9punkt - Die Debattenrundschau

Widerspruch als Grundprinzip

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2021. Annalena Baerbock ist nun also die Kanzlerkandidatin der Grünen, wie hätte es auch anders kommen können, ist sich die Presse einig. Nur die Buchverlage waren unvorbereitet: Von und über Habeck gibt es Bibliotheken, von und über Baerbock nichts, notiert der Buchreport. Die SZ annonciert in einer neuen schwarz-grünen Koalition einen heftigen Konflikt zwischen Natur- und Klimaschutz. Wenn Putin Alexei Nawalny sterben lässt, raubt er dem Land die Zukunft, schreibt Timothy Snyder in seinem Substack-Blog. In der Washington Post protestiert Cornel West gegen die Abschaffung der "Classical Studies" an der schwarzen Howard University.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.04.2021 finden Sie hier

Europa

Annalena Baerbock ist nun also die Kanzlerkandidatin der Grünen, und Patricia Hecht schreibt dazu in der taz das Offensichtliche: "Eine andere als diese Entscheidung in der K-Frage wäre für die Grünen, die seit ihrer Gründung auf die Frauenfrage pochen und dennoch vor allem ihre Macker pushten, frauenpolitisch vernichtend gewesen. Robert Habeck, der sich als Feminist präsentiert - und wenn es darauf ankommt, doch nach vorn prescht und gönnerhaft Stellvertreterinnen benennt? Nahezu unvorstellbar." Pascal Beucker und Ulrich Schulte analysieren die recht günstige Ausgangslage der Grünen in diesem Wahljahr.

Ähnlich wie die taz sieht das auch Sophie Aschenbrenner bei Süddeutsche/jetzt, der auch gut gefällt, dass Baerbock, "anders als Noch-Kanzlerin Angela Merkel, Mutter zweier kleiner Kinder ist, sie betont immer wieder, dass ihre Familie ihr wichtig ist. Die Grünen-Politikerin bemüht sich um gendersensible Sprache - und hat auch die passenden Studien parat, wenn Friedrich Merz in einer Diskussion das Gendersternchen scharf kritisiert. ... Baerbock wird oft in einem Atemzug mit Sanna Marin genannt, der 1985 geborenen finnischen Ministerpräsidentin, die ihre kleine Tochter auch mal mit zu einer Sitzung bringt, oder mit der neuseeländischen Regierungschefin Jacinda Ardern. Viele junge Menschen verbinden diese Frauen mit der Hoffnung auf eine neue, nachhaltige Politik."

Alice Schwarzer fragt dagegen bei emma.de, ob Baerbock überhaupt Feministin ist: "Warum sagt die Frau am Mikro dann kein einziges Wort zu dem Thema? Sie erwähnt nur am Rande die 'Mütter', 'Großmütter' und 'Rentnerinnen', das allerdings eher im Zusammenspiel der Generationen. Aber als weltweit strukturell benachteiligte Mehrheit? Stichwort Gender Gap? Stichwort Körperpolitik via Schönheits- und Schlankheitswahn? Stichwort Gewalt in der Familie? Stichwort Frauenhass im Internet? Stichwort Femizid?"

Baerbock hat ihren Höhenflug auch Habeck zu verdanken, der - anders als Baerbock - als Minister vorgelebt habe, wie man die Ideale der Grünen mit der existierenden Landwirtschaft versöhnen kann, meint in der SZ Stefan Braun. "Ob das Experiment Baerbock eine Chance hat, hängt von Habeck mindestens genauso ab wie von der Ab-jetzt-Kanzlerkandidatin. Natürlich hat ihn die Entscheidung geschmerzt; und natürlich wird er das noch eine ganze Weile im Herzen tragen. Umso mehr aber wird er jetzt den Bogen schaffen müssen, trotzdem und unzweifelhaft an ihrer Seite zu kämpfen. Beide sagten zuletzt, dass nun eine oder einer 'einen halben Schritt' weiter nach vorne gehen werde. Im Bild bleibend kann das nur heißen: Habeck darf nicht mehr als einen halben Schritt zurückbleiben."

