9punkt - Die Debattenrundschau

Die Krone ist noch hohler geworden

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.09.2019. Ein Abgeordneter, der sich umsetzt, und ein Rees-Mogg, der sich schlafen legt. Der gestrige Tag im britischen Unterhaus wird in Erinnerung bleiben. Ist Boris Johnson ein "Clownprinz"? Emma trägt einen Aspekt zu den Wahlen in Sachsen und Brandenburg bei: Hätten nur Männer gewählt, wäre die AfD die stärkste Partei. In der FR graut es dem israelischen Schriftsteller Sami Berdugo vor der sanften Diktatur des Populismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.09.2019 finden Sie hier

Europa

Man kann es ja nicht anders sagen: Britische Abgeordnete reiten sich in den Abgrund, aber dabei argumentieren sie brillant. Auch die Presse läuft nach dem gestrigen Abstimmungsdesaster für Boris Johnson in einem Parlament, das ihm die verordnete Zwangsgpause nicht verzieh, mit Abgeordneten, die ihn offen der Lüge bezichtigten, zu großer Form auf. Bei Spiegel online wird schon auf Reaktionen verlinkt. Eine davon ist John Crazes satirisches Resümee des gestrigen Dramas im Guardian, in dem Johnson als "Clownprinz" auftritt: "'Wir sind kurz davor, die Kontrolle wieder zu übernehmen', begann Johnson. Gerade als sich der Abgeordnete Phillip Lee von den Tory-Bänken erhob und den Flur überquerte, um sich den Lib Dems anzuschließen. In diesem Moment hatten die Tories ihre Mehrheit verloren. Die neue Kontrolle sah nun eher danach aus, als sei sie vollständig verloren. Die Krone ist noch hohler geworden."

Hier der im Fernsehen immer wieder gezeigte Moment, als Boris Johnson seine Mehrheit  verlor:


In Erinnerung bleiben wird auch dieses Bild:


Aditya Chakrabortty skizziert unterdessen ebenfalls im Guardian die eher taube Stimmung in der britischen Öffentlichkeit: "Die Proteste im Land sind nicht besonders stark. Jenseits der Tastenkrieger in den sozialen Medien ist die Stimmung nicht sehr erregt. Ein Freund schickte mir neulich eine SMS aus einem Bus in Bristol, wo zwei Mitreisende, 'Damen um die Siebzig', auf einen Protestmarsch gegen Johnsons Coup herabblickten und den Fahrer laut anwiesen, sie zu überfahren. Gestern, während sich die Medien auf dem College Green vor dem House of Parliament tummelten, postete ein andere Freund auf Twitter aus dem Wartezimmer eines Zahnarztes: 'Drei Torys streiten über den Brexit im BBC News Channel. Keiner guckt hin.'" Und in seinem Editorial spricht der Guardian aus, wie die Geschichte auch ausgehen könnte: "Boris Johnson - split party, divide country, win election."

David M. Herszenhorn und Jacopo Barigazzi berichten für politico.eu aus Brüssel, wo man sich zum Londoner Tumult auffällig still verhält. Man sei offen für neue Vorschläge: "Aber man besteht noch mehr darauf, dass man nicht mit der Wimper zucken werde, falls Premierminister Boris Johnson die EU zwinge, entweder die 'Backstop'-Klausel für Irland zu kippen oder den ökonomischen Schaden eines No-Deal-Szenarios zu verkraften."

Außerdem zeichnet Gina Thomas in der FAZ ein Porträt des klassisch gebildeten Hasardeurs Boris Johnson.

