9punkt - Die Debattenrundschau

Freund-Feind-Verhältnisse

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.09.2018. Zwei Tage vor einem möglichen Triumph der Rechtspopulisten in Schweden fragen SZ und FR, wie aus dem "Volksheim" eine Wagenburg werden konnte. In Zeit online erzählt die ungarische Schriftstellerin Noemi Kiss von dem unheimlichen Totenkult um Stalin in Georgien. Die FAZ bringt einen Nachruf auf den insolventen Stroemfeld-Verlag. Deutschlandfunk Kultur und Spiegel online fragen nach Chemnitz nach dem Selbstverständnis deutscher Medien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.09.2018 finden Sie hier

Europa

Auch Schweden wird am Sonntag voraussichtlich mit einem Triumph der rechtspopulistischen Schwedendemokraten weiter nach rechts rücken, mutmaßt Silke Bigalke in der SZ. Nach außen geben sie sich gemäßigt, schreibt sie, aber: "Die Schwedendemokraten wollen alle fernhalten, die ihrer Meinung nach die schwedische Kultur gefährden. Europäer sind willkommen; Menschen aus überwiegend muslimischen Ländern, aus dem Mittleren Osten und Nordafrika, jedoch nicht. Kulturen sollte man nicht mischen, sagen sie und sind damit ganz nahe an der Bewegung der Identitären. Ihr Kulturbegriff vermischt dann gleich Herkunft und Religion. Ein prominenter Schwedendemokrat hat wiederholt erklärt, er halte Samen und Juden nicht für Schweden."
 
In der FR erklärt der Politologe Claus Leggewie, wie aus schwedischen Sozialdemokraten, die einst für ihre "Volksheim" genannte Solidargemeinschaft gelobt wurden, Schwedendemokraten mit einer "Wagenburgmentalität" werden konnten: "Später wurden Begriff und Inhalt des Volksheims bei den Sozialdemokraten durch die 'starke Gesellschaft' ersetzt, eine enorm starke Vereinskultur lebte den Gedanken der solidarischen Gemeinschaft, oft und zum Ärger der 'kleinen Nachbarn', mit messianischem Anspruch. Doch auch der wurde von den tatsächlichen Entwicklungen überholt und, mehr noch, es zeigte sich, wie Exklusion in der DNA des Volksheims angelegt ist. Es war nicht gewappnet für die Masseneinwanderung seit den 1970er Jahren und schloss sich gegen außereuropäische Asylbewerber und Einwanderer ab, die dann ihre Parallelheime bauten."
 
Deutschland ist längst ein Einwanderungsland geworden, konstatiert der Politikwissenschaftler Dieter Oberndörfer, einer der ersten Migrationsforscher der BRD, in der SZ: "Wir müssen uns von der ethnischen Nation verabschieden und einer republikanischen Verfassungsnation Gestalt geben. Bürger der Republik können prinzipiell alle Menschen werden, die sich zur republikanischen Verfassung und ihren Werten bekennen. Das ist theoretisch rechtlich bereits der Fall. Aber die Diskussionen zeigen, dass das in den Köpfen vieler Menschen noch nicht angekommen ist."
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Kulturmarkt

Der ehrwürdige Stroemfeld-Verlag, bekannt für seine historisch-kritischen Ausgaben von Hölderlin bis Kafka, musste Insolvenz anmelden, berichtet Jürgen Kaube in der FAZ. Schuld sind laut Kaube die Bibliotheken, die wegen der Digitalisierung nicht mehr so viele Exemplare dieser teuren Bände kaufen. (Was Verlage wie Elsevier nicht abhält, Umsatzrenditen von 30 Prozent zu erzielen.)
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Ideen

Hart geht der britische Philosoph John Gray in der SZ mit Linksliberalen ins Gericht, denen er nicht nur vorwirft, ebenso anfällig für Verschwörungstheorien zu sein wie Rechte und sich vor Verantwortung zu drücken, sondern er attestiert dem Linksliberalismus auch eine Abkehr von Toleranz hin zu einer "Orthodoxie", die ihre Abweichler unter Druck setze: "Nur wenige Liberale, die Universitäten, Medienkonzerne und andere Unternehmen leiten, zeigen ein Gespür für die komplexe und widersprüchliche Sphäre von Ethik und Politik. Für viele von ihnen besteht die Welt aus einfachen moralischen Fakten. Der westliche Kolonialismus sei durch und durch böse, historische nationale Identitäten seien dem Wesen nach rassistisch und Religionen nichts weiter als Strukturen der Unterdrückung. Jeder, der diese angeblichen Fakten in Frage stellt, hat eine Umschulung nötig oder die fristlose Kündigung zu erwarten."
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Geschichte

