9punkt - Die Debattenrundschau
Antiliberaler Opferkult
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2018. Wie soll man mit der AfD umgehen? Sie sozial ächten, wie es Armin
Nassehi in der taz vorschlägt? Sie totschweigen, wie die NZZ meint? In der Zeit gibt der Philosoph Jason Stanley, den 68ern eine Mitschuld am aufflammenden deutschen Nationalismus, weil sie den Nationalsozialismus mit dem Kapitalismus erklären wollten. Erst Berlusconi, dann der Movimento Cinque Stelle - mit dem Wunsch, die Herrschaft der Parteien abzuschaffen, ist Italien Vorreiter in der Politik, ruft der Philosoph Damiano Cantone in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau
vom
07.06.2018
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Europa
Die Europäer blicken gern mit Ironie und Verachtung auf Italien, glaubt der Triester Philosoph Damiano Cantone in der NZZ, doch das Land sei ganz vorn. Schon mit Berlusconi hatte Italien die Blauplause geliefert für den neuen Typus des sexistischen, volksnah-nationalistischen Politikers. Jetzt könnte es mit dem Movimento Cinque Stelle wieder Vorreiter werden: "Die Bewegung tritt an, die Herrschaft der Parteien abzuschaffen und damit die Distanz zwischen 'Volk' und 'Volksvertretern'. Das Programm des Movimento Cinque Stelle wird von den eigenen Aktivisten basisdemokratisch bestimmt, ebenso wie die Wahlkandidaten. Es ist naturgemäß schwierig, die Ideologie eines politischen Akteurs zu definieren, der sich radikal antiideologisch und unparteiisch gibt. Dennoch lassen sich einige Leitmotive bestimmen, die all jene verbinden, die sich im Movimento wiedererkennen. Zunächst gibt es da ein starkes Bedürfnis nach Systemkritik - mit System ist jene korrupte 'Kaste' von Berufspolitikern und Bürokraten gemeint, die sich verschworen hat, um das Volk seiner Souveränität zu berauben. Als wichtigster Wert gilt dabei die Ehrlichkeit; sie erlaubt es jedem, die eigene Meinung unabhängig von besonderer Kompetenz gleichsam ungefiltert zu artikulieren."
In seiner Dankesrede zum deutsch-polnischen Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis, die Zeit und LeMonde abdrucken, fordert Navid Kermani Angela Merkel nachdrücklich auf angesichts der existentiellen Krise Europas auf Emmanuel Macron zuzugehen und die Defizite zu beheben, die zu den Wahlerfolgen der Populisten führen: "die groteske Ungleichheit der Lebensverhältnisse innerhalb desselben politischen Gemeinwesens; die Selbstblockade der europäischen Institutionen in wesentlichen Politikfeldern, von der Außen- über die Flüchtlings- bis hin zur Finanzpolitik, die in den unzureichenden Lissabonner Verträgen strukturell angelegt ist; schließlich die mangelhafte demokratische Legitimation und Transparenz europäischer Beschlüsse."
In seiner Dankesrede zum deutsch-polnischen Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis, die Zeit und LeMonde abdrucken, fordert Navid Kermani Angela Merkel nachdrücklich auf angesichts der existentiellen Krise Europas auf Emmanuel Macron zuzugehen und die Defizite zu beheben, die zu den Wahlerfolgen der Populisten führen: "die groteske Ungleichheit der Lebensverhältnisse innerhalb desselben politischen Gemeinwesens; die Selbstblockade der europäischen Institutionen in wesentlichen Politikfeldern, von der Außen- über die Flüchtlings- bis hin zur Finanzpolitik, die in den unzureichenden Lissabonner Verträgen strukturell angelegt ist; schließlich die mangelhafte demokratische Legitimation und Transparenz europäischer Beschlüsse."