Emma trägt noch einen interessanten Aspekt zu den Wahlanalysen in Sachsen und Brandenburg bei: Hätten nur Männer gewählt, wäre die AfD die stärkste Partei: "In beiden doch recht unterschiedlichen Bundesländern zeigt sich der gleiche Trend. Frauen wählten mehrheitlich die bisherigen Volksparteien: in Sachsen zu 35 Prozent die CDU (Männer 29 Prozent) und in Brandenburg zu 28 Prozent die SPD (Männer 24 Prozent). Männer wählten in beiden Bundesländern allen voran die AfD: in Sachsen 33 Prozent (Frauen 22 Prozent) und in Brandenburg 29 Prozent (Frauen 18 Prozent). Damit setzt sich der seit Jahrzehnten zu beobachtende Trend fort, dass Männer stärker rechts wählen als Frauen. Bei diesen Wahlen allerdings ist die Schere breiter geworden. In beiden Ländern haben 11 Prozent mehr Männer als Frauen die AfD gewählt."

Auf Zeit online ist Mely Kiyak immer noch übel vom Umgang der Öffentlich-Rechtlichen mit der AfD am Wahlabend. Man stelle sich vor: AfD-Mann Jörg Meuthen behauptete unverfroren, in seiner Partei gebe es keine extremistischen Positionen.  "Jetzt holt [die stellvertretende Chefredakteurin des ZDF Bettina] Schausten ihr (einziges) Ass aus dem Ärmel und 'hakt' nach: 'Bei Kalbitz würde man die - glaube ich - finden.' Das 'glaube ich' der Schausten ist so jämmerlich, so erschütternd, so abgrundtief abstoßend, dass man wirklich endlich versteht: Mit dieser Art des Umgangs mit Neonazismus sind die Demokraten dieses Landes verloren."
Archiv: Europa

Geschichte

Auf Zeit online erzählt die gebürtige Magdeburgerin Annett Gröschner, wie überrascht sie war, ausgerechnet bei einer Veranstaltung im weißrussischen Minsk zum ersten Mal von der europäischen Bedeutung des Magdeburger Rechts zu hören (die gerade auch durch eine Ausstellung gewürdigt wird). "Das Magdeburger Recht hatte sich gegen Ende des 12. Jahrhunderts aus einem Markt- und Kaufmannsrecht entwickelt und gilt als Baustein des modernen Europas, weil es die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtsordnungen entscheidend mitgeprägt hat. Sein Erfolg lag auch daran, dass es nicht festgeschrieben war. Es gab nicht - wie heute üblich - eine konkrete Kodifikation, sondern war ein 'im Einzelfall sehr variables Konglomerat von Normen und Rechtsvorstellungen'. ... Mit den Stadtgründungen verbreitete es sich bis weit nach Osteuropa. Rund 1.000 Städte wandten es an, darunter Breslau, Krakau, Vilnius, Buda und Kiew. Westlichster Ort war Quedlinburg im Harz, östlichster Charkiw in der Ukraine."
Archiv: Geschichte

Ideen

Der israelische Schriftsteller Sami Berdugo misstraut zutiefst allen Versuchen, die Grenze zwischen Politikern und Volk zu verwischen. "Der Ministerpräsident trinkt Bier aus der Flasche, twittert, tritt gegen einen Fußball und füttert einen Hund. Er spielt die Rolle des 'einfachen Mannes' und weiß mit großer Bauernschläue, dass das Volk die 'Figur' und den 'Bund' zwischen ihm und seinen Untergebenen erkennt und begreift", schreibt er in der FR. "Und genau hier, in dieser fiktiven Kongruenz zwischen Herrschendem und Beherrschten, beginnt der zynische Missbrauch des Instruments Populismus, das so fatal und schrecklich wirkt, weil es nicht einmal der Demagogie bedarf. ... Der Einzelne erkennt schon keine Autorität mehr an, die seine Äußerungen oder Ansichten in Zweifel zieht oder gar sein Verhalten. Denn genauso halten es ja auch die Vertreter der Macht. Die Ironie liegt darin, dass wir meinen, genauso funktioniere Demokratie, ein Vorwand für alle, und dass wir uns in einer Zeit reinster Aufgeklärtheit befänden. Aber so ist es nicht, denn wenn die Herrschaft verschlagen agiert und die eigenen Bürger missbräuchlich blendet, vollzieht sich eine 'sanfte Diktatur', die man weder sieht noch hört."