Im Freitext auf Zeitonline erzählt die ungarische Schriftstellerin Noemi Kiss von dem unheimlichen Totenkult um Stalin in Georgien, den sie bei einem Besuch eines Museums in Stalins Geburtsstadt Gori erlebt hat: "Tatsächlich ist abscheulich, was uns an Stalin-Verehrung im Museum begegnet. Kein Wort über seine blutigen Taten. Stattdessen Zeugnisse seiner Kindergedichte. Zwischen gut und böse wird hier kein Unterschied gemacht. Später sagt der Verkäufer im Lebensmittelladen, man würde immer noch fürchten, dass Stalin zurückkäme, deshalb das Museum. Außerdem sei es eben so mit dem Toten: Man sagt nichts Schlechtes über sie. Das Museum ist beängstigend idyllisch, unheimlich und furchtbar. Ein Kult der Domestikation, der Gänsehaut bereitet, umso mehr, wenn man in der Bukowina die Grabsteine der verhungerten Ukrainer und Ukrainerinnen gesehen hat. Millionen sind gestorben, auch russische Soldaten. Die Ukraine ist stumm in Georgien, darüber wird kein Wort verloren."
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Gesellschaft

Gegen Hass und Hetze ist vorzugehen, aber Wut und Kritik muss eine Demokratie aushalten, schreibt der ehemalige Grünenpolitiker und Kommunikationsberater Daniel Mack in der Welt: "Diese Leute pauschal in die rechte Ecke zu schieben, als Feinde der Freiheit zu beleidigen, als Rassisten zu betiteln ist nicht nur fern ab jeglicher Argumentation, es richtet einen nachhaltigen Schaden an. Das sollten vor allem diejenigen wissen, die das bittere Scheitern der Weimarer Republik kennen, als sich zwei Lager gegenüberstanden, deren vornehmliches Ziel nie der Diskurs, sondern ausschließlich die politische Vernichtung des Andersdenkenden war."

Die Söhne des Kulturwissenschaftlers Helmut Lethen, eines Linken und 68ers, müssen die Wiener Waldorfschule verlassen, weil Helmuth Lethens Frau Caroline Sommerfeld-Lethen der Neuen Rechten nahesteht (mehr dazu hier), berichtet Christian Geyer in der FAZ. Die Kinder sind 8 und 12 Jahre alt. "So was kommt eben vor, könnte man sagen. So was kommt vor, wo sich ein Begriff von demokratischer Öffentlichkeit durchsetzt, der politische Konflikte auf Freund-Feind-Verhältnisse verengt", schreibt Geyer dazu.
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Medien

In Deutschlandfunk Kultur beklagt René Aguigah eine übervorsichtige Haltung vieler Redaktionen zu Chemnitz: "Chemnitz erlebt massive Ausschreitungen von rechts, ein paar Tage später ein friedliches Konzert eben nicht nur mit Publikum von links, sondern mit 65.000 äußerst gemischten Menschen - und dann, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen von gestern Abend, wird diskutiert, als beobachte man eine Symmetrie von Rechts- und Linksextremismus." Aguigah fordert ein klares journalistisches Bekenntnis gegen Rassismus und macht sich einen Satz des FAZ-Redakeurs Patrick Bahners zu eigen: "Wir sind zu wenig radikal."

Cordt Schnibben fordert dagegen in Spiegel online auch ein selbstkritisches Innehalten von Journalisten: "Ich muss mir eingestehen, dass ich viele Probleme nicht sehen wollte: die Wucht, mit der Kriminelle unter den Flüchtlingen das Zusammenleben tatsächlich oder gefühlt verändert haben; das Aufblühen von Antisemitismus; das Einsickern von Terroristen, als Schutzsuchende getarnt; die Folgen für die gesellschaftliche und politische Stabilität..."

Eine Revolution? Der in seiner Auflage arg gefledderte Print-Spiegel öffnet seine Mitarbeiter KG, die Mitbestimmung und Gewinnbeteiligung erlaubt, nach über zwanzig Jahren auch für ausgewählte Mitarbeiter von Spiegel online, berichtet unter anderem Gregory Lipinski in Meedia. Wie ausgewählt wird, ist aber noch unklar: "Sollte nach der Betriebszugehörigkeit verfahren werden, dürften aber auch langjährige SpOn-Mitarbeiter nicht gleich in Jubel ausbrechen. Wie satzungsgemäß üblich, werden sie erst dann Mitglied im Kreis der stillen Gesellschafter, wenn sie drei Jahre ausgeharrt haben. Erst dann sind sie gewinn- und wahlberechtigt."

Außerdem: Die Chefredakteure von ARD-aktuell, Kai Gniffke, und ZDF, Peter Frey, wollen im Oktober an einer Podiumsdiskussion der AfD in Dresden teilnehmen, meldet Meedia mit dpa: "Gniffke sei der Überzeugung, dass es wichtig sei, den Beitragszahlern die eigene Arbeit zu erläutern und den Dialog mit dem Publikum zu führen."
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