9punkt - Die Debattenrundschau

Schinken besorgen in Klein-Quenstedt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.04.2020. Alexander Kluge erkennt in der SZ die Reparaturbedürftigkeit der modernen Gesellschaft. In der Welt fürchtet Byung-Chul Han die biopolitische Disziplinargesellschaft und das Ende des Liberalismus. In der NZZ erzählt Mansura Essedin, wie Corona in Ägypten zum Stigma wird. Die FAZ wird wohl künftig den Wald meiden, in dem sich Prepper und Urbanophobiker tummeln. Für Aufregung sorgt außerdem die ungeklärte Finanzierung der Heinsberg-Studie. Und in Koblenz steht der erste Kriegsverbrecherprozess gegen einen syrischen Folterer bevor.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.04.2020 finden Sie hier

Ideen

Wer in Peking den Hauptbahnhof verlässt, dem wird per Kamera die Temperatur gemessen, und wenn die Werte nicht stimmen, werden alle Mitreisende per App benachrichtigt. In Südkorea wird überlegt, digitale Armbänder verpflichtend einzuführen, die bisher nur für Sexualstraftäter vorgesehen waren. In der Welt warnt der Philosoph Byung-Chul Han vor der biopolitischen Disziplinargesellschaft, die uns auch bald drohen könnte: "Der Westen wird bald zu der eigentlich verhängnisvollen Erkenntnis gelangen, dass allein eine Biopolitik, die einen uneingeschränkten Zugriff auf das Individuum erlaubt, den Shutdown verhindert, dass gerade die geschützte Privatsphäre einen Schutzraum für das Virus darstellt. Diese Erkenntnis bedeutet aber ein Ende des Liberalismus. Die Asiaten rücken mit einer für Europäer unvorstellbaren Härte und Disziplin dem Virus auf den Leib. Dabei steht das einzelne Individuum im Fokus der Überwachung, was den Hauptunterschied zu Europas Pandemiebekämpfung ausmacht."

In der SZ assoziiert Alexander Kluge im Interview mit Lothar Müller gewohnt geistreich über rebellische Gefühle und die List der viralen Vernunft im Kampf gegen Corona, der Notwendigkeit, mit dem Gegner Frieden zu schließen, und der Reparaturbedürftigkeit unserer Gesellschaft: "Ich glaube schon, dass unser Verhältnis zur Natur einigermaßen gestört ist. Es geht nicht nur um die Verteilung der Güter in der Welt. Wenn alle Schutzmasken in China produziert werden und alle Medikamente in Indien, dann haben wir ein konkretes Problem, dann fangen wir wieder mit der Naturalwirtschaft an und produzieren in den Nähereien der Stadttheater Gesichtsmasken... Wir werden auf solche Erfahrungen zurückgeworfen, wie 1945. Die Naturalwirtschaft, die jetzt aufkommt, erinnert mich unmittelbar an 45. Keine Bank, keine Obrigkeit war damals mehr vorhanden. Schinken besorgen in Klein-Quenstedt, dem Dorf bei Halberstadt. Ich habe einmal in meinem Leben einen anerkennenden Blick von meinem Vater bekommen, das war, als wir Jungens mit Handwagen das Proviantamt stürmten und anschließend ein mittelalterliches Kaufhaus plünderten, das sieben Keller hatte, und ganz unten lag Kaffee aus dem Jahr 1938, nicht geröstet."
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Gesellschaft

Die Schriftstellerin Mansura Eseddin schickt in der NZZ einen erwartungsgemäß deprimierendes Stimmungsbericht aus Ägypten, wo die Menschen ebenfalls seit einem Monat nicht mehr ihre Häuser verlassen können: "Irritierend ist, dass manche hier eine Ansteckung mit dem Coronavirus als Stigma betrachten, das man besser verheimlichen sollte. Als etwa ein Krankheitsfall aus einem Dorf im Nildelta - der Region, wo ich aufgewachsen bin - gemeldet wurde, stellten Verwandte von mir ein kurzes Video ins Netz: Sie bestritten jede Vermutung, das Virus könnte auch ihr Dorf erreicht haben, und schlugen dabei alle Vorsichtsmaßnahmen in den Wind, indem sie sich Seite an Seite mit den Nachbarn zeigten. Aber nicht alle lassen sich von der Angst vor dem gesellschaftlichen Ausschluss so weit treiben wie jene Mutter, die die Sanitäter anflehte, ihre erkrankte Tochter nicht von zu Hause abzuholen, damit keine Schande über sie komme."

