9punkt - Die Debattenrundschau

Rechtsstaatlich nachvollziehbar

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.03.2018. Facebook ist weiter unter Druck: Nutzer, die ihre Konten löschen, stellen fest, dass der Konzern weit mehr Daten sammelte, als sie je vermuteten, haben ars technica und der Guardian herausgefunden. Facebook antwortet, dass die Nutzer ihre Daten freiwillig gaben. Auch in Deutschland große  Empörung.  Die SZ sieht Carles Puigdemont als politischen Gefangenen. In der taz erklärt der ehemalige Fonds-Manager Bill Browder, wie man Putins Oligarchen mit einem "Magnitsky-Gesetz" wehtun könnte. Politico.eu porträtiert die Frauenrechtlerin Rebecca Gomperts, die Abtreibungspillen nach Irland sendet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.03.2018 finden Sie hier

Internet

Sean Gallagher hat für das Techblog arstechnica herausgefunden, dass Facebook über Jahre die Telefondaten von Android-Smartphone-Nutzern abrief und speicherte, inklusive Ort, Zeit, Telefonnummer und Namen des Angerufenen. "In Antwort auf eine E-Mail-Anfrage über diese Datensammelei schreibt ein Facebook-Sprecher: 'Ein wichtiger Teil bei Apps, die Verbindungen herstellen, ist es, die Leute zu finden, mit denen man Verbindung sucht. Wenn man also zum ersten Mal ein Foto in einer Messaging- oder sozialen App registriert, ist es weithin üblich, die Telefonkontakte hochzuladen.' Der Sprecher betont, das dies optional sei und die Installationsroutine ausdrücklich nah Zugang zu den Kontakten fragt. Die Daten lassen sich mit einem Tool auch löschen."

Der Konzern findet die Geschichte so wichtig, dass er in einem Blogpost auf sie reagierte. In einem Update für seinen Artikel informiert Gallagher über widersprechende Nutzererfahrungen: Demnach scheinen die Daten - auch Daten zu SMS - auch ohne Erlaubnis gesammelt worden zu sein. Auch der Guardian berichtet hierzu: "Immer mehr Nutzer, die ihre Facebook-Konten im Zeichen des Cambridge-Analytica-Skandals löschen, stellen fest, dass das Netzwerk sehr viel mehr Daten gespeichert hat, als sie erwarteten, Daten zu Telefongesprächen und SMS."

Noch nie standen Facebook und Google so unter Druck, schreibt ein ganzer Autorenstab in der New York Times, und manche denken bereits über Alternativen nach: "Am extremsten ist der Traum, die beiden Firmen zu vergesellschaften. Auch mildere Geschäftsmodelle, die weniger auf Anzeigen und mehr auf Abomodellen beruhen, wurden vorgebracht, obwohl unklar ist, warum die Firmen etwas aufgeben sollten, das sie so wohhabend gemacht hat."

Außerdem zu Facebook: Der Guardian legt nach und präsentiert Aussagen des Whistleblowers Shahmir Sanni über Einflussnahme von Cambridge Analytica im Brexit-Wahlkampf. Die SZ berichtet über die Reaktion der deutschen Politik auf den Skandal - Justiziministerin Katarina Barley bestellt Repräsentanten des Konzerns ein. Und in der FAZ ruft Ranga Yogeshwar: "Ground Facebook!"
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Überwachung

Facebook, Google, Vorratsdatenspeicherung, Gesichtserkennung - "werden selbstbestimmte Bürger bald wieder zu Untertanen", fragt der Schweizer Informationstechnologe Dirk Helbing in der SZ und ermuntert die Leser zum Widerstand: "Es ist höchste Zeit für digitale Emanzipation, informationelle Selbstbestimmung und digitale Aufklärung. Die transhumanistische Ideologie, die Menschen zunehmend zu Robotern machen möchte, ist ein Irrweg. Anlasslose Massenüberwachung und Geheimgesetze müssen korrigiert werden. Nur, was kann man tun? Erst einmal: Niemand ist machtlos. Man kann sich bei Digitalcourage informieren, das Digital-Manifest lesen. Man kann die Republica-Konferenz oder den Chaos Computer Club besuchen, Verschlüsselungsprogramme benutzen, öffentlich Druck gegen den schleichenden technologischen Totalitarismus aufbauen. Jeder Einzelne kann seine Rechte einfordern, ein digitales Upgrade der Demokratie und ein demokratisches Update der Digitalisierung, eine transparente und partizipative Gesellschaft."

