9punkt - Die Debattenrundschau

In einem Zustand von höchstem Stress

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.01.2020. Heute ist Brexit. Der Germanist Nicholas Boyle fürchtet in der SZ, dass Britannien zum 51. Staat der USA werde. Timothy Garton Ash beißt im Guardian die Zähne zusammen. John Burnside macht im Tagesspiegel mangelnde Bildung für den Brexit verantwortlich. hpd.de fragt, ob Beschneidung bei Jungen nicht auch Verstümmelung ist. Und die taz fragt: 400 Milliarden Euro werden in Deutschland bald jährlich vererbt - ist das gerecht?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.01.2020 finden Sie hier

Europa

Eine Studie der Universität Leicester ergab, dass sich die Remainer durchgesetzt hätten, wenn nur drei Prozent mehr der britischen Bevölkerung ein College besucht hätten, schreibt der schottische Schriftsteller John Burnside im Tagesspiegel: "Dass Bildung - oder vielmehr ein Mangel an Bildung - eine solch bedeutende Rolle für den Erfolg des Leave-Lagers gespielt hat, ist die traurige Bestätigung einer politischen Langzeitstrategie, in deren Gefolge Intelligenz in den Unterhaltungsmedien immer wieder als ausgesprochen uncool dargestellt wurde, während eine gewisse Art amoralischer Gerissenheit nicht nur als welterfahren und auf verquere Weise nett, sondern in einer dog-eat-dog world, einer Ellenbogengesellschaft, auch als wirklichkeitstauglicher angesehen wird. An dieser Metapher ist jedoch nichts Realistisches. Es ist wahr, dass sich Hunde gelegentlich aufeinander stürzen, aber nur unter außergewöhnlichen Umständen - was bedeutet, dass unsere Führer uns ständig in einem Zustand von höchstem Stress verharren lassen müssen."

"Nichts ist vorbei, das will uns die Regierung nur weismachen", sagt der in Cambridge lehrende Germanist Nicholas Boyle, der den heutigen Tag trotzig in einem Beethoven-Konzert verbringen wird, im SZ-Gespräch mit Thomas Kirchner. Er glaubt, dass sich Nordirland und Schottland mittelfristig lossagen werden, zudem habe die britische Regierung keinen blassen Schimmer, wie es weitergehe: "Wahrscheinlich wird sie sich trotz der jüngsten Streitereien mit Trump eher für eine engere Anbindung an die USA entscheiden. Wir hatten ja schon immer die Wahl zwischen Europa und Amerika. George Orwell hat das vorausgesehen. In seinem Roman '1984' bilden Großbritannien und die USA ein Land namens 'Ozeanien', das sich gegen 'Eurasien' stellt. So könnte es in einigen Jahrzehnten kommen: England als 51. Bundesstaat der USA."

"Wir kommen wieder (wenn ihr uns haben wollt)", schreibt der Schriftsteller Julian Barnes in der SZ gefasst, allerdings nicht ohne den Brexiteers noch einige Mythen zu nehmen: "Viele, die den Brexit unterstützt und dafür gestimmt haben, bezogen sich auf die glorreiche Vergangenheit Großbritanniens, wobei manche bis auf die Schlacht bei Crécy im Jahre 1346 zurückgingen; aber viele hoben auch speziell darauf ab, dass wir 1940 'allein gestanden' hätten und diese Isolation das Beste in uns als Nation zum Vorschein gebracht habe. Nun, wir standen 'allein' bis auf die Militärkraft des gesamten Commonwealth - Indien, Kanada, Australien, Neuseeland … Aber gut, wie ein anderer kluger Franzose, Ernest Renan, sagte: 'Es gehört zum Wesen einer Nation, dass sie ihre Geschichte missversteht.'"

Eiken Bruhn unterhält sich für die taz mit dem Lehrer Günther Schwarz, der jahrzehntelang in der britischen Provinz gelebt hat und den die Hysterie der Debatte schließlich zurück nach Deutschland getrieben hat. Noch hat er Bindungen in Britannien: "Ich habe diesen 'settled status' - den musste ich beantragen. Damit darf ich ins Land. Das muss man sich mal vorstellen: Ich lebe dort, habe ein Haus, beziehe Rente - und soll beantragen, dass ich dort wohnen darf. Andere haben die Staatsbürgerschaft beantragt und mussten dafür viel Geld bezahlen, weil sie Angst haben, irgendwann rausgeschmissen zu werden."

