9punkt - Die Debattenrundschau

Eigenartige Lust am Untergang

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.08.2018. Die Krise der Demokratien ist das Thema, das von vielen ganz unterschiedlichen Beiträgen umkreist wird. Yuval Noah Harari sieht im Guardian eines der Probleme ausgerechnet in der "freien Information". In Zeit online sucht Jay Rosen nach Strategien des Journalismus gegen Trump und Rechtspopulismus. Die FAZ stellt fest, dass das chinesische Sozialkreditsystem bei den Bürgern beliebt ist. Der Historiker Leonid Luks untersucht unterdessen bei den Kolumnisten die Frage, wie sich die Bolschewisten halten konnten, obwohl sie nicht im Ansatz eine Mehrheit hatten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.08.2018 finden Sie hier

Überwachung

Ein Team der FU hat in China ein Umfrage zum Sozialkreditsystem gemacht, das über das ganze Land ausgerollt werden soll, und erstaunlich hohe Zustimmungsraten gefunden, die Mark Siemons in der FAZ referiert: "Verblüffend ist .., dass bei der FU-Untersuchung die höchsten Zustimmungsraten ausgerechnet bei Befragten erreicht werden, die schon Teil eines staatlichen Modellversuchs sind. In begleitenden Interviews gaben sie an, dass sie erwarten, dass der chinesische Sicherheitsapparat ohnehin alle Daten über sie habe oder haben könne. Wegen des neuen Systems machten sie sich deshalb keine zusätzlichen Sorgen. Anscheinend erhoffen sie sich, dass die ohnehin schon vorhandene Überwachung verlässlicher, weniger willkürlicher werde."

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Ideen

Die Bücher von Yuval Noah Harari, der vor Biotechnologien und Künstlicher Intelligenz warnt, sind auf dem Buchmarkt ein Phänomen. Neulich zitierte sie der Guardian als Beispiel dafür, dass ernsthafte Bücher wieder den Markt eroberten (unser Resümee). Im Interview mit dem Guardian warnt Harari vor "freier Information", wobei er auch mit dem Doppelsinn von "free" und "kostenlos" spielt: "Die Idee der freien Information ist in der Nachrichtenindustrie extrem gefährlich. Wenn es so viele kostenlose Informationen gibt, wie bekommt man dann die Aufmerksamkeit der Leute? Sie wird zum eigentlichen Rohstoff. Der Anreiz, Ihre Aufmerksamkeit zu bekommen - und sie dann dann an Werbetreibende oder Politiker zu verkaufen - liegt jetzt darin, immer neue und sensationellere Geschichten zu schaffen, egal ob sie wahr oder relevant sind. (...) Wir sind bereit, für hochwertige Lebensmittel, Kleidung und Autos zu bezahlen, warum also nicht auch für hochwertige Informationen?"

Außerdem: Im Tagesspiegel porträtiert Ulrike Baureithel die amerikanische Biologin Donna J. Haraway, die unter Erfindung neuer Begriffe wie dem "Chtuluzän" für eine "artenübergreifende ökologische Gerechtigkeit" eintritt. In der NZZ findet Slavoj Zizek, wir sollten doch froh sein, dass sich die "Wahrheit der liberal-demokratischen Meistererzählung" des Westens als "Lüge" entpuppt. Was genau er damit meint, erfahren wir möglicherweise in einem neuen Artikel. Sonja Zekri hat sich für die SZ eine Reihe von Büchern über die Krise der Demokratie gelesen und wundert sich: "Eine eigenartige Lust am Untergang greift um sich, die naiv nennt, was nur vernünftig ist: das Vertrauen in die Durchsetzungsfähigkeit eines Modells, das Winston Churchill 'die schlechteste aller Staatsformen' nannte - 'ausgenommen alle anderen'. Bislang hat nichts und niemand diesen Satz widerlegt." Im Tagesspiegel stellt Gregor Dotzauer den jüngsten Themenband der Zeitschrift Osteuropa vor, der sich mit der Demokratiekrise in Mitteleuropa beschäftigt.
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Geschichte

Der Historiker Leonid Luks stellt bei den Kolumnisten die Frage, warum sich die Bolschewisten vor hundert Jahren halten konnten, obwohl sie bei weitem nicht die Mehrhheit der Bevölkerung hinter sich hatten. Terror von Anfang an (und nicht etwa erst unter Stalin) ist ein Teil der Antwort. Der andere ist die ungeheure Blödigkeit ihrer "weißen" Gegner: "Sie versuchten oft, die früheren Besitzverhältnisse auf dem Lande wiederherzustellen und forderten dadurch die Bauern in einer beispiellosen Weise heraus. Sie standen von nun an auf verlorenem Posten. Denn die Abwendung der Bauern von den Bolschewiki bedeutete keineswegs, dass sie sich von den Idealen der Revolution abgewendet hatten. Der Hass gegen das 'alte Regime' und alle seine Erscheinungsformen, stellte auch weiterhin bei den russischen Unterschichten die allesbeherrschende Emotion dar."
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Medien