Welt-Autor Thomas Schmid vergleicht die "Fridays-For-Future-" und die 68er-Bewegung, die in ihrer Unbedingheit einiges gemein hätten. Aber während die 68er den Begriff der Gesellschaft geradezu vergötterten, werde der FFF-Bewegung "ihr mangelndes Gespür für Gesellschaft schaden. Ihre Vorstellung, man müsse nur die richtigen Hebel umlegen oder auf die richtigen Bremsen treten, hat etwas Vormodernes. Es gibt keinen archimedischen Punkt der Weltenrettung. Moderne Gesellschaften schaffen einen eisernen Zwang zur Kontinuität. Wirkliche Brüche wären gefährlich, weil niemand ihre Folgen absehen könnte."
Archiv: Ideen

Medien

Netzpolitik hatte am Wochenende ein Strategiepapier der VG Media veröffentlicht, in dem es unter anderem hieß, man wolle mit einer Anzeigenkampagne Politiker beeinflussen, sich besser gegen die "Digitalmonopolisten" zu stellen und im Interesse der Medienindustrien zu handeln (unser Resümee). Für dieses Papier entschuldigt sich die VG Media jetzt auf ihrer Website: "Der VG Media lag und liegt es fern, Entscheidungen von Rechtspolitikern, Beamten und Richtern zu beeinflussen, ob unmittelbar oder mittelbar. Selbstverständlich möchte die VG Media, dass die genannten Gruppen und Behörden ihre Entscheidungen und Urteile neutral und unabhängig, auf einer gut informierten Grundlage des Wissens, treffen."

Markus Beckedahl kommentiert bei Netzpolitik: "Komisch, ich dachte bisher, eine der Aufgaben der Verwertungsgesellschaft Media sei es, die Interessen ihrer eigenen Mitglieder gegenüber der Politik zu vertreten. Aber auf einmal liegt es ihr fern, genau das zu tun? Zu den Taktiken gehört vor allem eine Verschleierung der eigenen Interessen, indem das primäre Kampagnen-Ziel 'Einfluss auf Rechtsprechung und Gesetzgebung im Rahmen der Urheberrechtsdebatte' vermeintlich hinter anderen Regulierungsforderungen versteckt werden soll."
Archiv: Medien

Politik

Angela Merkel reist nach China, begleitet wie stets von einer großen Wirtschaftsdelegation. Felix Lee stellt in der taz die fälligen Fragen: "Wird sie die Ereignisse in Hongkong überhaupt ansprechen? Oder ist der Bundesregierung Hongkongs Demokratie dann doch nicht wichtig genug, die wirtschaftlichen Beziehungen aufs Spiel zu setzen? Schließlich ist China inzwischen Deutschlands wichtigster Handelspartner."

Mit dem Rückzug der Amerikaner aus Afghanistan gewinnen die Taliban wieder mehr und mehr Fuß. Eine Katastrophe für die Frauen und Mädchen im Land, meint die Wirtschaftswissenschaftlerin Soman Sadat im Interview mit Spiegel online: "Am Mittwoch wurde in Faryab der Bezirk Qurghan eingenommen. Dort befindet sich eines unserer Frauenzentren. Wir lehren Frauen zwischen 17 und 30 Jahren das Lesen und Schreiben, Nähen und Sticken, damit sie etwas Geld verdienen und nicht bei ihren Vätern und Ehemännern betteln müssen und wie Sklavinnen behandelt werden. ... Jetzt sind die Taliban überall. Sie haben das Sagen. Schon im Dezember 2018 hatten sie erstmals die Bezirke Qaramqul und Qurghan angegriffen und die Dörfer im Bezik Andkhoi. Unsere Förderkurse an Schulen in Qaramqul sind schon seit einem Jahr geschlossen."
Archiv: Politik