9punkt - Die Debattenrundschau

Dass wir alle sehr feinstofflich sind

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.11.2021. Hätte Europa eine gemeinsame Migrationspolitik, könnte es nicht von Lukaschenko erpresst werden, meint die SZ. Allerdings müsste die neue Bundesregierung zugleich gegen Russland eine härtere Linie fahren, fordert der Historiker Jan C. Behrends bei libmod.de. Die FAZ sieht Xi Jinping bei der Vergottung zu. Im Dlf sucht der Soziologe Oliver Nachtwey nach den Ursachen deutschen Impfversagens. Die taz liest eine deprimierende Studie zur Kontinuität der Nazis in der Justiz der Bundesrepublik. In der FR fordert Niall Ferguson einen kalten Krieg gegen China.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.11.2021 finden Sie hier

Politik

Gemessen an früheren Pandemien ist die Sterberate während der Coronapandemie niedrig, dafür gehört sie zu den ganz "großen Wirtschaftskatastrophen", sagt der Historiker Niall Ferguson im großen FR-Gespräch mit Michael Hesse, in dem er den USA auch zu einem Kalten Krieg mit China rät, um die USA aus ihrer "Selbstzufriedenheit" zu reißen: "Denn es bedarf ernsthafter Anstrengungen, um auf dem Gebiet strategisch wichtiger Technologien nicht gegenüber China ins Hintertreffen zu geraten. Und außerdem: China hat den USA den Krieg längst erklärt. Die Frage, die sich für uns stellt, ist, wie wir einen heißen Krieg verhindern können. Denn was wäre die Alternative? Den Fehler zu wiederholen, den die Briten im 20. Jahrhundert gemacht habe? (…) Wenn die USA irgendetwas vom 20. Jahrhundert lernen konnten, dann ist es das: Du musst China davon abhalten, jenes Risiko einzugehen, das die Deutschen 1914 und 1939 eingingen. Wenn Xi Jinping denkt, dass er sich Taiwan durch eine Militäraktion China einverleiben kann, weil die Amerikaner nach dem Afghanistan-Desaster nicht kämpfen, könnte ein Krieg wie 1914 ausbrechen. Deshalb rate ich den Vereinigten Staaten, die Bedrohung durch China ernst zu nehmen. Sie sollten Xi Jinping eindeutig signalisieren: Es ist zu riskant für dich, Taiwan einzunehmen."

Die "Resolution", mit der der chinesische Parteiführer Xi Jinping quasi vergottet wird, ist nun veröffentlicht und wird durch begleitende Pflichtlektüren, die den Chinesen künftig das Hirn verstopfen, unters Volk gebracht, berichtet FAZ-Korrespondentin Friederike Böge. Zu den Hauptpunkten gehören, wenig überraschend: "Die Disziplinierung der Partei durch ideologische Indoktrination und unbedingte Loyalität gegenüber dem 'Kern', also ihm selbst. Eine 'tief greifende Wende' in der Wirtschaftspolitik, wonach Wachstum nicht mehr 'der einzige Maßstab des Erfolges' sei, sondern 'gemeinsamer Wohlstand'. Eine Re-Ideologisierung aller Lebensbereiche, um dem 'schädigenden Einfluss westlicher politischer Ideen' wie der Gewaltenteilung entgegenzuwirken, sowie 'der Huldigung des Geldes, dem Hedonismus, dem Ultra-Individualismus und dem historischen Nihilismus', insbesondere im Internet."
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Europa

Wladimir Putins Russland ist in den letzten Jahren nach innen und außen immer aggressiver geworden und treibt diese Politik jetzt auf die Spitze. Das ist auch einer zu milden Politik Angela Merkels zu verdanken, die unter der Ampel unbedingt neu formuliert werden muss - in Richtung Containment, schreibt der Historiker Jan. C. Behrends bei libmod.de: Deutschland habe Wünsche der Ukraine nach Annäherung an Europa und Nato blockiert und im Minsker Prozess die Fiktion unterstützt, Russland sei bei der Besetzung der Ostukraine ein unbeteiligter Dritter. "In der Logik des Konfliktes bedeutet dies, dass die frühere Bundesregierung de facto die Position Moskaus unterstützt. Die zivile Unterstützung, die Deutschland der Ukraine im Reformprozess leistet, wird zwar anerkannt, aber sie reicht nicht aus, um ihre Souveränität langfristig zu sichern. Statt der Ukraine sollte es zukünftig der Kreml sein, der Zumutungen zu tragen hat."

Das Topthema im französischen Wahlkampf ist Terrorismus, von Rechten mit der Migrationsfrage verknüpft, schreibt Nadia Pantel in der SZ. Überhaupt wirkt Frankreichs Debattenkultur derzeit "wie die eines Stammtischs nach der vierten Runde Herrengedeck", so Pantel weiter, die bei dem Soziologen und Terrorismusexperten Michel Wieviorka nachgefragt hat: "'Die Tatsache, dass die Terrorangriffe in Frankreich nie aufgehört haben, hat dazu geführt, dass der Terror langfristige Folgen entwickeln konnte,' sagt Wieviorka. 'Der Terror hat zu einem verstärkten Wunsch nach autoritären Maßnahmen geführt und zu einer Sehnsucht nach autoritären Figuren. Die Toleranz hat abgenommen.' Die große internationale Solidarität nach dem Angriff auf Charlie Hebdo, die riesigen Anti-Terror-Demos in Paris - für Wieviorka sind das Ausnahmemomente, deren Wirkung inzwischen verblasst ist. '2015 gab es die Illusion einer nationalen Einheit, geprägt von Verständnis und Emotionalität. Aber diese Einheit war nicht von Dauer, sie wurde vom politischen Streit abgelöst.'"