Die brasilianische Lyrikerin Angélica Freitas erzählt im Tagesspiegel aus einem Land, in dem die Vernunft es mit dem Virus und einer zynischen Macht zugleich aufnehmen muss: "Es ist bezeichnend, dass das erste Opfer der Pandemie in Rio de Janeiro eine Hausangestellte war. Sie starb am 17. März mit 63 Jahren, war Diabetikerin und litt an Bluthochdruck. Ihre Arbeitgeberin lebt im sehr wohlhabenden Stadtteil Leblon und war von einer Italienreise zurückgekehrt. Als das bekannt wurde, twitterte jemand: Casa-grande e senzala, 'Herrenhaus und Sklavenhütte', und spielte damit auf die Sklavenhaltergesellschaft an, die Brasilien einmal war. Die Folgen sind bis heute zu spüren."

Warum ist das Feiern am Abgrund, der Tanz auf dem Vulkan eigentlich so in Verruf geraten, fragt der emeritierte Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ aus dem Homeoffice-Ennui heraus. Immer nur dieses fade Gerede von Solidarität! Warum es nicht noch einmal krachen lassen wie Kleopatra und Marc Anton nach der verlorenen Schlacht bei Actium? Oder Eva Braun im Führerbunker?

FAZ-Autor Niklas Maak stürzt sich todesverachtend in die unappetitliche Lektüre von "Prepper"-Magazinen, in denen hysterisierte Waldschrate lernen, sich mit Schusswaffen, Rammbügeln und Dosenravioli vor Bio-Katastrophen zu schützen. Aber, erkennt Maak, nicht nur depravierte Rednecks kultivieren die Angst vor der Stadt, auch Kaliforniens Superreiche ziehen sich auf ihre Privatinseln im Pazifik zurück: "Man muss kein Hellseher sein, um vorauszusagen, dass sich 'nach Corona' zwei Trends verschärfen werden. Einerseits die Kontrolle der Städte und Flughäfen per Tracking-Apps und anderen Formen von smart surveillance und, andererseits, die Flucht aus den Städten."
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Geschichte

Im taz-Interview mit Sabine am Orde betrachtet der in Münster lehrende Historiker Malte Thießen Epidemien als einen Verstärker sozialer Verhaltensweisen. Wenig überraschend also, dass Ausgrenzung und Isolation derzeit als probates Heilmittel gelten, meint er: "Selbst in Europa werden Grenzen hochgezogen. Das ist falsch. Seuchen agieren immer global - und müssen global bekämpft werden. Das erfolgreichste Beispiel sind dafür die Pocken, eine hochansteckende Krankheit, die auch in den 50er und 60er Jahren in Deutschland immer wieder aufgetreten ist. In den siebziger Jahren, mitten im Kalten Krieg, ist es gelungen, sie weltweit auszurotten. Mit Hilfe der WHO und eines koordinierten globalen Impfprogramms. Dahinter fallen wir jetzt zurück."
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel-Interview mit Frederik Hanssen beklagt Berlins Kultursenator Klaus Lederer, dass die Kultur bei den ersten Lockerungen in keiner Weise mitbedacht wurde. In der SZ kommentiert Sonja Zekri: "Wenn bereits Freiheitsrechte wie das Versammlungsverbot nicht mehr selbstverständlich sind, wer will da das Recht auf einen Museumsbesuch fordern? Auf Freiluftkonzerte? Open-Air-Lesungen mit begrenzter Teilnehmerzahl? Nun, idealerweise möglichst viele."
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Internet

Stefan M. Seydel besingt in der NZZ die Wikipedia, die gerade Unmengen "unaufgeregtes Wissen" bereitstellt.

