9punkt - Die Debattenrundschau

Ungenutztes Dokument

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.09.2019. Mit Furcht und Entsetzen blickt der Guardian-Kolumnist Paul Mason auf die Normalisierung des Chaos  in der britischen Politik zurück. In Deutschland wird zu wenig gestraft, findet der Politologe Yascha Mounk in der Zeit. Hätte sich Deutschland 1989 eine Verfassung gegeben, wäre der Rechtsnationalismus in den Neuen Ländern heute nicht so stark, meint der Bürgerrechtler Werner Schulz in der Welt. Wissenschaftlicher Konsens kann kräftig danebenliegen, mahnen die Salonkolumnisten. In der FAZ warnen Heiko Heinisch und Nina Scholz vor dem "legalistischen" Islamismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.09.2019 finden Sie hier

Europa

Wenn heute der Rechtsnationalismus so stark ist, dann hat das auch damit zu tun, dass sich Deutschland nach der Wende nicht mit einer Volksabstimmung eine neue Verfassung gegeben hat, meint in der Welt der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz. So "fehlt dem vereinten Deutschland, der Berliner Republik, eine Gründungslegende. Es wäre der Mühe wert gewesen, das Grundgesetz zu überarbeiten und mit Anregungen aus dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches anzureichern. So aber ist das Vermächtnis der Friedlichen Revolution als ungenutztes Dokument ins deutsche Narrativ eingegangen. Seine Umsetzung hätte gezeigt, dass 'die Menschenausdenfünfneuenbundesländern' - ein unbeholfener Begriff, der so klingt, als sei man plötzlich einer verloren geglaubten deutschen Minderheit begegnet - nicht mit leeren Händen in die Einheit kamen. Es hätte ihr Selbstbewusstsein gestärkt."

Rechtsextremismus ist für die Fundamente unserer Gesellschaft derzeit gefährlicher als der Dschihadismus, erklärt im Interview mit der Zeit Thüringens neuer Verfassungsschutzchef Stephan Kramer. Zumal sich die Grenzen zwischen rechts und rechtsextrem verflüssigen: "Nehmen Sie zum Beispiel auch die Identitäre Bewegung, deren Vertreter sich selbst als eine Art rechte Greenpeacer inszenieren und so tun, als wären sie nur ein bisschen provokativ, radikal und intellektuell unterwegs. Gleichzeitig stellen die Behörden immer mehr Sachbeschädigungen und andere Delikte fest. Die Identitären werden wahrscheinlich nicht mit dem Baseballschläger durch die Gegend laufen, jedenfalls noch nicht. Dafür hat man andere Gruppierungen und Bruderschaften, bei denen der Baseballschläger schnell mal tanzt, da werden schon mal Leute, auch Journalisten, krankenhausreif geprügelt. Beziehungen und personelle Überschneidungen zu rechtsextremen Parteien sind ganz offen erkennbar, und gerade was etwa NPD und beispielsweise den 'III. Weg' angeht: Da gibt es keine Abgrenzung zwischen Rechts und Rechtsextrem."

Mit Furcht und Entsetzen blickt Paul Mason im Guardian auf jenen Prozess zurück, der das Chaos in der britischen Politik normalisierte: "Ich will nicht Paranoia predigen, aber versuchen Sie einmal dieses Gedankenexperiment: Gäbe es einen einzigen Kopf, der diese Krise koordiniert, was würde er jetzt denken? Erstens dass sich die Brüchigkeit der ungeschriebenen Verfassung erwiesen hat. Wenn das Parlament einmal von Sitzungen abgehalten werden kann, dann wird das auch wieder möglich sein. Zweitens, dass Teile der britischen Medien nicht den Willen haben, den Rechtsstaat und das Verantwortungsprinzip zu verteidigen. Drittens, dass eine Müdigkeit auf die Masse der Leute herabgesunken ist. Sie waren des Brexit schon überdrüssig und können nun die Schlagzeilen über die Verfassungskrise, die kein Ende zu nehmen scheint, nicht mehr hören."
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Medien

