9punkt - Die Debattenrundschau

Dabei steht Verständlichkeit an erster Stelle

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.08.2021. Der Sejm hat für Kaczynskis umstrittenes Mediengesetz gestimmt, aber der Streit geht weiter, annonciert die New York Times. Das Kaiserreich war ein zwiespältiges Gebilde, urteilt Heinrich August Winkler in der FR zur Debatte um Hedwig Richter - modern, aber nicht demokratisch. In der NZZ fragt Michi Strausfeld mit dem mexikanischen Präsidenten López Obrador, wann sich der Vatikan für die Christianisierung Lateinamerikas entschuldigt. Richard Herzinger prangert in seinem Blog den schändlichen Zynismus der deutschen Afghanistan-Politik an.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.08.2021 finden Sie hier

Politik

Richard Herzinger ist fassungslos über den Zynismus, mit dem die westlichen Länder die entstehende afghanische Zivilgesellschaft im Stich lassen. "Es geht einem durch Mark und Bein und lässt einem den Atem stocken, die in Kabul ausharrende afghanische Filmregisseurin und Drehbuchautorin Sahraa Karimi in einem Beitrag des ARD-Kulturmagazins 'titel thesen temperamente' sagen zu hören: 'Ich weiß, dass sie mich töten werden'." Und "die Deutschen haben sich mit ihrem verbliebenen Restpersonal plus sämtlicher Gerätschaft bereits eilends aus dem Staub gemacht, lange bevor der letzte US-Soldat vom Hindukusch abgezogen ist. Im Gegensatz zu den USA war Berlin dabei noch nicht einmal bereit, wenigstens jenen Afghanen, die vor Ort für die Bundeswehr gearbeitet haben, unbürokratisch sicheres Asyl zu gewähren. So spektakulär die Rücksichtslosigkeit ist, mit der Biden dem Hindukusch den Rücken kehrt - das verstohlenere, aber umso erbärmlichere Verhalten der Deutschen ist an Schändlichkeit nicht zu übertreffen."

Den höchsten Preis zahlt die Zivilgesellschaft, schreibt auch Francesca Mannouchi in der taz in einem Bericht aus Kabul. Und das Problem wird so oder so auf uns zurückfallen: "Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat seit Jahresbeginn 300.000 interne Kriegsflüchtlinge gezählt. Die Afghanische Unabhängige Menschenrechtskommission (AIHRC) geht sogar von 900.000 Flüchtlingen von April bis Juni aus.

Im Gespräch mit Judith Scholter und Frank Werner in der Zeit blickt der Historiker Bernd Greiner zurück auf den 11. September und vor allem die amerikanische Reaktion, die für ihn ein einziges militaristisches Versagen war: "Ich kenne kein anderes Land in der westlichen politischen Kultur, das dermaßen anfällig ist für Bedrohungsszenarios und Bedrohungsfantasien wie die USA. Die Bereitschaft war sofort da, der Exekutive Notfallkompetenzen zuzubilligen und dem Parlament die eigene Selbstentmachtung zu verordnen."
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Ideen

Omri Boehm ist in einem Beitrag zur Moses-Debatte in der Zeit unzufrieden mit der deutschen Regierung. Wenn sie wirklich universalistisch sein wolle, dürfe sie sich nicht einfach auf die Singularität des Holocaust berufen, sondern sollte seine Utopie von einer Einstaatenlösung für Israel übernehmen: "Die Zweistaatenlösung ist offensichtlich passé, das palästinensische Territorium wurde faktisch annektiert, Israels Premierminister ist der ehemalige Chef der messianischen Siedlerbewegung, und in seinem Kabinett sitzen Befürworter von Umsiedlungen."

Laut Umfragen lehnen mehr als zwei Drittel der Deutschen das Gendern ab und dennoch wird in öffentlichen Einrichtungen wie Universitäten, der EKD, Stiftungen, in Wirtschaftsbetrieben, immer mehr Medien und kommunalen Verwaltungen gegendert, ärgert sich der Linguist Peter Eisenberg, der in einem großen Essay in der Welt erläutert, weshalb das Gendern die "Standardsprache" zerstört: "Für den Standard ist nicht die Vorbildfunktion primär, sondern die Verbreitung. Eine Sprachausprägung kann nur als Standard fungieren, wenn sie allen Sprachteilhabern zugänglich ist. Dabei steht Verständlichkeit an erster Stelle, gefolgt vom schriftlichen und mündlichen Gebrauch. In vielen Sprachen, unter ihnen das Deutsche, kommt eine geschriebene Varietät den Anforderungen des Standards am nächsten."

