9punkt - Die Debattenrundschau

Tumult und Scheitern

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.06.2019. In der NZZ dekonstruiert Hans Ulrich Gumbrecht mit Hélène Cixous, Donna Haraway oder Judith Butler das Stereotyp vom wütenden weißen Mann. Im Guardian beobachtet Evgeny Morozov, wie Facebook Schrödingers Katze auf das globale Finanzsystem loslässt. In der Financial Times beschreibt Simon Kuper, wie Oxford seit Jahrzehnten Politiker hervorbringt, die sich nicht für Politik interessieren. Die taz fragt, warum die CDU so verhalten auf die Ermordung Walter Lübckes reagiert. Und die SZ tippt ihre Zehenspitzen in die Melancholie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.06.2019 finden Sie hier

Ideen

In der NZZ macht sich Hans Ulrich Gumbrecht die Mühe, den Begriff vom "wütenden weißen Mann" abzuklopfen und auf seine Ursprünge in der französischen Theorie zurückzuführen. Denn es war natürlich Lacan, der uns die Denkfigur beschert hat: "Vernunft = Logik = binäres Denken = männliches Dominanzverhalten = totalitär. Man könnte eine derartige Ansammlung von Umkehrungen, Verwirrungen und Unsinn als brüchiges Kapitel aus der Geschichte der Geisteswissenschaften abtun, wenn nicht speziell dieses Kapitel über das Konzept des Phallogozentrismus der heutigen Formel vom 'angry white man' ihr eigenartiges intellektuelles Prestige verliehe. Kaum zufällig haben feministische Philosophinnen von Rang wie Hélène Cixous, Donna Haraway oder Judith Butler einen weiten Bogen um die Phallogozentrismus-Vereindeutigung gemacht und stattdessen weiter an nichtbinären Geschlechtsunterscheidungen gearbeitet. Doch nur selten haben sie leider auch den Gebrauch jenes bestenfalls unterkomplexen Bildes von den Männern als testosterongeladen-autoritären Monstern explizit kritisiert - wohl aus einem Gefühl geschlechtspolitischer Solidarität, das ihrer Geschlechterphilosophie nicht gutgetan hat. Viel später erst, nämlich mit einer um die Jahrtausendwende aufbrandenden Theoriewelle, die unter den Namen der 'Postcolonial' und der 'Identity Studies' die Verteidigung kultureller Minderheiten auf ihr Banner geschrieben hatte, steigerte sich die Verknüpfung von Logozentrismus und Phallus zu einem auch ethnisch diskriminierenden Stereotyp."
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Europa

In der Financial Times erinnert sich Simon Kuper an seine Zeit in Oxford in den achtziger Jahren, als Boris Johnson, Michael Gove und Jeremy Hunt die großen Zampanos in jenem Debattierclub waren, der verlässlich die britischen Premierminister hervorbringt: "Die meisten Mitglieder der Union waren nicht besondern an politischen Linien interessiert. Jeder, der eine bestimmte Politik durchsetzen wollte, die sich auf das studentische Leben auswirkte, engagierte sich in der eigenständigen Oxford University Student Union oder im Common Room seines Colleges (JCR). Das zog meistens Labour-Anhänger an. Dave Miliband leitete das Wohnungskomitee, während Yvette Cooper, Eddie Balls und Ed Miliband JCR-Präsidenten waren. Die Union dagegen setzte auf Debattentalent und Ehrgeiz ohne Anliegen. Alle acht Wochen wählte die Union einen neue Vorsitzende, Sekretäre und Schatzmeister. Die Hacks, wie Studentenpolitiker genannt wurden, zogen durch die Colleges und organisierten sich Stimmen von den einfachen Studenten."