"Kanzlerkandidatin ohne Buch", notiert nebenbei der Buchreport. Während Habeck geradezu als Philosoph gilt und einiges publiziert hat, gibt es von und über Baerbock nichts. Und "Penguin Random House hat offenbar ganz auf Habeck als die Grünen-Nr. 1 gesetzt: Heyne hat für August: 'Robert Habeck. Eine politische Biografie' von Susanne Gaschke angekündigt. Blessing bringt ganz aktuell 'Das ganze Ding ist ein Risiko: Robert Habeck - eine Nahaufnahme' von Stefan Berkholz heraus."

Auf der anderen Seite, beim eigentlichen Kanzlerwahlverein, ist die Kandidatenfrage noch unbeantwortet. Jürgen Kaube fällt in der FAZ die komplette Inhaltslosigkeit des Streits zwischen Armin Laschet und Markus Söder auf: "So kommt es auch zu dem merkwürdigen Umstand, dass die einen Armin Laschet für den konservativeren Kandidaten halten, die anderen Markus Söder. Wenn jahrzehntelang nichts in die Frage des Selbstverständnisses investiert worden ist, schlägt das Desinteresse daran, das Angela Merkel verkörpert, in eine fast beliebige Begriffsverwendung um."

Alexej Nawalny ist kein Intellektueller, sondern ein Politiker, der sein Land nicht nur liebt, sondern auch kennt, schreibt Timothy Snyder in seinem Substack-Blog. Ließe Wladimir Putin ihn sterben, würde die Lage des Landes sich noch um einiges verdüstern: "Es ist nicht an mir oder Outsidern zu sagen, was Russland braucht. Das müssen die Russen selbst entscheiden. Wenn Nawalny stirbt, dann wird ihnen diese Wahlmöglichkeit geraubt. Russlands Hauptproblem ist, dass niemand weiß, wer Wladimir Putin an der Spitze des Staates folgen wird. Russlands zweites Problem ist, dass niemand weiß, wie diese Machtabfolge ablaufen soll. Mit anderen Worten: Russland fehlen eine Zukunft und ein Weg, dorthin zu gelangen."

Melina Borčak erinnert in der taz an die Belagerung Sarajewos, die vor 25 Jahren nach Tausenden Toten endete. "Warum wird dieses Menschheitsverbrechen mitten in Europa immer noch weitgehend ignoriert", fragt sie. Es hat mit Kontnuitäten zu tun: "Miloševićs Name ist zum Synonym für Genozide, Massenmorde und Angriffskriege gegen vier Länder geworden, aber natürlich war all das keine One-Man-Show. Die, die ihn damals unterstützten, sowie der großserbische Nationalismus, leben weiter. Die große Mehrheit der Serben leugnet den Genozid, auch solche, die antinationalistisch scheinen. Kriegsverbrecher, die serbische Nazi-Kollaboratuere als Helden feiern, sind nun Parlamentsabgeordnete oder willkommene Gäste in Reality Shows."
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Ideen

"Wer die Emissionen innerhalb von neun Jahren ernsthaft um 70 Prozent senken will, der wird sehr radikal in die Landschaft eingreifen müssen", meint Alex Rühle in der SZ und sieht genau darin den bisher noch halbwegs zugedeckten, riesigen Konflikt zwischen Klimaschützern bei den Grünen einerseits und Naturschützern bei den Konservativen andererseits. Klimapolitik brauche "schlicht Anbaufläche: Windkrafträder muss man genauso irgendwo hinstellen wie Solarpanels - und diese Flächen sehen dann eben nicht mehr aus wie die Landschaften auf den Gemälden von Caspar David Friedrich (dass sie das vorher auch schon nicht taten, sei mal außen vor gelassen). Wenn dann auch noch eine seltene Vogelart wie der Rotmilan droht in Mitleidenschaft gezogen zu werden, können die Kritiker unter einem extrem medienwirksamen Wappentier in den Kampf gegen 'Vogelschredder' und 'Verspargelung' ziehen."