Geschichte
Deutschland wird überall für seine "Vergangenheitsbewältigung" gelobt, schreibt der Philosoph und Nachfahre deutscher Juden, Jason Stanley, im Feuilleton-Aufmacher der Zeit. Dabei schoben die deutschen 68er die Verantwortung für den Nationalsozialismus von den historischen Besonderheiten des Deutschtums weg - hin zu den Strukturen und Mechanismen des Kapitalismus, um sich so selbst in der "Rolle des Opfers" darzustellen, meint er - und sieht Auswirkungen auf den heute wieder "aufflammenden deutschen Nationalismus": "Dass Überheblichkeit in Bezug auf die eigene ethnische und kulturelle Überlegenheit ein Spezifikum der deutschen Geschichte ist, wurde nie anerkannt. Wir sind derzeit mit einer weltweiten Krise konfrontiert, in der sich dominante Gruppen als Opfer von faulen und kulturell minderwertigen Eindringlingen sehen. Die Erkenntnis, die aus einer wahrhaftigen Aufarbeitung deutschen Überlegenheitswahns hätte entstehen können, wäre der Welt sicher von Nutzen gewesen."
"Was passiert, wenn ein schlechtgelaunter, unkonzentrierter Blödmann ein Reich regiert, fragt Miranda Carter, Autorin eines Buchs über die drei Cousins George, Nikolaus und Wilhelm, im New Yorker. In Kaiser Wilhelm hat sie einen Vorläufer für Donald Trump gefunden: "Der Kaiser war erregbar, aber selten wirklich zu kontrollieren. Er war unvorhersehbar, wenn es darum ging, seine Autorität zu beweisen, als müsste er klarmachen, dass er noch im Amt war, etwa wenn er die Politik seiner Berater rüpelhaft durchkreuzte oder ohne Vorwarnung Minister entließ. 'Sie haben nicht die geringste Idee, was ich alles verhindert habe', beklagte sich sein treuester Diener, Bernhard von Bülow, bei einem Freund, 'und wieviel Zeit ich damit verbracht, das Chaos zu reparieren, das seine Majestät angerichtet hat."
"Was passiert, wenn ein schlechtgelaunter, unkonzentrierter Blödmann ein Reich regiert, fragt Miranda Carter, Autorin eines Buchs über die drei Cousins George, Nikolaus und Wilhelm, im New Yorker. In Kaiser Wilhelm hat sie einen Vorläufer für Donald Trump gefunden: "Der Kaiser war erregbar, aber selten wirklich zu kontrollieren. Er war unvorhersehbar, wenn es darum ging, seine Autorität zu beweisen, als müsste er klarmachen, dass er noch im Amt war, etwa wenn er die Politik seiner Berater rüpelhaft durchkreuzte oder ohne Vorwarnung Minister entließ. 'Sie haben nicht die geringste Idee, was ich alles verhindert habe', beklagte sich sein treuester Diener, Bernhard von Bülow, bei einem Freund, 'und wieviel Zeit ich damit verbracht, das Chaos zu reparieren, das seine Majestät angerichtet hat."
Medien
Der SZ-Feuilletonchef Andrian Kreye soll neulich gefordert haben, bei "Karikaturen künftig ganz auf das Stilmittel der Überzeichnung zu verzichten". Auslöser war wohl eine Affäre um eine SZ-Karikatur von Dieter Hanitzsch, der Antisemitismus vorgeworfen wurde. Der Schriftsteller Jürgen Roth antwortet im Freitag: "Vor einigen Jahren hat Eckhard Henscheid zu mir gesagt, es werde alles zurückgedreht, auf den Stand des Spießertums der Fünfziger Jahre. Er hatte recht. Es wütet, ausgehend von einer über ihrem 'Diversity'-Mantra verrückt gewordenen, ungebildeten, moralpolitisch verhärteten, feindfixierten postmodernen Linken, ein regressiv-antiaufklärerischer, antiliberaler Opferkult, der die wechselseitige Infantilisierung aller forciert."
Gesellschaft
Wie soll man auf Provokationen der AfD reagieren? In der taz ist Armin Nassehi eher ratlos: "Speziell G., vor Jahren ein eher liberaler konservativer Politiker, trägt den Habitus und das Selbstbild gediegener Bürgerlichkeit vor sich her. Vielleicht ist die einzige Währung, die dieses Milieu trifft, soziale Ächtung und die Verweigerung bürgerlicher Achtung. Kann man solche Ächtung organisieren? - Ich weiß es nicht."
