Efeu - Die Kulturrundschau

In die Herzkammer der Liebe

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15.11.2019. Die Revolution geht weiter, der Arabische Frühling ist noch lange nicht vorbei, ruft der libanesische Theatermacher Rabih Mroué im Interview mit der SZ. Und die Komponistin Chaya Czernowin erzählt, welche Rolle die Liebe in ihrer neuen Oper "Heart Chamber" spielt. Die taz berichtet über eine Debatte zu Künstlicher Intelligenz in der Musik. Epd Film untersucht die Zensurschleuse für chinesische Filme. Zeit online meditiert über den Antisemitismus von Patricia Highsmith. Die FAZ besucht Ausstellungen von Lucia Moholy und László Moholy-Nagy. Die NZZ lernt in Dhaka, wie man eine schwimmende Schule baut. Und Handke.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.11.2019 finden Sie hier

Bühne

"Der Arabische Frühling ist noch lange nicht vorbei", ruft der der libanesische Theatermacher Rabih Mroué, dessen neues Stück "You should have seen me dancing waltz" gerade auf Kampnagel in Hamburg Premiere hatte, im Interview mit der SZ und erklärt, was es mit den seit Wochen andauernden Protesten im Libanon auf sich hat: "Es ist eine Revolution gegen eine Politikerkaste, die in einer Allianz mit den Banken das Land ausplündert. Dagegen demonstrieren auch viele reiche Leute. Denn es geht um den Verfall der gesamten Infrastruktur. Diese Erhebung findet auch nicht nur in der Hauptstadt statt, sondern im ganzen Land. Das eher sunnitische Tripoli im Norden ist das Juwel dieser Revolution. Und der schiitisch geprägte Süden war die größte Überraschung. Dort versucht die Hisbollah sehr rabiat, dass keine andere Stimme aus der Region kommt als ihre eigene. Trotzdem gehen auch dort die Leute tapfer demonstrieren. Das macht Mut."

Szene aus "Heart Chamber". Foto: Michael Trippel


Reinhard J. Brembeck unterhält sich für die SZ mit der Komponistin Chaya Czernowin, deren Oper "Heart Chamber" heute abend an der Deutschen Oper Berlin Premiere hat und die sehr schön über ihre Musik sprechen kann: "Das Stück hat so gut wie keine Handlung, es ist wie schon 'Pnima' eine Seelenreise ins Innerste, hier: in die Herzkammer der Liebe. 'Es geht um den Moment, wo die Liebe offen ist wie unter einem Mikroskop. Den Moment, wo man sich einer anderen Person gegenüber öffnet; nicht (Czernowin wechselt bei diesem ,nicht' unvermittelt ins Laute, Dezidierte) für eine Nacht, sondern für zehn Jahre.' Es sei der Augenblick, von dem man spüre, er könnte dein Leben verändern. 'Das ist überhaupt nicht rational. Es ist sehr körperlich, der Körper muss dabei sein, und der Moment enthält alle Bereiche unserer Person: die Seele, das Hirn, die Gedanken.'"

Weiteres: Katrin Bettina Müller unternimmt für die taz einen kleinen Streifzug durch Tanz- und Theaterstücke auf dem Festival No Limits, das auch Holger Pauler für die neue musikzeitschrift besucht. Besprochen werden ein Marie-Antoinette-Biopic für die Bühne von Niklas Ritter am Vorarlberger Landestheater Bregenz (nachtkritik)
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Film

Der Festival- und Kritikererfolg von Wang Xiaoshuais gestern gestartetem Drama "Bis dann, mein Sohn" (unser Resümee) sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass chinesische Filme immer noch starker Zensur ausgesetzt und auch nicht davor gefeit sind, mitunter noch in allerletzter Sekunde unter vorgeschobenen "technischen Problemen" aus den Programmen namhafter Festivals gezogen zu werden, schreibt Gerhard Midding in einem sehr ausführlichen Artikel für epdFilm. "Die Entscheidungen der staatlichen Zensur in China sind notorisch unwägbar; sie waren immer auch von regionaler Willkür geprägt. Es gibt Konstanten. Bestimmte Themen sind nach wie vor mit einem Tabu belegt" aber "es könnten neue hinzukommen: die Haltung zum renitenten Hongkong oder die Darstellung der enormen Einkommensunterschiede, die seit Dengs Wirtschaftreformen von 1979 längst auch Blüten protzigen Luxus' treiben. ... Das Prozedere der Zensur hat sich verändert. Die Entscheidung über die Freigabe von Drehbüchern dauert nur noch drei Wochen, die Abnahme des fertigen Films kann sich jedoch über unbestimmte Zeit hinziehen. Sie fungiert noch stärker als Druckmittel auf Filmemacher, denn dadurch ist die Zensurschleuse für Festivalbeteiligungen enger geworden."