Wie schade, dass Debatten heute oft so humorlos und dogmatisch verkniffen geführt werden, wenn sie überhaupt noch geführt werden, bedauert Roman Bucheli in der NZZ. So haben der Schriftsteller Edouard Louis und der Soziologe Geoffroy de Lagasnerie bereits 2015 in einem Manifest in Le Monde erklärt, sie wollten mit bestimmten Leuten überhaupt nicht mehr über gewisse Themen reden. "Mit dem Ausschluss all jener, deren Meinungen per Dekret gerade nicht genehm sind, konterkarieren sie ihre Absichten. Den Widerspruch als Grundprinzip der pluralistisch verfassten Gesellschaft mögen manche als Ärgernis und als lästig empfinden, weil damit die Durchsetzungskraft von Partikularinteressen geschmälert wird. Aber was wäre die Alternative? Die Totenstille des totalen Konsenses etwa?"

Antifaschismus ist in den letzten Jahren recht populär geworden, schreibt der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse in der NZZ. Dies führt auch dazu, dass die Partei Die Linke immer erfolgreicher ihr Ansinnen verfolgt, "eine antifaschistische Klausel in Verfassungen einzuweben. Auf diese Weise könnte die Partei ihre Deutungsmacht vergrößern und das Demonstrationsrecht für (tatsächliche oder vermeintliche) Rechtsextremisten (weiter) erschweren", meint Jessen, der eine solche Klausel für "überflüssig", "illiberal", "überfrachtet" und "missbrauchsanfällig" hält.
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Internet

In der Howard University, an der vor allem Schwarze studieren, werden die altphilologischen Fächer abgeschafft. Um sie gibt es in den USA wegen angeblichen Rassismus der Disziplin Streit. In der Washington Post protestieren der bekannte afroamerikanische Intellektuelle Cornel West und Jeremy Tate gegen diesen Beschluss: "Die anhaltende Kampagne in der akademischen Welt gegen die Klassiker  ist ein Zeichen für geistigen Verfall, moralischen Niedergang und eine tiefe intellektuelle Verengung, die in der amerikanischen Kultur wüten. Diejenigen, die diese schreckliche Tat begehen, behandeln die westliche Zivilisation entweder als irrelevant und nicht wert, priorisiert zu werden, oder als schädlich und nur der Verurteilung würdig. Traurigerweise sind in unserem Kulturbegriff die Verbrechen des Westens so zentral geworden, dass es schwer ist, das Beste des Westens im Auge zu behalten. Wir müssen wachsam sein und den Unterschied zwischen der westlichen Zivilisation und Philosophie einerseits und westlichen Verbrechen andererseits beachten. Die Verbrechen entspringen bestimmten Philosophien und bestimmten Aspekten der Zivilisation, nicht allen."
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Geschichte

Im Tagesspiegel berichtet Bernhard Schulz über die Gründung der Stiftung "Orte der deutschen Demokratiegeschichte", mit der die Bundesregierung die Geschichte der deutschen Demokratie besser im kollektiven Gedächtnis verankern will. Einfach ist das angesichts verzettelter Zuständigkeiten und kleinteiliger Strukturen nicht, meint er, und zitiert zustimmend aus dem Konzeptpapier der Stiftung: "Trotz vielfachen Engagements und zahlreicher Initiativen ist nicht zu erkennen, dass eine der bereits existierenden Einrichtungen in der Lage wäre, unabhängig sowohl von Eigeninteressen wie auch vom politischen Tagesgeschäft und zugleich wissenschaftlich basiert der Thematik 'Orte der Demokratiegeschichte' deutlich neue und nachhaltige Impulse zu geben."
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