9punkt - Die Debattenrundschau

Als der Ottomotor erfunden wurde

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.08.2019. In der NYRB erzählt der iranische Dissident Kian Tajbakhsh, wie er von der Illusion geheilt wurde, die Islamische Republik lasse sich reformieren. Masih Alinejad berichtet auf Twitter, dass Frauen im Iran zu Gefängnis verurteilt wurden, weil sie sich auf Twitter ohne Kopftuch zeigten. In der Zeit verteidigt Andrea Böhm das Kopftuch gegen Alice Schwarzer. Und die Soziologin Sabine Hark verteidigt die Identitätstpolitik: Wichtig ist, wer spricht. Im übrigen herrscht in der Zeit die Apokalypse. Die taz erzählt, warum es vom Warschauer Aufstand keine Fotos gibt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.08.2019 finden Sie hier

Politik

Eric Randolph lässt sich für die NYRB die Geschichte des iranischen Dissidenten Kian Tajbakhsh erzählen: Kian hatte den Iran mit seinen Eltern vor der Revolution verlassen, da war er acht. Er wurde britischer und amerikanischer Staatsbürger. In den Neunzigern ging er für das Soros Institut in den Iran zurück, weil er hoffte, dort die Demokratiebewegung unterstützen zu können. Er landete bald für mehrere Jahre im Evin-Gefängnis. 2009, als Khatamis Reformprojekt endgültig gescheitert war, wurde er mit vielen Freunden wieder eingebuchtet. Inzwischen hatte er gelernt, wie naiv er und die Reformisten gewesen waren: "Sie konnten ihre lang gehegte Hoffnung auf die Islamische Republik nicht aufgeben. Sie waren immer noch der Meinung, dass diese mit einer westlichen Vorstellung von Menschenrechten und Demokratie vereinbar sein könnte. Die Reformisten stellten sich ein System mit freien Wahlen und einer freien Zivilgesellschaft vor, wobei die Religion dennoch vollständig mit der Politik verflochten sein sollte. Ihr Wunsch nach Reformen wurde von einer Mischung aus Schuld und Erlösungswunsch getrieben: Sie gehörten oft zu den Radikalsten in den Anfängen der Revolution - 'schlimmer als die Taliban', wie man es ausdrückte - und sie mussten glauben, dass sich all diese Bemühungen gelohnt hatten."

Arabische Restaurants in Peking müssen Halal-Zeichen und arabische Schrift von ihren Ladenschildern entfernen, berichtet Huizhong Wu bei Reuters: "Die Kampagne gegen arabische Schrift und islamische Bilder läutet eine neue Phase in einer Kampagne ein, die sei 2016 alle Religionen der chinesischen Mainstream-Kultur anpassen will. Die Kampagne schließt etwa ein, dass Kuppeln im nahöstlichen Stil auf vielen Moscheen entfernt und durch Pagoden nach chinesischer Art ersetzt wurden."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel fordert Stephan-Andreas Casdorff "Empörung" über Verurteilung des Dissidenten und Menschenrechtlers Huang Qi, der von einem chinesischen Gericht zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er auf seiner Website über "Korruption und die eklatant schlechte Menschenrechtslage in China" berichtete.
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Gesellschaft

In der Zeit antwortet Andrea Böhm, bis 2018 Zeit-Korrespondentin im Nahen Osten, auf Alice Schwarzer, die vergangene Woche  an gleicher Stelle das Kopftuch als Symbol des Islamismus verurteilte (Unsere Resümees). Böhm wirft Schwarzer einen "Rundumschlag" und "Verständnishascherei für die Ausbreitung von Rassismus". Sie rät mit betroffenen Frauen zu sprechen: "Wenn ich in meinen Jahren in Nahost eines begriffen habe, dann, dass der Hidschab alles Mögliche sein kann: Symbol einer Islamisierung; Distanzierung vom westlichen Kommerz-Kult um einen sexualisierten weiblichen Körper; Gehorsam gegenüber einem konservativen Elternhaus; taktisches Zugeständnis, um sich in einer aggressiv frauenfeindlichen Öffentlichkeit freier bewegen zu können. Oder Symbol der Wut auf das eigene, vermeintlich säkulare Regime, das seine Repression als 'Kampf gegen den Islamismus' verkauft."

Kein Kopftuch
kann auch ein Symbol sein, zum Beispiel für eine Freiheit, die nicht zugelassen wird. Gestern brachten wir die Meldung, dass die iranischen Behörden Frauen mit Gefängnis bedrohen, die Videos von sich ohne Kopftuch an Masih Alinejads Twitter-Aktion #mystealthyfreedom senden. Die Behörden meinen es ernst:

Auf Zeit Online rät die Soziologin Sabine Hark indes Mariam Lau und anderen KritikerInnen der Identitätspolitik (Unsere Resümees), lieber solange zu schweigen, bis alle Minoritäten ihre Stimme gefunden haben: "Weil wir uns erzählen müssen, geht es um den Zugang zum Erzählen, darum, wer definiert und wer definiert wird. Denn ja: Wichtig ist nicht nur, was gesagt wird, sondern auch, wer spricht. Tun historisch marginalisierte Gruppen nun genau das, sich nämlich selbst als Subjekte neu zu erzählen, intervenieren sie in eben dieses Gefüge der Macht. Sie sprechen zurück, verlangen, dass die Welt auch einmal durch ihre Augen gesehen wird."
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Ideen

Es ist gefährlich, Endzeittheorien als eine Art anthropologische Konstante zu sehen und dann abzuwinken, schreibt Johannes Schneider bei Zeit online. Ja, "die Menschheit hat sich zu allen Zeiten gern mit ihrem Ende befasst. Deshalb bemerkt sie nicht, dass es jetzt so weit ist." Der Grund ist für Schneider, dass sich das Ende nicht so anfühlt: "Die Apokalypse geschieht ja längst, wir bemerken es nur nicht, indem wir auf ihre äußere Manifestation in Form eines besonders grauenhaften Ereignisses warten. Sie ist passiert, als der Ottomotor erfunden wurde, sie ist mit der Wachstumslogik in die Welt gekommen, sie verbirgt sich im angereicherten Uran auf diesem Planeten." Äh, ist das Uran jetzt auch für die Klimakrise zuständig, oder sagt Schneider außerdem einen Atomkrieg an?

