9punkt - Die Debattenrundschau

Schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.05.2020. In der taz verteidigt Charlotte Wiedemann Achille Mbembes Blick auf Israel und den Holocaust. In geschichtedergegenwart.ch erklärt der Historiker Caspar Battegay, warum gerade Mbembes Ideal der Versöhnung sein Verhältnis zu Israel so heikel macht. Es hat auch ganz praktische Gründe, warum sich Verschwörungstheoretiker jetzt gerade auf Bill Gates kaprizieren, erläutert golem.de. In der FAZ verteidigt der Bundesverfassungsrichter Peter M. Huber das Urteil des BVG gegen die EZB. In der FR fordert der Risikoexperte Gerd Gigerenzer mehr statistisches Denken und Kenntnis von der Mathematik in der Politik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.05.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Dass ausgerechnet Bill Gates im Zentrum vieler Verschwörungstheorien zur Coronakrise steht, hat unter anderem einen ganz einfachen praktischen Grund, schreibt Elke Wittich in einem interessanten Hintergrund bei golem.de: Es stehen bereits einige ältere Videos von Gates im Netz, die man so praktisch manipulativ umschneiden und frisieren kann, was die "selbsternannten Verschwörungsaufdecker" sehr gerne tun: "Sie benutzen aus dem Zusammenhang gerissene Sätze, absichtlich leicht falsch zitiert, angereichert mit Zitaten aus ähnlich wie sie denkenden Quellen. A zitiert B, der C zitiert, wobei C den vorherigen Artikel von A als Quelle angibt. Man nennt dies 'Zirkelreferenzen', weil sich dadurch immer neue Kreise bilden. Eine neue Verschwörungstheorie wird dazu gern mit thematisch ähnlichen, schon bestehenden und über viele Fans verfügende Theorien verbunden." Bei politico.eu geben Mark Scott and Steven Overly einen Überblick über dies- und jenseits des Atlantik grassierende Verschwörungstheorien.

Stefan Römermann erklärt im Deutschlandfunk, warum der Messenger Telegram, der auf auf den ersten Blick so funktioniert wie Whatsapp zum Lieblingstool der Rechtsextremen geworden ist und zitiert dabei den Experten Martin Fehrensen vom Social Media Watchblog: "Bei Whatsapp hat man eine Obergrenze von 256 Menschen, die man in einer Gruppe erreichen kann. Bei Telegram hingegen kann eine Gruppe bis zu 200.000 Mitglieder haben." Bei Telegram, so Römermann weiter, gibt es außerdem "die Möglichkeit, öffentliche Kanäle anzulegen, die Freunde und Fans abonnieren können. Besonders viel Zulauf hat die ehemalige 'Tagesschau'-Sprecherin Eva Herman. Ihr Kanal hat inzwischen über 100.000 Abonnenten - und es werden gerade in diesen Tagen täglich mehr."

Auf Zeit online überlegt Lenz Jacobsen, was man den Verschwörungstheoretikern und der von ihnen ausgehenden "Polarisierungswelle" entgegenhalten kann: "Die öffentliche Aufgabe ist jetzt, die Proteste ernst zu nehmen, ohne sie zu groß zu machen. Einige Zehntausend Menschen an einem sonnigen Samstagnachmittag haben keinen Anspruch auf Diskurshoheit. Sie können die Polarisierung, von der sie profitieren, nicht selbst herstellen, dafür brauchen sie die Hilfe aller, die Aufmerksamkeit zu verteilen haben: Medien, Leser, Retweeter, Facebook-Liker, WhatsApper. Die aber können auch anders. Sie könnten beispielsweise all jenen mehr Raum einräumen, die zur Corona-Politik nicht laut 'Nein' sagen sondern leise 'Ja, aber'. Die bei den Umfragen angeben, die Regierungspolitik mitzutragen, aber im Detail doch anderer Meinung sind."

Dennis Pohl unterhält sich für spex.de mit Ariane Schröder, die sich kulturwissenschaftlich mit dem Phänomen der Epidemien befasst hat und unter anderem ein historisches Gefahrenmoment besonders unterstreicht: "Dass epidemische Ereignisse zeigen, dass wir bestimmte andere Leute als Gefahr begreifen und das Ich immer als gesunden, guten Richtwert. Dass eine Gesellschaft die Menschen, die sie als Minderheiten begreift, für ihre Erkrankung zur Verantwortung zieht, wirft ein Brennglas auf die allgemeine Verfassung dieser Gesellschaft."
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Europa

Ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Richter öffentlich Stellung zu Kritik an einem Urteil nimmt? In der FAZ interviewt Reinhard Müller den Verfassungsrichter Peter M. Huber, der das höchst umstrittene Urteil des Gerichts zur EZB mit seiner Kritik am EuGH verteidgt. Zur Frage, warum das Gericht gegenüber den europäischen Kollegen eine so harte Sprache wählte und von "schlechterdings nicht mehr nachvollziehbaren" und "willkürliche" Entscheidungen sprach, sagt Huber: "Die Begriffe 'schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar' und 'willkürlich' klingen hart. Sie sind es aber nicht, weil sie es dem Bundesverfassungsgericht überhaupt erst ermöglichen, in eine 'Ultra vires'-Kontrolle einzutreten. In der Sache dienen sie dazu, die Auslegung des Europarechts dem EuGH so lange zu überlassen, wie die Grenze des schlechterdings nicht mehr Nachvollziehbaren nicht überschritten wird. Erst wenn diese Grenze überschritten wird, liegt im Verstoß gegen das Unionsrecht auch ein Verstoß gegen das Grundgesetz."
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Ideen