Nun greift auch die taz in die Diskussion um die kaum gehörten Kultursender der Öffentlich-Rechtlichen ein. René Martens liest die Papiere der Gewaltigen dazu, die von "Strategieprozessen" und "Durchhörbarkeit" träumen und positioniert sich dann wie erwartet: "Die Sache ist komplex: Sowohl HR2 Kultur als auch rbbKultur sind durchaus reformbedürftig, denn sie fühlen sich eher einem alten Kulturbegriff verpflichtet. Das führt dann zu recht skurrilen Konstellationen. Die tendenziell kulturkonservative FAZ macht mobil für den Erhalt von HR2 Kultur in den bisherigen Form - obwohl die Medienseite der FAZ in der Regel ein zentraler Kampfplatz für anti-öffentlich-rechtlichen Kampagnenjournalismus ist."

Außerdem: Im Zeit-Gespräch mit Stephan Lebert und Yassin Musharbash kommt Juan Moreno, ein freier Mitarbeiter des Spiegel, noch einmal auf die Relotius-Affäre zurück, die er vor einem Jahr aufdeckte und die das Selbstbild des deutschen Spitzenjournalismus ankratzte.
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Politik

Der Hongkonger Aktivist Joshua Wong hat in Berlin geredet (unser Resümee). Im Gespräch mit Felix Lee von der taz erklärt Wong, warum er gerade diese Stadt für einen Besuch wählte: "Nach dem Brexit und dem Chaos im Zuge des Handelsstreits zwischen China und den USA hat Peking ein Interesse daran, sich mit Deutschland zu befreunden. Peking gibt sich nicht mehr damit zufrieden, seinen Einfluss auf Hongkong, Taiwan, Tibet, Xinjiang oder den pazifischen Raum auszudehnen, sondern will ihn auch auf Europa ausweiten." Über die massive Einflusspolitik Chinas in Deutschland berichtete neulich The Atlantic (unser Resümee) in einem Artikel, der hierzulande kaum auf Interesse stieß.Welchen Eiertanz die Bundesregierung beim Wong-Besuch vollführte, berichtet Lee auch: "Das Kanzlerinnenamt war der Bitte Wongs für ein Treffen nicht gefolgt. Maas hingegen unterhielt sich mit ihm - was ihm prompt eine formelle Beschwerde des chinesischen Außenministeriums einbrachte." Auch Maas unterhielt sich allerdings nur bei informeller Gelegenheit, einem Empfang der Bild-Zeitung.
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Geschichte

In der NZZ erinnert Ulrich Schmid daran, dass Israel bis heute den osmanischen Genozid an den Armeniern nicht anerkannt hat, trotz erklärter Solidarität mit den Armeniern. Der Grund ist wohl hauptsächlich wirtschaftlicher Natur, vermutet Schmid: "Hinter der Nebelwand der Hasstiraden lassen Israel, die Türkei und Aserbaidschan nämlich verschämt und diskret so manche Blumen blühen, merkantile, diplomatische, kulturelle. In den Neunzigern modernisierte die Türkei ihre Streitkräfte mit israelischen Waffen, Panzern, Jets und Drohnen. Noch augenfälliger sind die israelischen Verbindungen zu Aserbaidschan. Rüstungsgüter im Wert von 4,85 Milliarden Dollar aus Israel habe sein Land importiert, sagt Präsident Alijew. Natürlich ist die Nichtanerkennung des armenischen Genozids auch ein Signal an die gesamte muslimische Welt, mit der Israel solide Handelsbeziehungen unterhält. Die Armenier finden das alles höchst bedauerlich."
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Religion