Welt-Autor Philip Cassier versucht, die Idee des Liberalismus vom Konservatismus und der Linken abzugrenzen: "Mögen Konservative aktuelle Ereignisse nur für die Schaumkronen des ewig wogenden historischen Meeres halten, in die Zeit hineinhorchen und ein paar ewige Wahrheiten in den Lauf der Dinge zurückraunen, mögen Linke so lange rhetorische Akrobatik vorführen, bis jede Tatsache auf dem Papier zum Plan passt - der Liberale fragt sich, was er heute tun kann, damit der dünne Lack der Zivilisation bis morgen hält, und morgen wird man weitersehen."
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Geschichte

Vor 75 Jahren schlugen die Deutschen den Warschauer Aufstand nieder - sie brachten dabei in einem gigantischen Massaker Zehntausende Warschauer Bürger um. Gabriele Lesser erzählt in der taz von einer deutsch-polnischen Ausstellung mit Fotos beider Seiten vom Warschauer Aufstand. Aber das Grauen ist nicht zu sehen: "Auch von den Leichenbergen, von denen Zeitzeugen berichteten, existieren heute keine Bilder. Die Deutschen wie auch ihre willigen Kollaborateure wollten ihr Verbrechen nicht dokumentieren, während die Fotografen der polnischen Aufstandspresse den Warschauern nicht zeigen wollten, was ihnen für ein Schicksal drohen könnte." In Polen berührt die Ausstellung so empfindliche Fragen, so Lesser, dass sie dort noch gar nicht gezeigt wurde. Mehr zur Ausstellung hier.

Kritik an der polnischen PiS-Regierung muss dennoch möglich sein, schreibt Daniel Brössler in der SZ, kann aber auch die polnische Reparationsforderungen verstehen: "Sie mögen rechtlich nicht haltbar sein, historisch aber sind sie verständlich. Die Bundesregierung sollte nach Wegen suchen, mit der doppelten Schuld umzugehen - dem polnischen Gefühl also, dass Deutschland sich auch materiell der Verantwortung für die Verbrechen der Nazis bislang nicht in einer angemessenen Weise gestellt hat. Dies wird sich nicht in Reparationszahlungen niederschlagen, könnte aber durch symbolstarke Projekte wie den Wiederaufbau des Sächsischen Palais geschehen."

Dass das Ende der Weimarer Republik nicht zwingend war, lernt Jens Bisky in der SZ im Haus der Weimarer Republik in Weimar, wo diese Woche die neue Dauerausstellung eröffnet wurde: "Mitarbeiter des preußischen Innenministeriums hatten seit Längerem Material über das Treiben der Hitler-Anhänger gesammelt und in einer Denkschrift nachgewiesen, dass die NSDAP eine kriminelle, terroristische Vereinigung war. Schon im Sommer 1930 überreichten sie ihre Denkschrift dem Ministerpräsidenten Otto Braun, der sie der Reichsregierung übergab und bat, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen. Es geschah nichts. Einer der Autoren hieß Robert Kempner. 1945 war er stellvertretender Hauptankläger der Vereinigten Staaten beim Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg."

Weitere Artikel: In der Zeit erinnert der Historiker Achatz von Müller daran, wie die Hohenzollern unter Wilhelm I. das Königreich Hannover unter Leitung des blinden Monarchen Georg V. selbst enteigneten, nachdem dieser aus Abneigung gegen seinen Vetter Wilhelm das Bündnis gegen Österreich abgelehnt hatte.
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Medien

Die Berliner Zeitung bringt ein Pro & Contra zur Frage, ob die Nationalität eines Täters in der Berichterstattung genannt werden sollte. Nein, meint Tanja Brandes, denn: "Es werden niedere Instinkte bedient, mehr nicht." Ja, sagt indes Maritta Adam-Tkalec: "Die Herkunft der Verdächtigen gehört dazu: Wo wurden sie wie sozialisiert, welche Vorstellungen leiten sie, wie sind sie in welche Umstände geraten?"
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Europa

Für die Zeit unterhält sich Caterina Lobenstein mit dem Anwalt Omer Shatz, der Angela Merkel und andere Granden aus der EU in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagt. Der Vorwurf ist, dass die EU-Politik die Flüchtlinge im Mittelmeer wissentlich ertrinken lassen oder sie in die Arme von Sklavenhändlern treiben. "Im Auftrag der EU fangen sie Migranten ab und bringen sie nach Libyen zurück. Die EU schaut dabei zu, und zwar wortwörtlich. Es gibt ein Video vom November 2017. Man sieht darauf, wie die Libyer versuchen, ein Schiff der Organisation Sea-Watch bei der Rettung von Migranten zu stören. Dabei sterben rund zwanzig Menschen, vor den Augen der EU-Vertreter, die ebenfalls vor Ort sind. Wie in einem Theaterstück stehen sie am Rande der Szenerie: ein französisches Marineschiff, ein portugiesischer Helikopter, ein italienisches Schiff."
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