9punkt - Die Debattenrundschau

Bann des Vergangenen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.01.2019. In der NZZ ruft Herfried Münkler dazu auf, die Fetische der Identitätspolitik zu entmystifizieren. Netzpolitik veröffentlicht das - offiziell vertrauliche - Gutachten des Bundesverfassungsschutzes zur AfD. Am Ende könnte vor allem einer von der Bewegung der Gelben Westen profitieren, spekuliert politico.eu: Emmanuel Macron. Die SZ versucht die BDS-Kampagne zu erklären.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.01.2019 finden Sie hier

Europa

Keiner hat damit gerechnet: Aber Emmanuel Macron könnte als der Gewinner aus der Gilets-Jaunes-Kalamität hervorgehen. Denn die Gilets jaunes denken daran, sich als Partei zu etablieren - und das würde Macrons Konkurrenten Jean-Luc Mélenchon und Marine Le Pen schaden, nicht Macron, schreibt Nicholas Vinocur in politico.eu. Einer Gelben-Westen-Partei wurden in einer Umfrage auf Anhieb 13 Prozent zugesprochen: "Während Macrons zentristische Partei La République en marche wenige Punkte in einem Gilet-jaunes-Szenario verlor, waren die eigentlichen Opfer genau jene Politiker, die die Proteste gegen das Establishment am lautesten bejubelt hatten: Le Pen und Mélenchon. Die Anführerin des rechtsextremen  Front national verlor 3,5, Mélenchons harte Linke 1,5 Prozentpunkte an die Gelben Westen."

Frühe konservative Brexit-Betreiber waren sich im klaren, dass alles andere als eine "Norwegen-Lösung", in der Britannien zahlt, aber nicht bestimmt, das Land ins Chaos stürzen würde. Aber wer hätte für eine solche Lösung gestimmt, wenn sie im Referendum zur Wahl gestellt worden wäre? Also machte man eine Alles-oder-nichts-Politik und versprach, was man nicht halten konnte, resümiert Nick Cohen in seiner Observer-Kolumne. Nicht nur die Brexiteers sind daran schud: "Die Cameron-Regierung, jeder einzelne Abgeordnete, der für den Brexit stimmte, auch die angeblich so scharfen Interviewer der BBC und hartgesottene Journalisten in der Presse ließen sie damit davonkommen. Keiner beharrte darauf, dass die Wähler hätten wissen müssen, für welche Form von Brexit sie stimmen." Mehr zum Brexit: In der FAZ erkundet Tobias Schrörs unter der Überschrift "Die Folgen sind unangenehm, aber nicht existenziell" die Auswirkungen des Brexit auf die Kulturwelt.

Und dann ist da noch die Guardian-Geschichte, die Anne Applebaum auf Twitter so resümiert: "Drei Polen und ein deutscher Neonazi wurden bei der Planung von Terroranschlägen erwischt, von denen sie hofften, dass sie den Ukrainern in die Schuhe geschoben würden. Der Deutsche ist der ehemalige Nahost-Experte von Russia Today. Man hätte sich so etwas wohl ausdenken können, aber wer hätte es geglaubt?"
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Geschichte

Die Berliner Zeitung hat die Rede des Historikers Götz Aly zum 74. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz online gestellt: "Mir bleibt rätselhaft, wie der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland zu folgender Forderung fand: Auch 'wir haben das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen'. Ich verspüre kein solches Bedürfnis. Warum das so ist, erkläre ich Ihnen am Beispiel des Feldwebels Werner Viehweg. Er wurde 1912 geboren und wuchs in einem sozialdemokratischen Elternhaus auf. Sein Vater verlor 1933 sofort seine Stellung als Bezirksoberschulrat im sächsischen Löbau; 1945 wurde er als Ministerialrat in Dresden reaktiviert. Doch dokumentiert das Kriegstagebuch, das Werner Viehweg 1941/42 in Polen und Russland führte, wie regimekonform er und auch seine beiden Brüder waren - trotz sozialistischer Erziehung..."
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Ideen

Der Politologe Herfried Münkler denkt in der NZZ (online nachgereicht vom Samstag) mit Ernst Bloch über den neuen Fetisch der Identität nach. "Indem das Wir, von dem Bloch gesprochen hat, vergegenständlicht wird, wird sein Werden blockiert: Es ist ja schon da und muss bewahrt und verteidigt werden. Die im Fetisch aufbewahrte Vergangenheit duldet keine Auseinandersetzung mit der Zukunft. Die im Fetisch gebannte Vergangenheit stellt die Gemeinschaft in den Bann des Vergangenen. So wird der Fetisch zum Garanten immerwährender Traditionalität. Modernität ist erst möglich, wenn die Fetische entmystifiziert sind. Das Bemühen um ein gegenwartsbezogenes Selbstbewusstsein und das Vertrauen auf einen Fetisch stehen also im Widerspruch zueinander."
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Medien