Die Menschenwürde der Rechten sollte man dabei allerdings nicht verletzen, meint Jochen Bittner im Zeit-Blog 5 nach 8, nachdem neulich Bilder von Alexander Gauland in Badehose (jemand hatte ihm die Kleider geklaut) im Internet zirkulierten, die für viel Häme sorgten: "Müssen wir jetzt bei der Frage, welche Würde jemand beanspruchen kann, wieder dessen politische Haltung einpreisen? Ja, geht's denn noch?"
In der NZZ ruft Claudia Schwartz die Medien auf, nicht auf jede Provokation der AfD einzugehen: "Einer begeht gezielt einen Tabubruch, sagt Unerhörtes - alle berichten darüber, und die AfD lacht sich ins Fäustchen. Just vor ein paar Tagen haben im Guardian die Medienwissenschafter Danah Boyd und Joan Donovan dafür plädiert, dem politaktivistischen Aufmerksamkeitssyndrom ganz cool strategic silence entgegenzusetzen. Weil neue Studien zeigten, dass die gezielte Strategie des medialen Beschweigens jeweils auch dem Ku-Klux-Klan erwiesenermaßen den fruchtbaren Boden entzogen habe."
Morgen wird sich der Rat für deutsche Rechtschreibung mit dem Thema "geschlechtergerechte Schreibung" befassen. In der SZ plädieren Henning Lobin und Damaris Nübling für die Einführung des Gendersternchens: Es sei "geradezu eine demokratische Pflicht, die Entfaltung von Chancengleichheit und -gerechtigkeit nicht schon durch die Ablehnung geeigneter sprachlicher Mittel zu behindern. 'Das generische Maskulinum macht Frauen besser unsichtbar als jede Burka', hat Luise Pusch einmal gesagt."
Auch Henryk M. Broder möchte die deutsche Sprache verbessern: Er schlägt in der Welt vor, den Begriff "Geflüchtete" möglichst bald in "Zu-uns-Kommende" umzuwandeln.
Die Menschenwürde der Rechten sollte man dabei allerdings nicht verletzen, meint Jochen Bittner im Zeit-Blog 5 nach 8, nachdem neulich Bilder von Alexander Gauland in Badehose (jemand hatte ihm die Kleider geklaut) im Internet zirkulierten, die für viel Häme sorgten: "Müssen wir jetzt bei der Frage, welche Würde jemand beanspruchen kann, wieder dessen politische Haltung einpreisen? Ja, geht's denn noch?"
In der NZZ ruft Claudia Schwartz die Medien auf, nicht auf jede Provokation der AfD einzugehen: "Einer begeht gezielt einen Tabubruch, sagt Unerhörtes - alle berichten darüber, und die AfD lacht sich ins Fäustchen. Just vor ein paar Tagen haben im Guardian die Medienwissenschafter Danah Boyd und Joan Donovan dafür plädiert, dem politaktivistischen Aufmerksamkeitssyndrom ganz cool strategic silence entgegenzusetzen. Weil neue Studien zeigten, dass die gezielte Strategie des medialen Beschweigens jeweils auch dem Ku-Klux-Klan erwiesenermaßen den fruchtbaren Boden entzogen habe."
Morgen wird sich der Rat für deutsche Rechtschreibung mit dem Thema "geschlechtergerechte Schreibung" befassen. In der SZ plädieren Henning Lobin und Damaris Nübling für die Einführung des Gendersternchens: Es sei "geradezu eine demokratische Pflicht, die Entfaltung von Chancengleichheit und -gerechtigkeit nicht schon durch die Ablehnung geeigneter sprachlicher Mittel zu behindern. 'Das generische Maskulinum macht Frauen besser unsichtbar als jede Burka', hat Luise Pusch einmal gesagt."
