9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.07.2021. China ist bei weitem nicht so homogen, wie es tut, schreibt der Tübinger Sinologe Helwig Schmidt-Glintzerin der NZZ. Bei Achgut erzählt der China-Kenner Jürgen Kremb, wie China im Sinne der Gleichschaltung die Sprache bereinigt: Selbst  das Wort "Festland" steht auf dem Index. Es kommt drauf an, Geschichte nicht in Propaganda zu verwandeln, rufen vier Autoren in der New York Times und wenden sich gegen geschichtspolitische Gesetze in einigen amerikanischen Bundesstaaten. Open Democracy hat in Gesundheitseinrichtungen in Kenia, Tansania und Uganda recherchiert, die "Therapien" gegen Homosexualität anbieten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.07.2021 finden Sie hier

Ideen

Auch in Amerika gibt es erbitterte Geschichtsdebatten. Einige Bundesstaaten haben Gesetze erlassen, die, ohne sie zu benennen, den Unterricht von "Critical Race Theory" an Schulen unterbinden sollen. Texas will zum Beispiel nicht, dass das "1619"-Projekt der New York Times, das behauptet, Amerika sei auf dem System der Sklaverei begründet worden, zu Schulmaterial wird. In der Times wenden sich nun vier Autoren, Kmele Foster, David French, Jason Stanley und Thomas Chatterton Williams gegen diese Geschichtsgesetze. Sie bekennen, dass sie absolut divergierende Standpunkte zur 'Critical Race Theory' haben. "Gerade wegen dieser Differenzen tun wir uns hier in einem übergreifenden Anliegen zusammen: die Gefahr, die diese Gesetze für die freie Bildung darstellen." Geschichtsgesetze wie in Texas oder Oklahama "würden etwa auch Deutschlands kompromissloen und erfolgreichen Ansatz im Unterricht über den Holocaust illegal machen, da ein Teil seines Anliegens darin besteht, den Schülern das Gewicht der Vergangenheit zu vermitteln und Schülern also 'Unbehagen' vor ihrer Vergangenheit einflößt. Tatsächlich ist Geschichtsunterricht in einer freien und multiethnischen Gesellschaft unausweichlich belastet. Jede akkurate Vermittlung der Geschichte eines Landes könnte dazu führen, dass sich einige seiner Bürger wegen der Vergangenheit unwohl (oder gar schuldig) fühlen. Diese notwendige Konsequenz der Bildung zu leugnen, bedeutet, um W.E.B. Du Bois zu zitieren, 'Geschichte in Propaganda' zu verwandeln."

Und: "Die Aufklärung wird durch Asoziale gerettet werden oder gar nicht", ist der Philosoph Alexander Grau überzeugt, der in der NZZ Ernährung, Klimaschutz, Gender oder Grenzwerte als neue, säkulare Heilslehren kritisiert.
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Europa

In der SZ-Reihe zum Wahlkampf studiert Hans Hütt heute das Programm der AfD: "In jede Passage, in welcher die AfD sich für Bürgerrechte starkmacht, ist eine Giftpille eingebaut, welche bestehende Freiheiten und Rechte der Zivilgesellschaft unter Vorbehalt stellt. Künftig läge es dann im Ermessensspielraum der AfD, welche Interessengruppen legitimiert sind oder eben nicht."
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Stichwörter: AfD, Bürgerrechte

Kulturmarkt

Das Ebook ist laut den Zahlen des Börsenvereins nicht gerade ein Renner. Die Zahlen steigen kaum, berichtet Sarah Obertreis auf den Wirtschaftsseiten der FAZ. Sie zitiert aber auch den Experten Rüdiger Wischenbart (der lange den "Virtualienmarkt" im Perlentaucher schrieb), der bestreitet, dass ein Ebook und ein Buch überhaupt dasselbe sind. "Stattdessen plädiert er dafür, das E-Book überhaupt nicht mehr mit dem gedruckten Buch zu vergleichen. 'Wann besiegen die Nägel die Schrauben? Das ist für mich die falsche Frage', sagt er und meint damit: E-Book und gedrucktes Buch werden immer seltener in denselben Situationen genutzt. Stattdessen heben sich die Leser die Kartoffelknödel-Krimis für ihren E-Reader in der U-Bahn auf und lesen den neuen Knausgård als gebundene Ausgabe am Strand."

Für britische Künstler ist der Brexit - und damit das Ende der EU-Personenfreizügigkeit - ein Riesenproblem, berichtete Benjamin Triebe gestern in der NZZ. Sie brauchen jetzt "europäische Arbeitsvisa und müssen sich an neue Regeln halten. Der Aufwand ist enorm. Durch die Pandemie sind Reisen auf den Kontinent ohnehin fast zum Erliegen gekommen. Aber mit den sich abzeichnenden Öffnungen werden nun jene Probleme real, die bereits theoretisch erschreckend waren. Allein die britische Musikindustrie erwirtschaftet pro Jahr knapp 6 Milliarden Pfund und schafft mehr als 100 000 Arbeitsplätze. Der Berufsverband Incorporated Society of Musicians (ISM) schätzt, dass 44 Prozent der britischen Musiker bis zur Hälfte ihres Einkommens mit Auftritten in der EU erzielten. 'Es gibt in Großbritannien nicht genug Arbeit', sagte die ISM-Chefin Deborah Annetts Ende Juni bei einer Anhörung der UK Trade and Business Commission."
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Stichwörter: Ebooks, Brexit, Musikindustrie

