarischer Leiter des Ethnologischen Museums in Berlin, zukünftig die im Humboldt-Forum vereinten Sammlungen leiten, berichtet leicht enttäuscht Nicola Kuhn im Tagesspiegel. "Nach dem langen Hin und Her wirkt diese Hausberufung vor allem pragmatisch. Wer sich neue Ideen, einen geübten Manager für die komplizierte Gemengelage am Humboldt-Forum und frischen Wind von außen gewünscht hatte, sieht sich enttäuscht. In der Stiftung Preußischer Kulturbesitz aber gilt die Besetzung als Vorsprung beim Kompetenzgerangel im Humboldt-Forum. Mit Koch ist jemand gewonnen, der die von Gründungsintendant Neil MacGregor eingeschlagene Kursänderung - mehr Kooperation mit externen Sammlungen - womöglich zurückzufahren vermag, der sich vor die eigenen Sammlungen stellt und sich auch weniger vom künftigen Intendanten reinreden lässt."

In der SZ meint Jörg Häntzschel: "Mit Koch wird - nach den drei Gründungsintendanten - ein weiterer weißer Europäer auf eine Leitungsstelle des Projekts berufen. Dabei soll es doch laut Koalitionsvertrag eine 'internationale Dialogplattform für globale kulturelle Ideen' werden. Doch angesichts der Querelen um das Projekt dürfte er der richtige Mann sein. Koch gilt als anerkannter Wissenschaftler. Und während der Grabenkämpfe der letzten Monate erwies er sich als umgänglicher Mittler."
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Gesellschaft

Seit einigen Tagen zirkuliert im Netz eine von zahlreichen emeritierten Professoren, Henryk Broder und Uwe Tellkamp unterzeichnete Erklärung 2018, die sich mit Demonstrationen gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik solidarisiert, solange sie friedlich bleiben (also auch mit Pegida, so lange nur gegeifert wird?) Christian Schröder notiert im Tagesspiegel: "Die 'Gemeinsame Erklärung' erinnert an die 'Charta 2017', die nach den Auseinandersetzungen um die Teilnahme von rechten Verlagen bei der letzten Buchmesse in Frankfurt am Main publiziert worden war."

Im Zeit-Blog 10 nach 8 denkt Andrea Roedig darüber nach, was #metoo für sie als Lesbe bedeutet: Schließlich "stehen wir Lesben auch auf der männlichen Seite. Schließlich begehren wir Frauen. Weil es uns selbst aber so unangenehm ist, von Männern angemacht zu werden, herrscht in der Community eine weit verbreitete Angst, genauso dämlich-dreist zu wirken wie der herkömmliche Macho. Das 'Pestering' jedenfalls, das Catherine Deneuve und Co in ihrem offenen Brief als männliches Recht einforderten, ist den meisten von uns hochnotpeinlich. Was im Gegenzug zu einer eigenartigen Hemmung in der Annäherung führt. Lesbische Flirtkultur ist ein schwieriges Thema, und das hat auch mit #MeToo zu tun."

Der Islam gehört zu Deutschland? Welcher Islam, fragt in der Berliner Zeitung Götz Aly zurück. Der Islam der Ditip, der gerade die türkischen Bomber in Syrien bejubelt? Der Islam in Indonesien, der gerade die Todesstrafe für Homosexuelle fordert? Der Islam der Saudis, der seit Jahrzehnten den militanten Islamismus fördert? "Offensichtlich entwickeln sich die Dinge derzeit nicht zum Besseren. Deshalb muss unterschieden werden. Hunderttausende hier lebende und loyale Bürger muslimischen Glaubens achten die Gesetze, Verfassungsnormen und Toleranzgebote. Sie gehören zu Deutschland - nicht jedoch 'der Islam'."
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Medien

Empört berichtet Markus Beckedahl, dass sein Dienst Netzpolitik.org keine EU-Presse-Akkreditierung bekommt. In den Kriterien der EU heißt es, dass Presseunternehmen kommerziell sein müssten. Beckedahl dazu: "Zwar sind wir eine nicht-kommerzielle Organisation, die sich zu fast hundert Prozent über freiwillige Leserspenden finanziert. 2018 müsste es doch aber in der EU möglich sein, die selben Rechte zu besitzen wie ein kommerzielles Unternehmen. Schließlich dürfte beispielsweise die genossenschaftlich organisierte Tageszeitung taz kaum Schwierigkeiten haben, eine solche EU-Akkreditierung zu erhalten." Und was ist mit den ebenfalls nicht-kommerziellen öffentlich-rechtlichen Sendern?