Auch Henryk M. Broder möchte die deutsche Sprache verbessern: Er schlägt in der Welt vor, den Begriff "Geflüchtete" möglichst bald in "Zu-uns-Kommende" umzuwandeln.
Internet
Der britische Biologe Matt Ridley wünscht sich in der NZZ mehr Gelassenheit in Bezug auf Künstliche Intelligenz: "Die größte ethische Herausforderung dieser schönen neuen Welt liegt in der Art, wie eine nur allzu menschliche Intelligenz mit persönlichen Daten umgeht. Nicht der Verlust von Arbeitsstellen stellt ein Risiko dar: Seit der Erfindung der Dreschmaschine haben Innovationen bei der Automatisierung stets zu einer Vermehrung der Arbeitsplätze geführt."
Europa - und speziell Berlin - fehlt es einfach an Ehrgeiz, meint Peter Thiel, Mitbegründer von Paypal, in der Welt. Und dann guckt man neidisch auf die amerikanischen Konzerne und erfindet so was wie eine Datenschutzgrundverordnung. Laut Thiel ist das "eine viel inkompetentere Version der großen chinesischen Firewall. Sie ist ein ganz dummes Eigentor: Eigentlich sollte sie sich gegen die großen amerikanischen Firmen richten, tatsächlich schädigt sie aber europäische Start-ups. Jede scharfe Regulierung neigt dazu, große Unternehmen zu begünstigen und kleinen zu schaden. Wir können uns über die DSGVO in Bezug auf die politischen und ethischen Aspekte unterhalten, die sich mit dem Datenschutz befassen. Aber in wirtschaftlicher Hinsicht ist sie kontraproduktiv für die lokale Industrie, und zwar in einer Weise, die der Situation in China ähnelt."
Breitband-Internet gibts in Deutschland auch 2025 nicht, hat der Europäische Rechnungshof festgestellt. Auf Spon kann Sascha Lobo es nicht fassen: Die Bundesregierung will kein schnelles Internet, sondern lieber der Telekom das Vectoring-Händchen halten: "Die 'beste digitale Infrastruktur der Welt' (Bundesregierung 2016) ist natürlich nur mit Glasfaser bis in die Gebäude zu erreichen, das weiß ausnahmslos jede Person, die nicht von der Telekom bezahlt wird. Trotzdem wird weiter sehr viel Geld in die Hand genommen, um Glasfaseranschlüsse in die Wohnungen zu verhindern."
Europa - und speziell Berlin - fehlt es einfach an Ehrgeiz, meint Peter Thiel, Mitbegründer von Paypal, in der Welt. Und dann guckt man neidisch auf die amerikanischen Konzerne und erfindet so was wie eine Datenschutzgrundverordnung. Laut Thiel ist das "eine viel inkompetentere Version der großen chinesischen Firewall. Sie ist ein ganz dummes Eigentor: Eigentlich sollte sie sich gegen die großen amerikanischen Firmen richten, tatsächlich schädigt sie aber europäische Start-ups. Jede scharfe Regulierung neigt dazu, große Unternehmen zu begünstigen und kleinen zu schaden. Wir können uns über die DSGVO in Bezug auf die politischen und ethischen Aspekte unterhalten, die sich mit dem Datenschutz befassen. Aber in wirtschaftlicher Hinsicht ist sie kontraproduktiv für die lokale Industrie, und zwar in einer Weise, die der Situation in China ähnelt."
Breitband-Internet gibts in Deutschland auch 2025 nicht, hat der Europäische Rechnungshof festgestellt. Auf Spon kann Sascha Lobo es nicht fassen: Die Bundesregierung will kein schnelles Internet, sondern lieber der Telekom das Vectoring-Händchen halten: "Die 'beste digitale Infrastruktur der Welt' (Bundesregierung 2016) ist natürlich nur mit Glasfaser bis in die Gebäude zu erreichen, das weiß ausnahmslos jede Person, die nicht von der Telekom bezahlt wird. Trotzdem wird weiter sehr viel Geld in die Hand genommen, um Glasfaseranschlüsse in die Wohnungen zu verhindern."
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