Charlotte Wiedemann, taz-Reporterin und Autorin des Buchs "Der lange Abschied von der weißen Dominanz" verteidigt Achille Mbembes Sicht auf Israel und möchte ähnlich wie neulich Stefanie Carp (unser Resümee) den Blick auf Israel aus postkolonialer Perspektive neu definieren: "Es gibt gute Gründe, die Schoah wegen des Ausmaßes und des Charakters der Vernichtung als einzigartig zu betrachten. Aber die Singularität taugt nicht als Waffe, um anders gelagerten Schmerz in die zweite Reihe zu verweisen - und schon gar nicht darf sie Waffe in der Hand von Deutschen sein. Warum fällt es so schwer zu dulden, dass Menschen, die nicht unsere Tätergeschichte teilen, einen anderen Blick auf Israel haben? Für die Nachfahren von Kolonisierten, die seit Jahren ein deutsches Mahnmal für koloniales Unrecht fordern, ist es ein weißes Privileg, ausschließlich des Holocausts zu gedenken."

Es ist gerade Mbembes Ideal der Versöhnung, das Mbembes Verhältnis zu Israel so heikel macht, schreibt in geschichtedergegenwart.ch Caspar Battegay, Autor des Buchs "Geschichte der Möglichkeit - Utopie, Diaspora und die 'jüdische Frage'", der sich mit Mbembes "Kritik der schwarzen Vernunft" auseinandergesetzt hat. Mbembe sehe in "divergierenden Identitäten auch Hindernisse auf dem Weg zu der gemeinsamen Welt". Minderheiten, so Mbembe, sollten ihren Anteil am Menschlichen nicht durch die Proklamation der Differenz wieder gewinnen wollen. Battegay dazu: "So ehrbar dieses Ideal auch erscheinen mag, so problematisch ist es. Denn der Idealismus immunisiert gleichsam gegen jegliche Kritik. Mbembes Argumente können in seiner Perspektive keinerlei Antisemitismus enthalten, denn sie sind ja auf das Ideal der allgemeinen Versöhnung ausgerichtet. Konsequent blendet eine solche Sicht aber diejenigen aus, die im Alltag an pragmatischen und lebenswerten Alternativen arbeiten. Das Markieren von Differenzen und konfrontative Auseinandersetzungen gehören zu diesem Alltag."

In der Coronakrise funktioniert der Föderalismus besser als der Zentralismus, meint der Oxford-Historiker Oliver Zimmer im Interview mit der NZZ. Nur in Schweden ist noch mal alles anders, weil hier nicht nur die Bürger dem Staat vertrauen, sondern auch der Staat den Bürgern: "Jedenfalls scheint dieses Modell besser zu funktionieren als jenes, in dem die Bürger den Staat als das Andere ihrer selbst wahrnehmen, als mächtige, quasi-absolutistische Instanz, der man charismatische Fähigkeiten zuschreibt."

Identitätsdenken ist überall! Thomas Thiel bespricht in der FAZ Ulrike Ackermanns neues Buch "Das Schweigen der Mitte" über die Polarisierung der Debatte: "Ulrike Ackermann beobachtet ein identitäres Gruppendenken, das rechts unter völkischem Label und links als Opferkollektiv in Erscheinung trete - jeweils unter Ausschluss individueller Freiheit. Besonders ausgeprägt sei diese Tendenz an den Universitäten, wie zahlreiche Veranstaltungen der jüngeren Vergangenheit belegten, die im Krawall endeten. Statt einer Vielfalt der Positionen und Argumente, wie sie für die Wissenschaft wesentlich ist, erlebe man hier willkürliche Ausschließung von Gegenpositionen."
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Wissenschaft

Mehr Risikokompetenz und vor allem mehr statistisches Denken und Kenntnis von der Mathematik der Ungewissheit wünscht sich der Psychologe und Risiko-Experte Gerd Gigerenzer im Interview mit der FR angesichts der Aufregungen um Zahlen zur Coronakrise. Wieviel Unsicherheit man mit Zahlen verbreiten kann, erklärt er so: "Vor einigen Jahren hat die Weltgesundheitsorganisation gewarnt, dass durch jede 50 Gramm Wurst, die wir täglich essen, die Wahrscheinlichkeit, an Darmkrebs zu erkranken, um 18 Prozent steigt. Was glauben Sie, was das heißt, wenn 100 Leute täglich 50 Gramm Wurst essen? ... viele - auch einige meiner akademischen Freunde - haben prompt aufgehört, Wurst zu essen, weil sie dachten, dass von je 100 Menschen 18 mehr Darmkrebs bekommen. In Wirklichkeit stieg das absolute Risiko von fünf Prozent auf 5,9 Prozent - das sind 18 Prozent mehr. Der absolute Anstieg betrug also weniger als ein Prozentpunkt. Doch damit können sie keine Aufmerksamkeit und Aufregung erzeugen. Also berichtet man nicht vom absoluten, sondern vom relativen Risiko."
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Geschichte

Harte Worte. Frank-Walter Steinmeier hat bei seiner Rede zum 8. Mai versagt, findet Götz Aly in seiner Kolumne in der Berliner Zeitung. Nicht nur habe er den alliierten Soldaten nicht für die Befreiung gedankt. Er sprach auch nicht "von den Deutschen, die dem Ruf Hitlers millionenfach gefolgt waren. Wir, die Nachgeborenen, kennen sie: Verstört, rechthaberisch, traumatisiert oder eisig schweigend geisterten sie nach 1945 durch unsere Familien. Wir können sie nicht ignorieren oder für immer verdammen. Die meisten Deutschen sind ihre Kinder oder Kindeskinder - und ihre Geschichtserben. Das macht es nicht einfach, darüber verständig zu sprechen, und überforderte nun auch den Bundespräsidenten."
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