Willkommen im Zeitalter der Sozialpornografie! Und wo kann man sich der permanenten Beobachtung und Überwachung entziehen? In der Virtual Reality, meint der Medienwissenschaftler Norbert Bolz in der NZZ. "Können wir in Zukunft also unbeengt in kleinen Räumen leben, weil die Wände Bildschirme sind, die uns virtuelle Welten eröffnen? Schon heute ermöglichen sie uns ja ein Vergnügen, das man gehegte Soziallust nennen könnte. Es geht hier um ein medientechnisches Sicheinhausen, das die Trendforscherin Faith Popcorn einmal Cocooning genannt hat - wobei uns der Bildschirm zugleich gegen die hässliche Realität abschirmt. So bekommt auch der alte Begriff Cyberspace eine neue Bedeutung: die Fiktion als einzig lebenswerte Lebenswelt."
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Europa

Der katalanische Politiker und Separatist Carles Puigdemont ist ein politischer Gefangener, meint Thomas Urban in der SZ. Außerdem war seine Festnahme in Deutschland völlig unnötig: Die spanische Führung habe mit ihrer Reaktivierung des ausgesetzten Haftbefehls "erneut ein krasses Beispiel für ihre Kurzsichtigkeit geliefert: Erst vor drei Tagen haben die Verfechter der Unabhängigkeit im Parlament zu Barcelona ihre Mehrheit verloren, weil eine der drei separatistischen Gruppierungen die gemeinsame Front aufgekündigt hat. Überdies saß Puigdemont im belgischen Exil, kein maßgeblicher EU-Politiker nahm ihn ernst. ... Der Schlag der Regierung in Madrid gegen die katalanische Führung hat die zerstrittenen Separatisten in Barcelona nun wieder geeint."

"Das Begehren der spanischen Justiz ist rechtsstaatlich nachvollziehbar, aber dennoch völlig überzogen", meint Martin Dahms in der Berliner Zeitung. "Juristische Entscheidungen sind immer diskutierbar. Aber ein gut funktionierender Rechtsstaat zeichnet sich auch durch seine Gelassenheit aus. Und die ist dem Richter Llarena abhanden gekommen. Manche unterstellen ihm, dass er als verlängerter Arm der spanischen Rajoy-Regierung fungiert, wofür es allerdings keine Indizien gibt. Vielmehr hat sich in ganz Spanien eine aggressive Stimmung gegen die Separatisten breit gemacht, die offensichtlich auch den Richter ergriffen hat."

Im Interview mit Spon hält es der Strafrechtler Martin Heger allerdings für unwahrscheinlich, dass die Bundesrepublik Puigdemont nicht ausliefert: "Konkret müssen ein oder mehrere Delikte des Angeklagten im anfragenden Mitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sein. Zudem muss eines dieser Delikte auch in Deutschland strafbar sein. Puigdemont werden unter anderem Rebellion, Unterschlagung öffentlicher Gelder und Auflehnung gegen die Staatsgewalt vorgeworfen. Klar ist: die Unterschlagung öffentlicher Gelder ist auch bei uns strafbar. Also steht fest: Deutschland muss Puigdemont ausliefern. Und zwar im Regelfall binnen 60 Tagen.

Mehr zu den Reaktionen in Spanien auf Puigdemonts Festnahme bei Zeit online.
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Politik

Der ehemalige Fondsmanager und Freund russischer Putin-Gegner Bill Browder fordert im Gespräch mit Daniel Zylbersztajn in der taz nach dem Skripal-Anschlag  ein "Magnitsky-Gesetz", das gezielt reichen Russen schaden soll, die in die Untaten verwickelt sind: "Man geht Menschenrechtsverbrechen nach, findet heraus, was Personen, die etwas damit zu tun haben, an Besitz haben, und leitet rechtliche Schritte ein. Das bedeutet also, und das ist wichtig, dass nicht alle Menschen in Russland betroffen sind, keineswegs. Sondern nur die Individuen, an die 10.000, welche schwere Verbrechen mit vollem institutionellem Schutz begangen haben. Es ist die Regierung Putin, nicht das russische Volk, gegen die hier vorgegangen wird." Dass Deutschland mitmacht, glaubt Browder allerdings nicht - hier sei die Putin-Lobby zu stark.
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Gesellschaft