Aber was, wenn Boris Johnson gar nicht der Chauvinist, der Demagoge, der Populist wäre, zum dem ihn deutsche Kommentatoren einhellig stilisieren? In der taz ist Dominic Johnson von der Hochnäsigkeit und dem Schematismus genervt, mit dem deutsche Kommentatoren den britischen Tory-Politiker abqualifizieren: "Ein Trump am Ärmelkanal - der linksliberale Konsens, der die EU grundsätzlich für die Quelle alles Guten in Europa erklärt, hat sein Urteil längst gefällt, und da kann Johnson nichts machen. Man baut ein Zerrbild von ihm auf, und wenn er dem Klischee nicht entspricht, weil es nicht stimmt, nennt man ihn einen Opportunisten. Man muss Boris Johnson nicht für den bestmöglichen Premierminister Großbritanniens halten, um diese Art von Oberflächlichkeit und Vorurteil als Bankrotterklärung der europäischen Öffentlichkeit zu erkennen."

Ähnlich sieht das Jochen Buchsteiner in der FAZ: "Aus Sicht Brüssels und auch vieler Briten haben die politischen Entwicklungen und die unerfreulichen Verhandlungen illustriert, dass ein Abschied von der Europäischen Union in Tumult und Scheitern enden muss."

In der FAZ bemerkt Bülent Mumay, das sich Präsident Recep Tayyip Erdogan im Istanbuler Wahlkampf ungewohnt zurückhaltend gebärdet: "Früher hatte Erdogan getönt: 'Wer Istanbul verliert, verliert auch die Türkei', er hätte den Fortbestand des Staates mit den Kommunalwahlen verknüpft, vor der Neuwahl an diesem Sonntag dagegen erklärte er: 'Wir stehen vor der Wiederholung einer Bürgermeisterwahl in Istanbul. Es geht lediglich um den Bürgermeisterposten, um einen vordergründigen Wechsel also.' Auf Erdogans bislang veröffentlichtem offiziellen Programm findet sich keine einzige Wahlkampfkundgebung in Istanbul."

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Internet

Wir werden uns noch nach den Zeiten zurücksehen, in denen uns Facebook nur unsere Privatsphäre und unsere Wahlkämpfe kaperte, unkt Evgeny Morozov im Guardian - wenn es nämlich das globale Finanzsystem zerschlagen hat: "Dafür hat Facebook sein Libra angekündigt, eine Währung, eine Infrastruktur, ein Netzwerk - eine ehrgeizige digitale Einheit, die alles für alle sein kann, und unter der noblen Domain .org daherkommt. Es ist die Schrödingers Katze der digitalen Ökonomie: Blockchain/Nicht-Blockchain, es wird als Geld/Nicht-Geld Facebook/uns retten/begraben. Wie dieses amorphe Projekt im Einzelnen aussehen soll, ist noch nicht raus, aber man spürt den allumfassenden Ehrgeiz. Mit ihm können Nutzer, die unglücklicherweise kein Bankkonto, aber glücklicherweise einen Facebook-Account haben, echtes Geld in Libra umtauschen, virtuell sparen oder an andere verschicken oder einfach mit ihm bezahlen. Facebook ummäntelt dieses Unternehmen als humanitäre Aktion. Libra soll natürlich der Welt helfen, Bankgeschäfte zu erledigen, und ihr nicht die verbleibenden Guthaben abknöpfen."
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Medien

In der NZZ hält Rainer Stadler Native Ads oder Content Marketing, bei dem Werbung in Form journalistischer Inhalte daherkommt, für einen Rohrkrepierer, mit dem Medien nur ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzten.
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Kulturpolitik

Der Welfenschatz wird jetzt vor einem amerikanischn Gericht verhandelt werden, berichterstattet Patrick Bahners in der FAZ. Dafür haben die Erben des Händlerkonsortiums, von denen der deutsche Staat einst die Goldschmiedearbeiten aus dem Braunschweiger Dom erwarb, den Kauf als Vorbereitung zum Völkermord deklariert: "Wollte der preußische Ministerpräsident Hermann Göring, indem er dem Konsortium die 42 Werke abkaufte, für die es seit 1929 vergeblich Käufer auf dem Weltmarkt gesucht hatte, die Lebensgrundlage der jüdischen Kunsthändler zerstören? Indem die Bevollmächtigten der Kaufinteressenten versuchten, die Verkäufer herunterzuhandeln, hätten sie nach dieser Konstruktion dasselbe getan wie General Lothar von Trotha, der 1904 das Volk der Herero in eine wasserlose Wüste treiben ließ. Dem Drücken des Kaufpreises war allerdings eine objektive Grenze gezogen: Der Welfenschatz befand sich in einem Banksafe in Amsterdam."