Es ist falsch, "Islamismus" mit Gewalt zu assoziieren, schreiben die Historiker Heiko Heinisch und Nina Scholz in der FAZ, im Gegenteil: der  "legalistische" Islamismus, der Gewalt nur taktisch in Erwägung zieht, sei in seinem "Marsch durch die Institutionen" mit antidemokratischer Agenda viel effizienter: "Die ersten Schritte des politischen Islams in Europa blieben der Öffentlichkeit weitgehend verborgen. Selbst als in den neunziger Jahren ein islamistisches Gründungsfieber ausbrach, interessierten sich weder Politik noch Medien dafür. Heute verfügt der politische Islam über ein dichtes Netzwerk an Organisationen, Unterorganisationen und Moscheen. Allein das Netzwerk der Muslimbruderschaft besteht nach Schätzungen derzeit aus über zweihundert Organisationen, zahlreichen Bildungseinrichtungen und unzähligen Moscheen in Europa, Tendenz steigend."
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Ideen

Mit Blick auf die Klimakrise erinnern Erwin Jurtschitsch und Ludger Weß  bei den Salonkolumnisten an verflossene wissenschaftliche Gewissheiten, bei denen heute vergessen ist, wie weit der Konsens reichte: "Die wenigsten wissen, dass das 'Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' von 1933 auf einem Entwurf aus den 1920er Jahren beruhte, in den auf Initiative des Gesundheitsexperten der sozialdemokratischen(!) Fraktion im preußischen Parlament die Zwangssterilisation, einschließlich der 'sozialen Indikation', hineingeschrieben worden war. Nichts davon erwies sich später als wissenschaftlich haltbar, aber über Jahrzehnte galt diese Irrlehre als Konsens."

Außerdem: In einem Essay versucht Welt-Autor Thomas Schmid dem fatalen Satz Max Horkheimers "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen", der die Studentenbewegung in ihren hässlicheren Formen prägte, auf die Spur zu kommen.
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Gesellschaft

Deutsche Gerichte sind zu milde, warnt der Politologe Yascha Mounk in der Zeit. Man muss ja nicht gleich so extrem werden wie die USA, wo von 100.000 Menschen 655 im Gefängnis sitzen, aber so streng wie Italien (98 von 100.000) oder Frankreich (104 von 100.000) könnten wir (75 von 100.000) schon werden: "Richter in Deutschland haben unter anderem die Aufgabe, für Respekt gegenüber der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu sorgen. Deshalb müssen sie sich darauf besinnen, dass neben der Vorbeugung von Straftaten auch die Sühne für Verbrechen, die das Zutrauen in eine multiethnische Gesellschaft besonders schwer stören, bei der Strafzumessung eine wichtigere Rolle spielen sollte. Denn es geht bei der Straffindung nicht nur darum, einen Täter von weiteren Delikten abzuhalten - sondern eben auch darum, den Menschen im Lande die Gewissheit zu vermitteln, dass der Staat all jene, die sich den Grundregeln unserer Gesellschaft verweigern, bestrafen wird." Das gilt, so Mounk, für einen Einheimischen, der eine Flüchtlingswohnung anzündet, ebenso wie für einen Flüchtling, der eine Frau vergewaltigt.

Es gibt ja ein paar säkulare Sozialdemokraten, auch wenn sie in der Partei keinen Arbeitskreis bilden dürfen (unsere Resümees). Aber immerhin stellen sie jetzt einige Fragen an all die KandidatInnen für den Parteivorsitz, die bei hpd.de zitiert werden. Punkt 4 und 5: "4. Kirchliche Einrichtungen erhalten für den Unterhalt von Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern … bis zu 100 Prozent staatliche Unterstützung. Werdet Ihr Euch dafür einsetzen, dass sie künftig mit anderen sozialen Einrichtungen, wie zum Beispiel Arbeiterwohlfahrt, Rotes Kreuz gleichgestellt werden? 5. Die Kirchen beanspruchen für sich ein eigenes Arbeitsrecht und halten sich beispielsweise bei Einstellungen und Entlassungen nicht an die allgemeinen Gesetze. Werdet Ihr Euch für die Durchsetzung der staatlichen Gesetze auch in religiösen Einrichtungen einsetzen?"
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