9punkt - Die Debattenrundschau

Rhetorischer Zwischenschritt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.11.2019. Übers Internet wird gern geschimpft. Aber noch gewalttätiger wird's, wenn es abgeschaltet wird, berichtet golem.de aus Anlass der Proteste im Iran. Der Aktivist Roger Hallam von "Extinction Rebellion" fürchtet die Auslöschung durch den Klimawandel. In der Zeit erklärt er, warum der Holocaust, verglichen damit,  nur ein "weiterer Scheiß" ist. Für die Welt spricht Ze'ev Avrahami mit dem Rechtsextremismusexperten Alexander Yendell, der ihm erklärt, warum die verbliebenen Männer in den Neuen Ländern so viel Hass vor sich herschieben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.11.2019 finden Sie hier

Politik



So sieht es aus , wenn in digitalen Zeiten etwas beschwiegen wird. Im Iran finden zur Zeit heftige Proteste gegen eine ebenso heftige Benzinpreiserhöhung statt - in deutschen Medien ist davon kaum etwas zu sehen. Auch vielleicht wegen des Mangels an Bildern, denn das Internet ist im Iran abgeschaltet, berichtet Friedhelm Greis bei golem.de: "Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Netblocks.org befindet sich der Traffic auch 90 Stunden nach Inkrafttreten der Sperre auf einem Niveau von fünf Prozent der üblichen Werte. Einer Einschätzung von Amnesty International zufolge wurden seit Beginn der Proteste wegen der Benzinpolitik von Präsident Hassan Ruhani mehr als hundert Demonstranten in 21 Städten getötet."

Menschenrechtsaktivist Han Dongfang, ein Veteran vom Platz des Himmlischen Friedens, spricht im Interview mit Xifan Yang von der Zeit mit Sympathie und Sorge über die Hongkonger Proteste. Für Xi Jinping sieht er nur zwei Optionen: "erstens einen Einsatz der Armee, der die Krise aber nicht beruhigen würde, im Gegenteil. Eine gewaltsame Niederschlagung des Protests würde kurzfristig Angst erzeugen, aber die Wut und den Widerstandsgeist weiter anfachen. Der Kampf ginge weiter. Nicht nur Hongkong wäre verloren, auch Taiwan. Auf lange Sicht könnte China überall an der Peripherie zerbröckeln: In Tibet, Xinjiang und der Inneren Mongolei würde der Widerstand wachsen. Die zweite Option wäre, Hongkong auf Dauer zu geben, was die Demonstranten verlangen: freie Wahlen."

Im Gespräch mit Zeit Online fordert der Aktivist Joshua Wong zudem mehr internationalen Rückhalt für die Proteste in Hongkong: "Insgesamt sind die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft auf das, was in Hongkong passiert, noch viel zu passiv. Das ist weit von dem entfernt, was sich die Menschen in Hongkong erhofft haben. Die Regierungen lassen sich leider immer noch von Peking einschüchtern. Die EU-Länder sollten Sanktionen gegenüber Peking verhängen. Und die Wirtschaftsbeziehungen mit dem rücksichtslosen Regime in Hongkong überdenken."

Nora Bossong, Autorin des Romans "Schutzzone" (und Unterzeichnerin eines Aufrufs pro Handke, dem vorgeworfen wird, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu beschönigen, mehr hier) beobachtet für die Zeit einen Prozess des Internationalen Gerichtshofs von Den Haag gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher Dominic Ongwen aus Uganda: "Der ICC, gegründet, um eine globale Justiz zu schaffen, scheint zu einer Verurteilungsbank für den afrikanischen Kontinent geworden zu sein. Das aber liegt auch daran, dass Länder wie die USA, Saudi-Arabien, Russland und die Türkei sowie Syrien gar nicht erst das Römische Statut ratifiziert haben. Dadurch entziehen sich etwa alle mutmaßlichen Kriegsverbrechen Assads auf dem eigenen Territorium der Zuständigkeit des ICC. So viel zur Internationalität des Internationalen Strafgerichtshofs."
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Gesellschaft