Weiteres: Wolfgang Hamdorf spricht im Filmdienst mit der nordmazedonischen Regisseurin Teona Strugar Mitevska über ihren Film "Gott existiert, ihr Name ist Petrunya". Die FAZ hat ein Gespräch mit Forest Whitaker online nachgereicht, in dem der Schauspieler über seine Rolle als Gangster Elsworth "Bumpy" Johnson spricht, der als "Godfather of Harlem" in die Kriminalgeschichte New Yorks eingegangen ist und dessen Leben nun eine gleichnamige Serie erzählt.

Besprochen werden James Mangolds Rennfahrer-Film "Le Mans 66" (taz, Tagesspiegel) und der Netflix-Zeichentrickfilm "Klaus" (FAZ).
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Kunst

László Moholy-Nagy, Ohne Titel, Dessau, 1925/1926. Museum Folkwang, Essen


In der FAZ freut sich Georg Imdahl über zwei Ausstellungen zum Werk der Bauhauskünstler und -fotografen Lucia Moholy (im Kölner Museum Ludwig) und László Moholy-Nagy (im Essener Museum Folkwang). Vor allem Lucia Moholy, deren Fotografien lange von Walter Gropius unter Verschluss gehalten worden waren, gilt es endlich angemessen zu würdigen, meint er, "wobei sich die kleine Präsentation mit ihren wenigen Fotos aus der Dessauer Zeit selbst wiederum wie eine Fußnote ausnimmt - und genügend Raum lässt für eine umfassende neue Würdigung. Dennoch besucht man die ebenfalls kleine Ausstellung im Museum Folkwang mit sammlungseigenen Werken von László Moholy-Nagy danach mit einem geschärften Blick. Man erkennt nun, dass dem Fotokünstler, Maler, Grafiker und Filmer eine kongeniale Partnerin nicht nur beistand, um seine Ideen praktisch wie theoretisch in die Tat umzusetzen, sondern dass sie ihn auch darin unterstützte, im dynamischen Blick auf die Wirklichkeit eine neue, zeitgenössische Ästhetik zu entwickeln. Man schaut hier in die Brutstätte eines Pioniers des Sehens".

Weiteres: Was ist Kunst?, fragt sich der Unternehmer Hans Widmer in der NZZ. Frank Nienhysen unternimmt für die SZ einen Streifzug durch die Kunstszene von Minsk.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Spektral-Weiß" im Berliner Haus der Kulturen der Welt (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Norbert Tadeusz" im Düsseldorfer Kunstpalast (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Magnus Klaue meditiert im ZeitOnline-Essay über Patrica Highsmith, deren Antisemitimus und die Kritik daran, der es nach Klaue vor allem darum gehe, der Autorin "einen schlechten Charakter" zu bescheinigen. "Solchem volksgemeinschaftlichen Blick aufs Individuum erscheint der Antisemitismus nicht als das, was er wirklich ist: Ausdruck eines schlechten Allgemeinen, das den Eigenbrötler mit den Ressentiments des Kollektivs verbindet, dem er sich zu verweigern glaubt, sondern als Stigma desjenigen, der als Einzelgänger aus der Gemeinschaft auszuschließen sei. Um die Frage nach der Differenz zwischen Ideologie und Werk drückt man sich auf diese Weise ebenso herum wie um die dem zeitgenössischen Bewusstseinsstand anstößige Einsicht, dass Antisemitismus kein männliches Privileg ist."