Putin, Trump und jetzt Scientology: Heute ist jeder sein eigenes Medium. Die Scientologen haben jetzt einen eigenen Fernsehsender - wie übrigens auch die amerikanische Waffenlobby NRA, berichtet Jürgen Schmieder für die SZ aus Los Angeles. "Unabhängige Berichterstattung schön und gut, aber wäre es nicht schöner und besser, die vermeintliche Wahrheit direkt aus der Quelle zu bekommen, ganz nah dran zu sein? Das ist das so simple wie gefährliche Verkaufsargument all dieser Sender. Wer Scientology kritisch gegenübersteht, der dürfte die aufwendigen und doch meist stinklangweiligen Produktionen des Scientology Network als Reaktion auf all die kritischen Sendungen identifizieren. Für Scientology-Mitglieder dürfte es dagegen nichts als die Wahrheit sein."

Eine virtuelle Parallelwelt bauen sich auch ultraorthodoxe israelische Juden (etwa ein Achtel der Bevölkerung), mit Hamichlol, eine Art koschere Wikipedia, schreibt Alexandra Föderl-Schmid in der SZ. "Ihr Ziel ist es, 'die größte jüdische Enzyklopädie' zu schaffen mit Einträgen, die sich 'mit der Thora, jüdischen Werten und der Geschichte des jüdischen Volkes beschäftigen'. Es sollen Beiträge 'aus allen säkularen Feldern' übernommen werden, aber 'in sauberer Sprache geschrieben, die mit der jüdischen Weltsicht übereinstimmt'." Zur jüdischen Weltsicht gehört, dass Frauen unsichtbar zu bleiben haben, weshalb Hamichlol ein Foto von der israelischen Regierung retuschiert und die Frauen rausgelöscht hat.

Auch in Brasilien wird der Mob über die sozialen Medien in Wallung versetzt. So werden in jüngster Zeit immer wieder Künstler angegriffen unter dem Vorwand, sie würden Pädophilie, Sodomie und Blasphemie unterstützen, berichtet Boris Pofalla in der Welt. "'Die Kulturinstitutionen gehen fragiler und eingeschüchterter in das Jahr 2018 hinein als ins Vorjahr', schreibt etwa der Kunstkritiker Fabio Cypriano. 'In gewisser Weise ist das die Folge der verrückten Polarisierung in den sozialen Netzwerken, die auch die Kunstwelt kontaminiert hat.' Eine wichtige Rolle spielen dabei reaktionäre Kräfte wie die sogenannten Pfingstkirchen. Ihnen gehört in dem einst rein katholischen Land mittlerweile ein Viertel der Bevölkerung an. Die Bewegung verspricht Erlösung im Hier und Jetzt. Noch stärker als die Katholiken verquicken die Evangelikalen Religion und Politik, hetzen offen gegen Andersgläubige wie die Anhänger der afrobrasilianischen Religion Candomblé, gegen Homosexualität und alles, was ihrem Weltbild nicht entspricht. Gerade unter den Armen in den Favelas haben sie massiven Zulauf, aber auch Eliten bekennen sich zu ihnen."

Zum Schluss noch was Gutes aus dem Netz: Dieser Wikipedia-Eintrag zu einem Vergnügungspark in Vernon, New Jersey, wurde von Longform als "best article" eingestuft.
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Internet

Die Diskussion über den Missbrauch von Facebook-Nutzerdaten durch die Firma Cambridge Analytica geht weiter. In den USA forderten der republikanische Senator John Kennedy und seine demokratische Kollegin Amy Klobuchar Facebook-Chef Zuckerberg zu einer Erklärung auf, berichtet Zeit online mit Agenturmaterial: "In einem gemeinsamen Brief an den Vorsitzenden des Justizausschusses, Chuck Grassley, sprachen sie sich dafür aus, auch die Chefs der Google-Mutter Alphabet und des Kurznachrichtendienstes Twitter vorzuladen. Die drei Unternehmen sammelten so viele Nutzerdaten wie nie zuvor, hieß es."

Sehr dramatisch sieht es die Gruner-und-Jahr-Chefin Julia Jäkel im Gespräch mit Alexander Becker von Meedia: "Plattformen wie Facebook erreichen nicht nur viel, viel mehr Menschen als irgendein Medium vor ihnen. Sie wissen auch viel mehr über ihre Nutzer. Cambridge Analytica hat dieses Wissen offenbar waffenfähig gemacht. Es hat den nun vorliegenden Recherchen zufolge erkannt, dass sich damit 50 Millionen Menschen manipulieren lassen, fast ein Viertel der amerikanischen Wahlberechtigten. So können hinter den Kulissen Gesellschaften in den Abgrund gestürzt werden."

Das war kein Datenklau in technischem Sinne, kommentiert Zeynep Tufekci in der New York Times. "Es war etwas viel Verstörenderes, nämlich eine natürliche Folge aus dem Geschäftsmodell von Facebook, das darin liegt, dass Menschen auf die Seite gehen, um soziale Interaktion zu haben, und dann einer enormen Überwachung ausgesetzt werden. Die Resultate dieser Überwachung befeuern ein raffiniertes und undurchschaubares System für maßgeschneiderte Werbung."

Außerdem: turi2 bringt eine kleine Zusammenfassung der aktuellen Diskussionen um Facebook.
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