Alex Rühle singt in der SZ Münchens scheidendem Kulturreferenten Hans-Georg Küppers eine Eloge: "Nun kann so Ermöglicher-Zeug erst einmal jeder sagen. Der Witz ist: Küppers hat anscheinend zwölf Jahre lang genau das gemacht: zugehört, ermutigt, Überzeugungsarbeit geleistet. Es muss im ganzen Kulturreferat ausnahmslos runde Tische geben, so reibungslos ging dort das meiste vonstatten."

Felix Stephan berichtet ebenfalls in der SZ vom Kultursymposium Weimar, das sich der Verteidigung der Kunstfreiheit in Zeiten des Demokratiezerfalls widmete. Der amerikanische Judaist David N. Myers verteidigt in der FAZ seinen Kollegen Peter Schäfer, der nach politischem Druck als Direktor des Jüdischen Museums Berlin zurücktreten.

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Gesellschaft

Was nützt es Joghurtbecher zu recyceln wenn schon bald die Sandstürme über uns hinwegfegen werden?, fragt Philip Bovermann in der SZ und empfiehlt als Antwort auf die "drohende Klimakatstrophe" etwas kokett mehr Melancholie. "Unsere Welt - die Art, wie wir Menschen in westlichen Industrieländern leben - ist verloren. Es ist Zeit, sich von ihr zu verabschieden. Auch vom Röhren der Sechszylinder. Vom Brutzeln der Steaks. Was sollen wir tun? Zunächst einmal aufhören, so heillos produktiv zu sein. Und uns das alles mal grundsätzlich durch den Kopf gehen lassen. Notfalls in trostlose Untätigkeit verfallen."

Im taz-Interview mit Doris Akrap blickt die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen auf ihre Arbeit zurück und auf all die Entwicklungsromane, die sich vor Gericht entfalten: "Was mich immer fasziniert hat: Das Recht ist ein scheinbar starres Gebilde aus Paragrafen, Regeln und geregelten Ausnahmen. Und dann erleben Sie die Geschichten der Angeklagten, Zeugen und Opfer und denken: Dafür kann es doch gar keinen Paragrafen geben. Aber das Recht ist in der Lage, das alles so zu sezieren und zu analysieren, dass am Ende meist ein Urteil ergeht, das gar nicht so verkehrt ist."
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Stichwörter: Melancholie

Politik

In der taz fragen sich Sebastian Erb, Konrad Litschko und Christina Schmidt, warum die CDU eigentlich so verhalten auf die Ermordung ihres Parteifreundes Walter Lübcke reagiert: "Vielleicht ist es der Schock darüber, dass einer der Ihren erschossen wurde. Vielleicht ist es auch die Befürchtung, den Tod eines Parteifreundes politisch auszuschlachten. Aus dem Konrad-Adenauer-Haus bekommt man zu hören: Man solle Verständnis haben, es arbeiteten ja schließlich Menschen dort und keine Roboter. Zumal Lübcke ja nicht der Einzige gewesen sei, der sich so geäußert habe, positiv Flüchtlingen gegenüber. Spielt also auch Angst eine Rolle? Die taz hat versucht, mit CDU-Politikern über die Sache ins Gespräch zu kommen. Nicht nur die Parteiführung sagt ab, sondern auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und sein Vorgänger Norbert Lammert, der jetzt die Konrad-Adenauer-Stiftung leitet. Manche Politiker schicken kurze Statements."
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