Im Zeit-Interview über Jeff Bezos, die Washington Post und die Berichterstattung über Donald Trump wendet sich der amerikanische Medienwissenschaftler Jay Rosen auch der hiesigen Berichterstattung über die AfD zu: "Ich glaube nicht, dass man einfach etwas von amerikanischen Journalisten übernehmen könnte. Aber man muss die USA als mahnendes Beispiel ernst nehmen. Eine Lehre ist: Wer über Rechtspopulismus einfach nur berichtet, wird ein Teil von ihm. ... Trump lebt von der Kontroverse. Gewissermaßen lebt er sogar vom Hass gegen ihn, denn der hilft ihm, das Land weiter zu polarisieren. Wenn ein Medium nicht zu einem Teil der rechtspopulistischen Agenda werden möchte, dann muss es eine eigene reporting agenda entwickeln und öffentlich machen."

Die Bundesländer beraten über einen neuen Medienstaatsvertrag für die Öffentlich-Rechtlichen. Der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm zeigt ihnen im Tagespiegel schon mal, wo der Hammer hängt und beharrt darauf, dass wir bereits jetzt in der besten alle möglichen Welten leben: "Es kann nicht im gesellschaftlichen Interesse liegen, dass sich ARD, ZDF und Deutschlandradio darauf beschränken müssen, die Lücken und Nischen zu füllen, die kommerzielle Anbieter nicht abdecken, weil sie damit kein Geld verdienen können. Wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk alle Menschen erreichen will und erreichen soll, dann gehören Sport und Unterhaltung genauso dazu wie Bildung, Kultur und Information." Mit Stolz verweist Wilhelm darum auch auf die starke Schmonzettenproduktion der Sender.
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Wissenschaft

In der FR stellt Arno Widmann eine Globalgeschichte des amerikanischen Historikers David Christian vor: "'Big History' ist die Weltgeschichte, geschrieben nicht nur aus den Vernichtungserfahrungen des 20. Jahrhunderts, sondern wohl mehr noch aus der Besorgnis, wir könnten uns verhoben haben am Anthropozän. 1857 machte sich Karl Marx in seiner 'Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie' Mut mit dem Satz: 'Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann'. So viel theoretischen Optimismus kann David Christian nicht mehr aufbringen." Er "sieht dennoch Chancen für ein gutes Anthropozän, also ein geologisches Zeitalter, in dem die reif und klug gewordene Menschheit das Raumschiff Erde ein paar Jahrtausende oder gar Jahrzehntausende sicher steuern wird."
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Gesellschaft

Gestern noch große Willkommensgesellschaft, heute ein Land von Rassisten. In der NZZ fragt sich Benedict Neff angesichts der Özil-Debatte, warum die Deutschen immer so zu Extremen neigen. "Dabei geht leicht vergessen, dass es in Deutschland eine breite und vernünftige Mitte gibt, die gegenüber Fremden aufgeschlossen ist, die sowohl bei Özil als auch beim Deutschen Fußball-Bund Fehler sieht, die aber nicht gleich den hysterischen Alarmismus mancher Journalisten und Politiker teilt und das Land von einem Moment auf den anderen verloren glaubt. Es ist bemerkenswert, wie oft man sich mit solchen Menschen im realen Leben unterhält und wie selten man sie in den Medien vernimmt. ... Oft tragen diejenigen am meisten zur Polarisierung bei, die sie am lautesten bedauern."

Ja, Rassismus existiert, auch in Österreich. Man sollte ihn aber nicht mit Unwissenheit oder Ungeschicklichkeit im Umgang mit Migranten verwechseln, meint der österreichische Filmregisseur Arman T. Riahi im Interview mit dem Standard: "Xenophobie ist in unseren Gesellschaften sehr verbreitet, auch bei Menschen mit Migrationshintergrund. Viele FPÖ-Wähler haben Migrationshintergrund. Der Gedanke, dass die einen weniger xenophob als die anderen wären, ist falsch. Mich stört die Political Correctness, die da jetzt wieder hochschwappt. Zuerst zeigt man mit dem Zeigefinger auf den anderen und ruft Rassist, und dann schickt man seine eigenen Kinder in eine Privatschule mit möglichst wenigen Kindern mit Migrationshintergrund."
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Europa

Bilder toter Flüchtlingskinder rühren keine Emotion bei den Europäern mehr aus, schreibt die italienische Journalisten Annalisa Camilli bei politico.eu: "Europa, so scheint es, ist der Krise müde und lässt seine Empathie und Humanität fahren. Italiens neue Politik hat zu einem Anstieg der Sterblichkeitsrate geführt, aber sie hat in der öffentlichen Meinung keine moralische Empörung hervorgerufen. Während euroskeptische und fremdenfeindliche Gruppen die Einwanderung als trojanisches Pferd nutzen, um das europäische Projekt zu kritisieren, stumpfen wir ab. Wir haben die Augen vor dem Leid der Menschen verschlossen, die ihr Leben riskieren, um aus kriegszerrütteten Ländern zu fliehen und Chancen in Europa zu suchen."
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