Beziehen sich die Nobelpreis-Juroren in ihren Statements zur Verteidigung Handkes auf Autoren, die Verschwörungstheorien vertreiben? Zumindest Henrik Petersen und Eric Runesson hätten sich auf entlegene Schriften von Lothar Struck und Kurt Gritsch berufen, in denen dies geschehe, behauptet Peter Maass in einer epischen Auseinandersetzung auf The Intercept. "Die Bücher sind im selbstbewussten Ton gehalten. Und offensichtlich schlossen die Juroren daraus, dass Handkes in Worten und Taten geäußerte Sympathien für die serbische Seite somit gerechtfertigt waren. ... Doch beide Bücher weisen einen erheblichen Makel auf, der den Nobelpreisjuroren offensichtlich entgangen ist. Beide unterstützen eine Verschwörungstheorie, die besagt, dass eine amerikanische PR-Firma, Ruder Finn Global Public Affairs, eine Kampagne lanciert hätte, um die serbischen Gräueltaten aufzublasen, zum Zweck die US-Meinung gegen die Serben auszurichten. Folgt man dieser 'wag the dog'-Theorie zum bosnischen Krieg, dann ist die allgemein anerkannte Einschätzung der immensen und einseitigen Gräueltaten der Serben zum allergrößten Teil eher die Folge einer in die Irre führenden Öffentlichkeitskampagne als die tatsächlicher Ereignisse vor Ort."

Außerdem ist der zuvor nur in Meldungen auszugsweise zitierte Offene Brief zahlreicher Autoren, die gegen die Handke-Kritiker protestieren, nun im Volltext und mit einer langen Unterschriftenliste einzusehen. Offenbar hatte es auf dem letzten Meter noch ein paar Änderungen im Detail gegeben: Zitierte der ORF am 8. November noch, dass den Kritikern ein "Wille zum Totalitarismus" angekreidet werde, steht an dieser Stelle nun ein "Wille zur Illiberalität". Zu den prominenteren Unterzeichnern gehören Nora Bossong, Georges-Arthur Goldschmidt, Esther Kinsky, Michael Krüger, Doron Rabinovici, Franz Schuh, Clemens J. Setz, Daniela Strigl.

Weiteres: In der NZZ-Debatte, ob Gegenwartsautoren nur noch für das Hier und Jetzt schreiben, wo früher doch große Literaten für die Ewigkeit schrieben, merkt Kai Bremer an, dass auch jene als Popliteraten rubrizierte Schriftsteller "ausgesprochen bewusst über die 'Ewigkeit' nachdenken" und sich "nach langfristiger Anerkennung, nach Ruhm und Aufnahme in den Kanon" sehnen. Heute ist der vom PEN ausgerufene Tag der inhaftierten Schriftsteller, schreibt Jens Uthoff in der taz.

Besprochen werden unter anderem Nick Drnasos Comic "Sabrina" (Tagesspiegel), Maja Lundes "Die Letzten ihrer Art" (SZ) und die Fontane-Schau im Märkischen Museum in Berlin (FR).

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Architektur

Der neue Dachgarten auf dem Jobcenter in Oberhausen. Bild: Kuehn Malvezzi mit Atelier le balto

Statt Luxusapartments könnten künftig häufiger Gärten auf die Häuserdächer gesetzt werden, wie es jetzt das Berliner Büro Kuehn Malvezzi auf dem neuen Jobcenter in Oberhausen gemacht hat, erklärt Alexander Menden in der SZ. Das wäre schön, umweltverträglich und praktisch: "Die Lösung, von Kuehn Malvezzi um zusätzliche Begrünung erweitert, ist ein Haus, in dem Gebäudetechnik, Freizeitraumgestaltung, Lebensmittelproduktion und Forschung ineinandergreifen [mehr dazu hier]. ... Die Abluft aus den Büros fördert im Gewächshaus das Pflanzenwachstum. Welche Pflanzen angebaut werden, richtet sich nach dem örtlichen Bedarf. Wenn ein Restaurant zum Beispiel etwas Exotischeres als Zutat brauche, so Lauxen, müsse man es nicht aus Südostasien einfliegen, sondern könne es mit relativ geringem Vorlauf hier ziehen."