Nachzutragen ist, dass Jürgen Habermas gestern auf den Wissenschaftsseiten der FAZ Karl Heinz Bohrer würdigte: "Zwar hat Bohrer seinem grollenden politischen Temperament nie entsagt, aber das Projekt, die Kunst für eine Revolutionierung des gesellschaftlichen Lebens in Dienst zu nehmen, erschien ihm als Verrat an der Radikalität der schockierend-augenöffnenden ästhetischen Erfahrung."
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Geschichte

"Die deutsche Frage ist mit der Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990 endgültig gelöst", sagt der Historiker Heinrich August Winkler im FR-Interview mit Peter Riesbeck zum 60. Jahrestag des Mauerbaus, in dem er auch auf die Debatte zur Rolle des Kaiserreichs, angestoßen von der Historikerin Hedwig Richter, die in ihrem Buch "Demokratie. Eine deutsche Affäre" das Kaiserreich als Ursprung der Moderne in Deutschland (Unsere Resümees) beschreibt, eingeht: "Es war beides. Auf der einen Seite moderner Industriestaat, auf der anderen Seite aber in obrigkeitsstaatlichen Traditionen verhaftet. Bismarck hatte 1870/71 allein die Einheitsfrage beantwortet, aber auf die Freiheitsfrage nur eine sehr begrenzte Antwort gefunden. Das Kaiserreich kannte das allgemeine gleiche Wahlrecht für Männer. Das war damals ausgesprochen fortschrittlich, Musterdemokratien wie Belgien oder Großbritannien kannten das nicht. Über eine Regierung, die dem Parlament jenseits des Budgetrechts verantwortlich war, verfügte das Kaiserreich aber nicht. Der Reichskanzler war dem Kaiser verantwortlich. Dessen militärische Befehlsgewalt unterlag nicht der ministeriellen Gegenzeichnung. Insofern ragte ein Stück Absolutismus in das Kaiserreich hinein."

"Wird es unser Jahrhundert endlich schaffen, eine umfassende Entkolonialisierung zu leisten?", fragt Michi Strausfeld in einem Artikel in der NZZ, in dem sie an die Kolonialzeit Mexikos erinnert: "Obwohl Lateinamerika bereits vor zweihundert Jahren seine Unabhängigkeit errang, bleiben viele Narben der drei Jahrhunderte währenden Kolonialherrschaft: eine hierarchische Gesellschaft, wo die Indigenen auf der untersten Stufe der Pyramide standen. Ungerechte administrative Strukturen, riesige Latifundien und Bodenschätze im Privat- oder ausländischen Besitz zementierten eine enorme Einkommensungleichheit, eine der höchsten der Welt. (…) 2021 feiert Mexiko also seine 200-jährige Unabhängigkeit und erinnert zugleich an den Fall von Tenochtitlán. Die Regierung von Präsident López Obrador weist nachdrücklich darauf hin, dass die Alte Welt eine Schuld zu begleichen hat, vor allem Spanien und die katholische Kirche. Er fordert Entschuldigungen von Krone und Vatikan für die Dezimierung und Ausbeutung der Indigenen, für ihre brutale Christianisierung, für die Vernichtung der autochthonen Hochkulturen."
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Gesellschaft

Bei einem Treffen hatte Maxim Biller Max Czollek vorgeworfen, ein "Faschings- und Meinungsjude" zu sein, der "linken Deutschen nach dem Mund" rede. Daraufhin empörte sich Czollek auf Twitter über diese "inner-jüdische Diskriminierung". In seiner Zeit-Kolumne erklärt Biller sich: "Warum wollten auf einmal so viele Leute Juden sein, dachte ich, und warum gingen sie trotzdem nicht zum nächstbesten Rabbiner und konvertierten? (...) Sie wollten am Ende eben doch keine Juden sein! Denn als echte Juden im Sinn einer zweitausend Jahre alten Tradition, rabbinisch und weltlich, würden sie garantiert keine BDS-Dschihadisten mehr verteidigen, die acht Millionen Israelis im Mittelmeer ertränken wollen. Sie würden aufhören, in so verwirrten, antijüdischen Juden wie Kurt Tucholsky oder Hannah Arendt ihre Vorbilder zu sehen. Und es würde ihnen nicht im Traum einfallen, die Verfolgung der europäischen Juden mit der Situation von Frauen, Schwulen und Muslimen von heute gleichzusetzen, so wie es Max eben auch noch bei seinem Vortrag über die Aufgaben und Schwächen des Archivs der Berliner Akademie getan hatte." Leisen Zweifel meldet Biller am Ende des Artikels dann doch an.
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Europa