Eigentlich wollte Hannah Knuth im Wirtschaftsteil der aktuellen Zeit mit Roger Hallam, dem britischen Mitbegründer von Extinction Rebellion, über zivilen Ungehorsam und dessen neues Buch "Common Sense" sprechen. Stattdessen kommt Hallam auf den Holocaust zu sprechen: "Genozide sind in den vergangenen 500 Jahren immer wieder geschehen", relativiert er und fährt fort: "Tatsache ist, dass in unserer Geschichte Millionen von Menschen unter schlimmen Umständen regelmäßig umgebracht worden sind." Der Holocaust sei "nur ein weiterer Scheiß in der Menschheitsgeschichte." (Hier ein Resümee auf Zeit Online.) Extinction Rebellion Germany distanzierte sich per Tweet, Tino Pfaff, ein Sprecher von Extinction Rebellion Germany, plädiert dafür, Hallam aus der Bewegung auszuschließen und auch Ullstein gab am Mittwoch bekannt, dass er Hallams Buch "Common Sense for the 21st Century", das am 26. November in den deutschen Buchhandlungen erscheinen sollte, nicht mehr herausbringen wird, wie der Guardian meldet.

Paul Ingendaay kommentiert Hallams Äußerung in der FAZ: "Der Vorgang ist ein Zeichen für eine Verrohung von Sprache und Denken, die sich salviert wähnen, wenn nur die Ziffern stimmen. In Wahrheit wird die Schoa politisch instrumentalisiert, um die Dringlichkeit der eigenen Mission zu verkaufen, hier: die Verhinderung des Klimatodes der Erde." Warum Hallams Äußerung für Ingendaay "Netzgebrabbel" sein soll, ist allerdings nicht ganz erfindlich: Hallam hat seinen Satz in einer Zeitung gesagt, und er steht nicht mal online.

Jochen Hörisch denkt im Perlentaucher über Gewalt an Sprache, in Sprache und durch Sprache nach - in Gestalt einer auf die Spitze getriebenen Genderisierung einerseits und rechtsextremer Hassdiskurse andererseits: "Beide Tendenzen - die hysterisch und hybrid gewordene Bewegung der political correctness und die diskursive Enthemmung im Zeitalter von Internet und Trump - sind Komplementärphänomene."
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Überwachung

Während in Industriestaaten über Datenschutz im Netz diskutiert wird, leben weltweit Milliarden Menschen ganz ohne Daten - ohne Geburtsurkunde, Adresse oder Bankkonto, schreiben im Tagesspiegel Anna-Marie Slaughter und Yuliya Panfil vom Thinktank New America. Dabei garantieren Daten auch "fundamentale Rechte": "In Indien nutzen Slumbewohner Smartphone-Lokalisierungsdaten, um sich zum ersten Mal auf Stadtplänen zu präsentieren und sich für Adressen zu registrieren, mit denen sie dann Post erhalten und sich für Regierungsausweise registrieren können. In Tansania nutzen die Bürger ihre mobilen Zahlungsverläufe, um ihre Kreditwürdigkeit zu erhöhen und Zugang zu traditionelleren Finanzdienstleistungen zu erhalten. Und in Europa und den Vereinigten Staaten kämpfen Uber-Fahrer für Daten ihres Mitfahrdienstes, um sich für Leistungen vom Arbeitgeber einzusetzen."

Der in Stanford lehrende Psychologe Michael Kosinski hat jene Methode entwickelt, dank der mit nur wenigen Daten umfassende Persönlichkeitsprofile erstellt werden können und die Cambridge Analytica in abgewandelter Form im Wahlkampf für Trump anwendete. Wir müssen unsere Privatsphäre aufgeben, fordert er nun im Gespräch, das er am Rande der NZZ-Finanzmarkttagung Swiss International Finance Forum führte: "Wie viele Menschenleben könnte man retten, wie viele Kinder schützen, wenn man Zugang hätte zu den Suchanfragen auf Google: Wenn dort jemand nach Methoden sucht, um sich umzubringen, oder ein Kind fragt, ob es normal sei, dass es von einem Erwachsenen an den Genitalien angefasst worden sei, dann könnte die Suizid- und Missbrauchsprävention einschreiten. Aber das gäbe natürlich einen riesigen Aufschrei der Datenschützer."