Timothy Garton Ash beißt im Guardian die Zähne zusammen: "Nur der egoistischste, rachsüchtigste Ex-Remainer würde sich wünschen, dass diejenigen, die für Brexit gestimmt haben, darunter leiden. Wir sind so patriotisch wie jeder Brexiteer und wünschen uns das Beste für unser Land und unseren Kontinent. Deshalb müssen wir jetzt wollen - und tatsächlich dafür arbeiten -, dass sich unsere pessimistischen Vorhersagen zumindest teilweise als falsch erweisen. Nachdem wir Brexit vier Jahre lang wie die Pest bekämpft haben, müssen wir, zumindest in diesem minimalen Sinne, wollen, dass Brexit Erfolg hat."

Weitere Artikel: Die britische Kulturindustrie ist einer der erfolgreichsten Wirtschaftszweige des Landes, nun herrscht blanke Ahnungslosigkeit, wie es weitergehen soll, weiß Marion Löhndorf, die sich für die NZZ umgehört hat.
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Politik

Erst seit 2000 dürfen Chinesen ins Ausland reisen, noch in den Achtzigern war es ausschließlich Kadern erlaubt - vorausgesetzt, sie erhielten eine Erlaubnis ihrer Wohn- und Arbeitseinheit, erinnert die in der Schweiz lebende Übersetzerin Wei Zhang in der NZZ. Inzwischen ist Reisen für Chinesen zum Volkssport geworden, allerdings hat die Beliebtheit Europas bei den Reisenden abgenommen, so Zhang weiter: "Wenn die Angehörigen der älteren Generationen ermüdet von einer Auslandreise heimkehren, gefällt ihnen China umso besser. Sie fühlten sich während ihres Aufenthalts in der Ferne sowohl sozial als auch kulinarisch unterernährt. In Chongqing etwa wird man bei einer solchen Rückkehr vom Flughafen daher direkt in ein Feuertopf-Lokal gebracht. Auch das vernachlässigte Sozialleben muss mit hoher Dosis kompensiert werden. So ist es üblich geworden, dass Auslandreisegruppen bald schon eine gemeinsame Inlandreise unternehmen, auf der sie die Eindrücke aus dem Ausland großspurig mit der vertrauten Heimat vergleichen."
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Stichwörter: China, Reisen

Gesellschaft

Das große Erben geht los. In Deutschland werden immer größere Vermögen an die nächsten Generationen weitergegeben - jetzt sind es schon 400 Milliarden Euro pro Jahr. Da ist es Zeit über ein bisschen mehr Gerechtigkeit nachzudenken und die Erbschaftssteuer zu erhöhen, meint der relativ junge (sein Alter nennt er nicht) SPD-Politiker Yannick Hann in der taz und fragt , "ob Erben überhaupt noch legitim ist. Wenn ich meine Generation anschaue, dann bekomme ich immer größere Zweifel, ob das in der Verfassung festgeschriebene Sozialstaatsprinzip und das Erben noch vereinbar sind: Auf der einen Seite die Erben, auf der anderen Seite der Großteil der Gesellschaft, der sich anstrengt, aber kaum Vermögen aufbauen kann. Am Ende entwickeln wir uns zu einer Gesellschaft der Besitzstandswahrer, die sich an das Gestrige klammert." Wenn die Zahl 400 Milliarden stimmt: Das wären dann 5.000 Euro pro Bundesbürger im Jahr.

Im Selbstverlag ist das Buch "Intime Verletzungen" der Autorin Melanie Klinger erschienen, das sich ausführlich mit Beschneidung bei Mädchen und bei Jungen auseinandersetzt, deren unterschiedliche Behandlung laut Bruno Köhler bei hpd.de wohl vor allem kulturelle Gründe hat: "Die Legalisierung von Körperverletzung an Jungen durch Beschneidung hat deutlich gezeigt, dass die politisch Verantwortlichen derzeit nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems sind. Sie kolportieren entgegen ihren Lippenbekenntnissen archaische Männerrollenbilder, indem sie Gewalterfahrungen - auch als Opfer - immer noch als essenzielle Initiation von Jungen auf dem Weg zum Mann verstehen. Im Fazit konkludiert Melanie Klinger deshalb auch: 'Eine tieferliegende Ursache für die Verharmlosung der männlichen Beschneidung und der Ignoranz gegenüber den Leiden der Betroffenen liegt dabei vor allem in den geschlechtsstrukturellen Rollenzuschreibungen und der damit einhergehenden verdeckten Verletzlichkeit von Jungen und Männern.'"