Es gibt Themen, bei denen die interreligiöse Verständigung prima klappt, sagt der schwule Schauspieler Georg Uecker im Gespräch mit Jan Feddersen in der taz: "Das habe ich geradezu exemplarisch in Jerusalem erlebt, beim World Pride. Bei den Gegendemonstranten sah man, wie sich Christen, Juden und Muslime kurzfristig solidarisierten. Die, die sich sonst misstrauen, verachten und bekämpfen, waren sich nun einig, dass wir Queeren richtig scheiße sind. Das ist nicht neu, aber wenn du das einmal erlebst und denkst: Ihr ballert euch ab, ihr schürt Hass aufeinander, aber ihr verbrüdert euch auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, und das ist die Homophobie."

Jillian Deutsch porträtiert für politico.eu die Frauenrechtlerin Rebecca Gomperts, die von den Niederlanden aus Abtreibungspillen nach Irland sendet und damit half, die Zahl der Abtreibungen in der Republik Irland und Nordirland zu reduzieren: "Gomperts' in Amsterdam basierter Versanddienst, Women on Web, erhielt letztes Jahr 5.000 E-Mails von hilfesuchenden Frauen aus der Republik und annähernd 3.500 aus Nordirland. Die in Großbritannien im Jahr 1967 reformierten Abtreibungsgesetze schafften nicht den Sprung nach Nordirland, wo Abtreibung außer in extremen Fällen illegal bleibt." Für den 25. Mai ist in Irland ein Referendum zum Thema geplant.

Außerdem: Constanze von Bullion meldet in der SZ, dass Jens Spahn in der Frage  des Informationsverbots bezüglich Abtreibung Kompromissbereitschaft gegenüber der SPD zeigt.
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Ideen

In Indien und China entsteht derzeit ein Kapitalismus ohne Arbeiterklasse. "Horizontale Solidaritäten" entwickeln sich dort einfach nicht. Vielleicht, meint der Soziologe Herfried Münkler im Interview mit der FR, war das in Europa ein echter Sonderweg, der auch mit den schwachen Clanstrukturen und starken Handwerkerbünden hierzulande zu tun hatte: "August Bebel war gelernter Drechsler, Friedrich Ebert Sattler. Die frühe europäische Arbeiterbewegung ist aus Handwerkerbünden hervorgegangen. Das half bei der Entwicklung horizontaler Solidarität. Diese Zwischenstadien fehlen in Indien und China. Es ist nicht davon auszugehen, dass Vergleichbares sich derzeit dort herausbildet. So spielen Gefolgschaftsvorstellungen, also die Frage danach, wem ordne ich mich klugerweise unter, dort weiter eine wesentliche Rolle. Das ist ein völlig anderer Kapitalismus als der, auf den hin wir denken - pro- wie antikapitalistisch. ... Die Industrialisierung des Ruhrgebiets war eine Leistung auch Hunderttausender polnischer Arbeiter. Das Milieu nahm die damals auf. Nicht immer ohne Konflikte, aber das 'weil Du auch ein Arbeiter bist' war stärker als der Nationalismus."

Außerdem: In der NZZ verteidigt Paul Jandl die Polemik: "Die Polemik trägt eine Metadebatte in sich, die den Ernst der Sache durch den Witz ihrer Form nicht nur nicht beschädigt, sondern unterstreicht. Deshalb ist Monika Marons gerade erschienener Roman 'Munin oder Chaos im Kopf' in Sachen Migration vielleicht das interessantere Streit-Angebot als die Debatte zwischen Durs Grünbein und Uwe Tellkamp. Und was wäre aus dieser geworden, wenn sich zwei literarische Köpfe die Schädel wenigstens halbwegs auf dem Niveau von Literatur eingeschlagen hätten? Mit einer Präzision der Wörter, die nicht nur Fakten richtigstellt, sondern auch die Rhetorik des jeweiligen Gegenübers entlarvt."
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