In der FAZ ärgert sich die ehemalige grüne Europa-Abgeodnete Helga Trüpel, wie die Corona-Krise benutzt werde, um gegen Urheberinteressen im Netz vorzugehen. Reine Augenwischerei sei es, wenn jetzt ein schneller Zugang zu Inhalten gefordert werde, da viele Kulturinstitute geschlossen seien: "Nach wie vor fußt die Kampagne der Internetaktivisten (von den Piraten, über Internetmonopole wie Youtube und Stiftungen wie Wikimedia und die Shuttleworth Foundation) auf einem völlig unregulierten Freiheitsbegriff und gibt sich damit neoliberal in Bezug auf die Regulierung der Plattformen (keine Haftung, keine Kontrolle) und sozialistisch in Bezug auf die Nutzer und Uploader: Alles soll unreglementiert und sofort zur Verfügung stehen."
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Medien

Für große Aufregungen sorgen Berichte, denenzufolge die berühmte Heinsberg-Studie des Virologen Hendrik Streeck von Kai Diekmanns PR-Agentur Storymachine mehr als nur promotet wurde: In Capital hat Thomas Steinmann offenbar das interne PR-Konzept in die Hände bekommen: "Die 22 Seiten, die Capital vorliegen, lesen sich wie eine Art Drehbuch für die Inszenierung der Studie und ihrer erhofften Ziele. Verfasst und an potenzielle Sponsoren des PR-Projekts aus der Wirtschaft versandt wurde sie in den ersten April-Tagen - zu einem Zeitpunkt, als Streeck noch mitten in der Arbeit steckte."

Im Stern meldet Hans-Martin Tillack, dass der Deutsche Rat für Public Relations ein förmliches Prüfverfahren gestartet hat: "Es geht um die Werbeaktionen, die Storymachine für die Corona-Forschungsarbeiten des Bonner Professors Hendrik Streeck im Landkreis Heinsberg übernommen hatte. Hier stelle sich die Frage, ob von Anfang an klar genug gewesen sei, wer den Auftrag gegeben und bezahlt habe, sagte der DRPR-Vorsitzende Lars Rademacher dem stern. Es gehe um das Transparenzgebot im Branchenkodex. Erst nach Nachfragen habe Storymachine-Geschäftsführer Philipp Jessen die Namen von zwei Firmen genannt, die die PR-Arbeit bezuschusst hatten. 'Was ist das für ein Konglomerat?', fragte Rademacher."
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Politik

In einem großen Report widmet sich ein Reporterteam der SZ dem ersten Kriegsverbrecherprozess, der einem syrischen Geheimdienstoffizier gemacht wird. In Koblenz muss sich der Oberst Anwar R. für den Krieg gegen das eigene Volk verantworten: "Anwar R., heute 57 Jahre alt, soll für mindestens 4.000 Folterungen und 58 Tötungen verantwortlich sein. Er verließ Syrien Ende 2012, im Juli 2014 kam er in Deutschland an. Fast sechs Jahre später wird ihm hier der Prozess gemacht. Von 23. April an wird er zusammen mit Eyad A., einem weiteren syrischen Geheimdienstler, vor einem deutschen Gericht stehen. Der Prozess am Oberlandesgericht Koblenz wird in die Geschichte eingehen: Es ist das erste Mal weltweit, dass sich Handlanger des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad für Staatsfolter verantworten müssen."

Nach Recherchen der taz stützt sich die Anklage auf die Aussagen von rund achtzig Zeugen, wie Kristin Helberg und Sabine am Orde berichten, aber auch auf die sogenannten Caesar-Files, jene "50.000 Fotos, die der ehemalige syrische Militärfotograf mit dem Decknamen Caesar von mindestens 6.786 getöteten Gefangenen gemacht und aus Syrien herausgeschleust hat. Das BKA hat einen Teil der Fotos forensisch ausgewertet. In Koblenz werden sie erstmals als Beweise vor Gericht eingesetzt."
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