Jürn Kruse stellt in der taz eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung über die Lage der Freien in den öffentlich-rechtlichen Anstalten vor. "Zentrale Ergebnisse: 94 Prozent der Befragten fühlen sich gegenüber Festangestellten benachteiligt. 66 Prozent bekommen laut eigener Aussage für die gleiche Arbeit weniger Geld als Festangestellte. 70 Prozent der Befragten wären lieber festangestellt."
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Religion

John Allen Chau, der das Naturvolk der Sentinelesen zum evangelikalen Christentum bekehren wollte und von ihnen mit Pfeilen getötet wurde, agierte nicht als Einzelperson, sondern als Teil eines riesigen Netzwerks evangelikaler Christen, berichtet Dorothea Hahn für die taz: "Chau kam über das 'Joshua Project' zu seiner 'Berufung'. Die evangelikale Organisation führt eine Liste von 'Unreached People Groups' (nicht erreichte Volksgruppen), die sie bekehren wollen. Gegenwärtig listet das 'Joshua Project' drei Milliarden Menschen aus 7.063 Gruppen auf - dazu zählen so kleine wie die geschätzt mehreren Dutzend Sentinelesen und so große wie Hindus, Muslime und Buddhisten. Nachdem Chau die Sentinelesen für sich entdeckte, als er 16 war, wurde die Idee, ihnen das Wort Gottes zu bringen, sein Leitmotiv."
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Internet

In Deutschland ist die Digitalisierung fast ausschließlich angstbesetzt. Kaum jemand setzt sich gestalterisch damit auseinander, bedauert der Ökonom Ayad Al-Ani auf Zeit online und macht Vorschläge: Etwa zum Aufbau "Aufbau föderativer Plattformen. Solche Portale könnten Leistungen und Produkte verschiedener Anbieter vermitteln und zum Beispiel von einer Genossenschaft oder öffentlich-rechtlichen Organisation gesteuert werden. Durch gemeinschaftliche Modelle würde man auch Monopolen einzelner Firmen vorbeugen, wie sie im Silicon Valley entstanden sind."
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Gesellschaft

Netzpolitik veröffentlicht das 436 Seiten starke Gutachten des Bundesverfassungsschutzes zur AfD und der Frage, ob diese Partei zu beobachten sei. Offiziell ist das Dokument als "Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch" eingestuft. Nur die Pressemitteilung zirkulierte in der Öffentlichkeit. Die Netzpolitik-Autorinnen schreiben in der Präsentation des Dokuments: "Dass ein Geheimdienst eine politische Partei beobachtet, ist ein harter Eingriff in einer Demokratie. Gerade deshalb müssen die Erkenntnisse öffentlich verhandelt werden. Wo Behörden Transparenz verweigern, müssen Medien diese Informationen öffentlich machen, auch entgegen staatlicher Geheimnistuerei. Das gilt umso mehr für einen Geheimdienst, der in seiner Geschichte im Kampf gegen Rechtsextremismus nicht nur versagt hat, sondern durch die eigene Nähe zu Rechtsradikalen aufgefallen ist."

Thorsten Schmitz zeichnet in der SZ ein wenig sympathisches Bild der BDS-Kampagne, die zum Boykott Israels aufruft und dem israelischen Staat im Kern das Existenzrecht abspricht. Mitglieder büllen Gegenstimmen nieder, wollen selbst nur schriftlich interviewt werden oder anonym oder beginnen ihre Reden - wie der taz-Journalist Andreas Zumach - mit Klagedrohungen, so Schmitz. Die Anhänger "sind gegen die Besatzung, wer wäre das nicht? Aber statt politischer Lösungen bieten sie medienwirksame Coups, etwa dass Airbnb keine Zimmer mehr im Westjordanland anbietet ... Arabische Israelis, die sich für die Integration der Araber in die israelische Wirtschaft, Wissenschaft und Politik einsetzen, kritisieren ohnehin, dass ein Boykott israelischer Hochschulen, Firmen und Kulturveranstaltungen ihnen schadet."
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