Google hat hat inzwischen mehr Wissen über die Bürger eines Staates als der Staat selbst, glaubt indes Adrian Lobe in der SZ: "Die Frage ist, ob eine Staatsorganisation noch funktional ist, bei der private Akteure mehr Wissen über den Staat und seine Bürger haben als diese über sich selbst. Entsteht hier eine neue geheime 'Policey', wie das in der frühen Neuzeit hieß? Eine Art privater Staat im Staate? Wird der (legitime) Staat bloß noch zu einem leeren Gehäuse? Was wäre, wenn Google Hinweise auf einen Staatsstreich hätte? Wäre das Unternehmen auskunftspflichtig? Inwieweit ist öffentliche Herrschaft unter dem Datenregime noch möglich?" (Selbstverständlich kann beispielsweise die amerikanische Regierung die Herausgabe von Nutzerdaten bei Google verlangen, sogar ohne richterliche Verfügung - zum Beispiel unter dem Patriot Act, schon vergessen?)
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Europa

Für die Welt ist der in Berlin lebende israelische Restaurantbetreiber Ze'ev Avrahami nach Erfurt gereist, wo mehr als jeder vierte bei der thüringischen Landtagswahl die AfD wählte. Auf zwei Feuilletonseiten berichtet er von Treffen mit einem Rabbiner, einem jüdischen Verfassungsschutzpräsidenten, der ans Auswandern denkt und Gesprächen mit Wissenschaftlern, die den Erfolg der AfD zu ergründen versuchen, darunter der Religionssoziologe und Rechtsextremismusexperte Alexander Yendell, der den Wählern mangelndes "Mitgefühl" vorwirft: "'Als die Mauer fiel, sind viele in den Westen abgewandert. Eine Menge Brain Power, hauptsächlich Frauen. Mit dem Ergebnis, dass wir viele ungebildete, vor allem sozial ungebildete Menschen hier haben. Es gibt eine Menge Fremdenfeindlichkeit, Opfergefühle, Rassismus, Autoritätsgläubigkeit. Oft sind ihre kindlichen Bedürfnisse nicht erfüllt worden. Sie wurden dazu erzogen, genau das zu tun, was man ihnen sagt. Ihre Erklärungen sind sehr nachvollziehbar, aber keine davon rechtfertigt ihr Wahlverhalten.' Er bestätigt, dass die Flüchtlingskrise das politische Vakuum geschaffen habe, in dem die AfD entstehen konnte. Aber er meint, dass die Leute, die zur AfD gewechselt sind, schon Rassisten waren, als sie noch traditionelle Parteien wählten."

Im Tagesspiegel analysiert der Politikberater Johannes Hillje ein internes Vorstandspapier der AfD, in dem die Partei skizziert, wie sie in die Mitte der Gesellschaft vordringen und den Diskurs medial nach rechts verschieben will: Sie "will den Korridor der als akzeptabel empfundenen Positionen, also das nach einem amerikanischen Denker benannte 'Overton-Fenster' nach rechts ausweiten. Schießbefehl, Vogelschiss und Klimaleugnung lassen grüßen. Die Verbalradikalisierung ist hierbei nur ein rhetorischer Zwischenschritt, um zu erreichen, dass etwa der Holocaust tatsächlich als weniger prägend für die deutsche Geschichte empfunden wird."

Ali Ertan Toprak, Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde in Deutschland, schreibt in der Zeit über die Lage an der türkischen Grenze, wo Hunderttausende Kurden, die gerade noch den Islamischen Staat bekämpften, von den Türken vertrieben wurden. Er kommt auch auf das Desinteresse der Deutschen daran zu sprechen, erwähnt aber auch, dass er Deutschland dankbar ist, dass er sich hier eindeutig als Kurde bezeichnen kann: "Aus der Türkei brachten meine Eltern ja die bittere Erfahrung mit, dass sich die dort verfeindeten Gruppen, allen voran Kemalisten und Islamisten, gegen eine Volksgruppe stets zu verbünden wussten, die Kurden. Warum? Weil deren eigene alte Kultur der konstruierten nationaltürkischen Identität im Wege stand - wie bei Atatürk so bei Erdoğan."

In der NZZ antwortet Sergei Garmonin, Botschafter der Russischen Föderation in der Schweiz, erbost auf einen Brief, den der Schriftsteller Christoph Brumme an selber Stelle vor zwei Wochen veröffentlichte. (Unser Resümee) Brumme ging dort hart mit den Russen ins Gericht, Garmonin wirft ihm nun "antirussische Klischees" und die Verdrehung historischer Tatsachen vor: Es werde etwa behauptet, "dass das Kuban-Gebiet bis in die zwanziger Jahre hinein zur Ukraine gehörte, was den Tatsachen keineswegs entspricht. Und Smolensk, so heißt es weiter, solle litauisch gewesen sein, was zuletzt im 15. Jahrhundert der Fall war."
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