Mit Beginn dieses Jahres sind Angestellte öffentlicher Universitäten in Texas verpflichtet, Verdachtsfälle, die den Tatbestand sexuellen Missbrauchs erfüllen könnten, zu melden, andernfalls drohen Bußgelder, Haftstrafen oder Kündigung, schreibt Marc Neumann in der NZZ. Wo bleibt der Schutz der Privatsphäre der Opfer, fragt er. Zudem trage das Gesetz wenig dazu bei, "das von Aktivisten für soziale Gerechtigkeit und gegen sexuelle Diskriminierung mitunter angeheizte Reizklima an Universitäten zu entschärfen. Im Gegenteil: An der University of Texas in Austin wurden bereits öffentliche Namenslisten von Verdächtigten gefordert, um unliebsame Professoren zu entfernen. Das Grundrecht auf einen fairen Prozess fliegt dabei hochkant aus dem Fenster."
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Ideen

Die Rassismusforscherin Yasemin Shooman, deren Arbeit am Jüdischen Museum Berlin zu heftigen Kontroversen führte, ist inzwischen Wissenschaftliche Geschäftsführerin am "Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung" (Dezim-Institut), das von Naika Foroutan gegründet wurde. Sie hat auch für die SPD ein Gutachten im Parteiausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin geschrieben. Im Gespräch mit Andrea Dernbach vom Tagesspiegel erklärt sie, wie sie den Begriff der "Rasse" versteht: "Die internationale Rassismusforschung ist sich einig, dass der 'Rasse'-Begriff infolge der NS-Verbrechen zwar immer stärker mit einem Tabu belegt wurde. Seine Wirkmacht hat aber nicht nachgelassen. Es gab eine Verschiebung vom biologistisch argumentierenden Rassismus hin zu einem kulturell begründeten Rassismus. Er behauptet, dass es in sich geschlossene, homogene Kulturen gebe, und dass die Hierarchie und Differenz zwischen Angehörigen der verschiedenen 'Kulturkreise' unüberwindbar sei. Die Forschung spricht auch von Neorassismus."

Weitere Artikel: In der Welt träumt Michael Pilz mit dem Silicon Valley von Unsterblichkeit.
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Geschichte

Die Gedenkfeier in Yad Vashem zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz war in mehrerer Hinsicht höchst problematisch, schreibt Richard Herzinger im Perlentaucher. Sie nützte vor allem Putins Geschichtsrevisionismus. "Jetzt werden wir Zeugen einer Instrumentalisierung, die das Gedenken an die Shoa keineswegs negiert oder zu minimieren versucht, sondern sogar aktiv hochhält, es aber so umdeutet, dass es sich nahtlos in die jeweils eigene nationale Heldengeschichte fügt. Putin geht hier mit kalter Systematik voran. In Yad Vashem setzte er unwidersprochen die verbrecherische Dimension der Belagerung Leningrads mit der des Holocaust gleich und unterstrich damit, dass er den Opferstaus der Völker der einstigen Sowjetunion ebenso wie den Heroismus ihres gemeinsamen Sieges über Hitler-Deutschland alleine für Russland beansprucht."

Gestern fand im Bundestag eine Anhörung zum Ausmaß der kaum zu bestreitenden Begeisterung der Hohenzollern für die Nazis statt. Von dieser Begeisterung hängt ab, wie legitim die Entschädigungsforderungen der Familie sind, berichtet Andreas Fanizadeh in der taz: "Der wunde Punkt der aktuellen Debatte dürfte nach Auffassung der Partei die Linke vielleicht auch in der Vergangenheit der Bundesrepublik zu suchen sein. Der Abgeordnete Jan Korte deutete dies an. Im Westen wurden die an den Verbrechen nachweislich beteiligten Familienclans und Dynastien nach 1945 nicht oder nicht immer konsequent genug bestraft, deren Vermögen auch kaum eingezogen. Die Hohenzollern können heute im Bundestag auf erstaunlich entschiedene Befürworterinnen zählen. Am Mittwoch besonders auf die Wortführerin der CDU im Kulturausschuss, Charlotte Motschmann, geborene Baronesse von Düsterlohe."

Den wichtigsten Auftritt hatte Christoph Maria Vogtherr, Leiter der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten teilnahm, schreibt Jens Bisky in der SZ: "Die Würdigkeitsfrage nach dem Ausgleichsgesetz betreffe nur einen Teil der Objekte, etwa ein Drittel. Daneben gebe es Kunstwerke von der sogenannten '19er Liste'. Für diese war Mitte der Zwanzigerjahre im Zuge der Vermögensauseinandersetzung ein Vorkaufsrecht des Staates vereinbart worden, der auch 16 Positionen ankaufte, was nach dem Krieg vergessen war, sodass etwa, wie der Kunsthistoriker Guido Hinterkeuser bereits vor Jahren nachwies, Watteaus Gemälde 'Einschiffung nach Kythera' ein zweites Mal angekauft wurde."

"Zwei Haltelinien sollten die staatlichen Verhandler ganz klar ziehen", fordert indes Hans Monath im Tagesspiegel: "Eine wie immer geartete Mitsprache der Hohenzollern bei der Darstellung ihrer Geschichte in öffentlichen Institutionen muss ausgeschlossen bleiben."
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