Acht Monate ist es brüllend heiß und dann regnet es wie die Sintflut in Bangladesch. Niklaus Graber hat für die NZZ eine Schule nahe der Hauptstadt Dhaka besucht, die mit Hilfe der Architekten Saif Ul Haque und Salma Parvin Khan eine geniale Lösung für das Problem der regelmäßigen Überschwemmungen gefunden hat: "Unter dem lebhaften Trippeln der Schulkinder, die sich in der Veranda und auf einem offenen Pausendeck zwischen eingetopften Setzlingen tummeln, gerät das Gebäude in sanftes Wiegen. Das Fundament des Schulgebäudes sind nämlich rezyklierte Ölfässer, die während der Monsunzeit als Schwimmer die Leichtgewichtsarchitektur mit dem Wasserstand nivellieren. Das scheinbare Manko eines Ortes wird zur eigentlichen Qualität: Statt auf dem flachen, sandigen Terrain der Trockenzeit liegt das Gebäude in der Regenzeit im Wasser." Die Kinder setzen einfach mit einem Kahn über!

Außerdem: Anja Osswald sieht sich für den Tagesspiegel in einem neuen Stadtteil von Hongkong um, dem West Kowloon Cultural District, an dem auch Herzog und de Meuron mitgebaut haben. Oh, und ach ja, das Museum der Moderne ist in seiner jetzigen, vielkritisierten und teuren Gestalt gestern bewilligt worden: "Es kommt selten vor, dass das Beste, was man über ein geplantes Museum sagen kann, in der Feststellung liegt, dass es noch schlimmer wäre, wenn es nicht gebaut würde. Genau so aber verhält es sich beim Museum der Moderne auf dem Berliner Kulturforum", seufzt Andreas Kilb in der FAZ. Ohne den Bund würde das Museum nie gebaut werden können. Im Tagesspiegel listet Ralf Schönball auf, wo der Bund für Berliner Architektur und Kultur noch so einspringt.
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Musik

Julian Weber berichtet in der taz von einer Debatte bei den Grünen über die Risiken und Potenziale Künstlicher Intelligenz beim musikalischen Schaffungsprozess. Spotify zum Beispiel bestückt schon ganze Playlists von Gebrauchsmusik mit tantiemenfreier Musik, die von hauseigenen Algorithmen zweckdienlich komponiert wurde. Allgemein wurde viel über Kennzeichnungspflicht und ähnliche Maßnahmen gesprochen, doch "zu kurz kamen am Mittwoch ästhetische Prämissen, die mit dem Einsatz von KI in der Musik verbunden sind: Die angekündigte Referentin Holly Herndon fehlte. Das letzte mit einer KI entstandene Album 'Proto' der US-Musikerin ächzt unter dem konzeptionellen Ansatz. Der Gesprächsbedarf ist groß."

Kia Vahland ärgert sich in der SZ darüber, dass die Taten des wegen sexueller Nötigung rechtskräftig verurteilen Musikwissenschaftlers Siegfried Mauser in einer Festschrift blumig kleingeredet werden zu einem "bisweilen die Grenzen der ,bienséance' überschreitenden weltumarmenden Eros." Im Dlf Kultur kommentierte bereits Ende Oktober Rainer Pöllmann: "Wie weltfremd muss diese Intellektuellen-Garde sein, dass sie offenbar ernsthaft glaubt, mit solchen Wort-Preziosen durchzukommen? Und wie gefühlskalt? Hinter exquisiten, fein gewählten Worten schimmert nichts anderes auf als die Verachtung des Rechtstaats und die Verhöhnung der Opfer."

Weiteres: Gabriele Spiller spricht in der NZZ mit dem Pianisten Rudolf Buchbinder über seinen Beethoven-Zyklus, mit dem er am kommenden Wochenende den letzten Jahrgang des Lucerne Festivals am Piano eröffnet. Nora Reinhardt porträtiert in der SZ den Popsonderling Lewis Capaldi, der unverhofft die Streamingcharts gestürmt hat und sich im wesentlichen über seinen Status als Popstar lustig macht. In der FR gratuliert Hans-Jürgen Linke dem Jazz- und Klassiklabel ECM Records zum 50-jährigen Bestehen.

Besprochen werden die 15. Lieferung aus Bob Dylans Bootleg Series, die diesmal gemeinsame Aufnahmen mit Johnny Cash bringt (NZZ), Bonnie "Prince" Billys neues Album "I Made a Place" (Pitchfork) und das neue Album von Céline Dion (Standard).
Archiv: Musik