Nach tumultartigen Szenen hat das polnische Parlament, der Sejm, dem umstrittenen Mediengesetz zugestimmt, das den in amerikanischem Besitz befindlichen regierungskritischen Sender TVN die Arbeitsgrundlage entziehen könnte (unser Resümee), berichtet die Welt mit Agenturmaterial: "Scharfe Kritik kam aus Washington. Das US-Außenministerium forderte die Regierung in Warschau auf, ihren Einsatz für demokratische Werte und Pressefreiheit unter Beweis zu stellen. Ranghohe Vertreter des US-Außenministeriums hätten in den Stunden vor dem Votum Kontakt mit polnischen Vertretern gehabt, sagte der Sprecher des Ministeriums."

Das Drama wird allerdings noch weitergehen, erläutern Steven Erlanger und Monika Pronczuk in der New York Times: "Damit das Gesetz in Kraft treten kann, muss es an den Senat weitergeleitet werden, der bereits von der Opposition kontrolliert wird und der einen Monat Zeit hat, um darüber abzustimmen. Wird es dort, wie erwartet, abgelehnt, muss es erneut vom Unterhaus mit absoluter Mehrheit verabschiedet und dann vom polnischen Präsidenten unterzeichnet werden. Es wird also noch erhebliche Debatten und Lobbyarbeit geben."

Die Regierungskoalition in Polen ist zu Ende, nicht aber das Regieren von Jarosław Kaczyński und seiner PiS, schreibt Florian Hassel in der SZ: Weil "die PiS für etwaige Überläufer ein reiches Repertoire an Posten und anderen Pfründen bereithält, stimmten schon Stunden nach Ende der Koalition fünf der neun bisherigen Gowin-Leute wieder mit der PiS. Auch mehrere Abgeordnete um einen populistischen Ex-Rocksänger und einige nominell unabhängige, doch ihr ideologisch nahestehende Parlamentarier stimmten bereits früher mit ihr. Kaczyński und die PiS werden an Macht und Regierung bleiben, womöglich bis zur nächsten, erst 2023 anstehenden Wahl."

Im Freitag fragt Wolfgang Michal unterdessen, ob Medienpolitik im deutschen Wahlkampf ausgespart werde, "weil sie die Interessen der Medieneigentümer tangiert".

Außerdem: In einem leicht phrasenhaften Artikel beklagen Hedwig Richter und Bernd Ullrich in der Zeit, dass die Politik heutzutage glaube, den Bürgern nichts mehr zumuten zu können, eine "demokratische Abirrung". Dabei seien Zumutungen "in die Verfasstheit liberaler Demokratien eingeschrieben". Welche Zumutungen genau sie wollen, sagen die beiden leider nicht, vielleicht ein paar Prozent mehr Steuern auf ihre schönen Gehälter?
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Internet

Der BGH urteilte vergangene Woche, dass Facebook und andere Plattformen Betroffene anhören müssen, bevor sie deren Posts löschen. (Unser Resümee) Da kommt einiges an Arbeit auf die Anbieter zu, schreibt der Medienrechtler Rolf Schwartmann in der Welt: "Anbieter müssen nun zunächst ein Anhörungsverfahren in den Nutzungsbedingungen schaffen. Bis dahin findet keine Prüfung von Inhalten nach Hausrecht statt. Wenn das Verfahren geschaffen ist, wird eine inhaltliche Prüfung jenseits der Strafbarkeit relevant. Anbieter müssen sich also neues Recht zu den inhaltlichen Fragen geben. Darin müssen sie die Grenze des nach Hausrecht Verbotenem, obwohl nicht Strafbaren in AGB-Bestimmungen klar fassen und sachlich begründen. Die Parameter dafür müssen sie unter Beachtung der Grundrechte der Berufsfreiheit und Meinungsfreiheit als Unternehmensrechte und der Nutzer Meinungsfreiheit und Gleichbehandlung, also Willkürverbot, als Nutzerrechte herausarbeiten. (…) Das Fehlen der Anhörung allein führt zur Unwirksamkeit der aktuellen Nutzungsbedingungen, der Grundlage für Löschung und Sperrungen von 'Hassrede', die nicht strafbar ist."
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