Medien

Michael Hanfeld, Medienredakteur der FAZ, hält dem frischgekürten Intendanten des ZDF, Norbert Himmler, eine Gardinenpredigt. Was haben die Sender auf Plattformen wie TikTok oder Youtube zu suchen, fragt er: Und "wenn sie schon da sind, sollten sie wenigstens für das Recht an geistigem Eigentum, für das Urheberrecht (in der Debatte darüber geben ARD und ZDF seit Jahren eine erbärmliche Figur ab) eintreten. Und sie sollten das mit dem Urheberrecht verbundene, frisch eingeführte Leistungsschutzrecht in Anspruch nehmen, das nicht nur Presseverlagen zusteht, sondern selbstverständlich auch ihnen und - das nur nebenbei - ihren Autorinnen und Autoren. Wer sich permanent als Demokratiebewahrer aufführt, sollte hier nicht kneifen."

Und nicht erschrecken, wenn Sie in Tokyo spazieren gehen.

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Politik

Auch im Vielvölkerstaat China werden Minderheiten mit wachsendem Wohlstand selbstbewusster und mehr Rechte fordern. Das wusste schon der Gründer der Republik China, Sun Yat-sen, der 1912 die "Drei Prinzipien des Volkes" formulierte, erklärt in der NZZ der Tübinger Sinologe Helwig Schmidt-Glintzer: Volksgemeinschaft, Volksrechte und Volkswohlstand. China als melting pot? "Für das Vielvölkerreich China kaum vorstellbar", meint Schmidt-Glintzer. "Chinesisch als Standardsprache mag noch durchsetzbar sein, doch der Ruf der Völkerschaften nach Respektierung und Bewahrung eigener Kultur- und Glaubensformen wird kaum verstummen. Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass auch die Mehrheitsgesellschaft der Han-Chinesen in sich selbst alles andere als einheitlich ist und vielfältige Migrationshintergründe mit sich trägt. Sun Yat-sens 'Drei Prinzipien des Volkes' müssen also heute überdacht und neu justiert werden, und China wird im Inneren noch einen langen Weg zu gehen haben."

Wie lang dieser Weg ist, verdeutlicht ein dreiteiliger Essay von Jürgen Kremb, ehemaliger China-Korrespondent der taz und des Spiegels: Er beschreibt bei Achgut die Politik der Gleichschaltung im China Xi Jinpings, die zugleich auch eine Politik sprachlicher Säuberung ist. Dass aus dem chinesischen Internet Namen wie Dalai Lama, Wei Jingsheng oder Liu Xiaobo verschwunden sind, wusste man schon. "Dann aber waren im fortschreitenden Verfolgungswahn des Xi-Regimes in chinesischen Suchmaschinen Firmen wie Google, Facebook, Twitter auch nicht mehr aufzufinden. Danach kamen Begriffe wie der Nobelpreis, die 1911 gegründete Chinesische Republik, das Wort Festland auf den Index. Denn mit Letzterem umschreibt man im demokratischen Taiwan das kommunistische Herrschaftsgebiet. Schließlich verschwand in Baidu Baike (Chinas Wikipedia) das gesamte Jahr 1989, das Jahr der Studentenproteste."

Der chinesische, aber in den USA lebende Militärexperte Zhao Tong erklärt im Gespräch mit Fabian Kretschmer in der taz die chinesische Militärstrategie. In Taiwan werde Xi Jinping nicht agieren, so  lange man Angst vor den USA hat: "Hat China jedoch eine offensichtliche militärische Überlegenheit erlangt, werden die USA wissen, dass sie diesen Konflikt nicht gewinnen können. Dann kann China sein Ziel erreichen, ohne einen Schuss abzufeuern.Die jüngsten Entwicklungen haben Chinas Denken bestätigt: Da es bereits eine gewisse militärische Macht gesichert hat, brauchte es sich auch keine Sorgen vor einem gewaltsamen Eingriff aus dem Ausland zu machen, als es Maßnahmen zur Bewältigung der Situation in Hongkong ergriff."

Lydia Namubiru, Khatondi Soita Wepukhulu und Rael Ombuor haben mit Hilfe einer Reihe lokaler Journalisten sechs Monate für Open Democracy in Gesundheitseinrichtungen in Kenia, Tansania und Uganda recherchiert, die "Therapien" gegen Homosexualität anbieten. "Unseren Reportern wurde gesagt: Schwulsein sei 'böse', etwas 'für Weiße' und ein psychisches Problem; man solle eine 'Expositionstherapie' mit 'einem Hausmädchen [zu dem man sich] hingezogen fühlt' versuchen; und man solle einem schwulen Teenager eine Schlaftablette geben, um ihn am Masturbieren zu hindern. 'Wer mit der Homosexualität aufhören will, den verbinden wir [mit externen Beratern]', sagte eine Empfangsdame in einer HIV-Klinik in Kampala, Uganda. Zu den früheren Beratern gehörte Solomon Male, ein evangelikaler Pastor, der sich gegen Homosexualität aussprach. In Kenia sagte ein Berater in einer HIV-Klinik in Nairobi, dass Schwulsein 'ein Trend' sei und dass einige schwule Männer von anderen in die Homosexualität 'hineingezogen' würden. Sie behauptete, dass es mindestens fünf Beratungssitzungen braucht, um gleichgeschlechtliche Anziehung zu 'ändern'."
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