Lukaschenko weiß, "dass er einer Gemeinschaft gegenübersteht, die in der Migrationspolitik tief gespalten ist und deren ethische Selbstverpflichtung und moralischer Anspruch nicht absolut sind, ja, dass da längst auch Bigotterie dabei ist", schreibt Matthias Drobinski in der SZ: "Europa ist auch erpressbar, weil die ins Irrationale überkochende Angst vor einer Wiederholung der Ereignisse von 2015 jeden realistischen wie humanitären Umgang mit Flucht und Migration unmöglich macht; weil die Halbherzigkeiten, die Widersprüche und Lebenslügen des Europas, das das Gute und die Moral für sich in Anspruch nimmt, nur allzu offensichtlich sind. Um das unvermeidliche Dilemma der Erpressung auszuhalten, bräuchte es aber Einigkeit, innere Stärke, einen Kompass, der durchs momentane Dickicht führt. Es bräuchte eine gemeinsame Migrationspolitik, die legale Wege zur Einwanderung öffnet, jenseits des Asylrechts. Es bräuchte ein gemeinsames europäisches Grenzregiment, das schnell auf ankommende Geflüchtete reagiert, faire Asyl- und Aufnahmeverfahren garantiert, aber auch schnell klärt, wer nicht bleiben kann."
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Medien

Die Versäulung des Internets schreitet munter voran. Google meldet in einem Blogbeitrag, dass es jetzt "Verträge mit deutschen Verlagen auf Basis des neuen Leistungsschutzrechts" geschlossen hat. Dazu gehören Häuser wie der Spiegel und die Zeit, FAZ und SZ und Springer-Medien werden noch nicht genannt. "Die Zahlungen an Verlage im Rahmen unserer Vereinbarungen richten sich nach anerkannten urheberrechtlichen Grundsätzen und erfolgen nach einheitlichen Kriterien. Die geschlossenen Verträge basieren auf wesentlichen Aspekten des neuen Leistungsschutzrechtes: Zum einen, dass sehr kurze Auszüge von Verlagsinhalten nicht unter das neue Leistungsschutzrecht fallen (sogenannte 'Snippet-Ausnahme'). Zum anderen, dass Presseverlage neue Rechte für solche online verwendeten Auszüge von Artikeln erhalten, die über sehr kurze Auszüge hinausgehen. Obwohl das Gesetz den Umfang geschützter Inhalte nicht genau definiert, haben wir uns entschieden, Lizenzverträge für 'Erweiterte Vorschauen von Nachrichten' abzuschließen." Wenn sich die Zahlungen "nach anerkannten urheberrechtlichen Grundsätzen" werden sie ja sicherlich demnächst auch beziffert.

In der SZ berichtet Frank Nienhuysen, wie die belarussischen Staatsmedien an der Grenze Propaganda gegen die EU machen: ""Was wir hier sehen, ist Teil eines hybriden Krieges', sagt Alina Koushyk der SZ am Telefon. 'Jeden Tag wird im belarussischen Staatsfernsehen Polen als schlechtes Land dargestellt, werden Bilder von Kindern mit traurigen Augen gezeigt.' Alina Koushyk ist eine belarussische Fernsehjournalistin, die in Warschau für den Exilsender Belsat arbeitet. Sie erzählt von einem Bericht im belarussischen Staatsfernsehen, das einen etwa zehn bis zwölf Jahre alten weinenden Jungen zeigt und der schreit, er wolle nach Polen. Auf einem Video im Messengerdienst Telegram aber sei zu sehen gewesen, wie dessen Eltern mit Zigarettenrauch ganz nah an das Kind herangegangen seien, um das Weinen zu verstärken. Für andere Bilder hätten Kinder auf Anweisung ihre Schuhe ausgezogen, um den Eindruck der Hilfsbedürftigkeit zu vergrößern."
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Gesellschaft

Miguel de la Riva lehnt in der FAZ eine rigorose Impfplicht zwar ab, aber das heißt nicht, dass man nicht Druck auf die Ungeimpften machen dürfe: "Wer sich einer Impfung aus letztlich irrationalen Motiven verweigert, wird darum nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen. Er hat der Gesellschaft selbst den Rücken gekehrt, indem er begründete Solidaritätserwartungen missachtete. Sowenig wie behauptet werden kann, der Staat bestrafe oder schikaniere Raucher, weil er ihnen untersagt, andere mit ihrem Verhalten zu schädigen, so wenig können Ungeimpfte behaupten, bestraft oder schikaniert zu werden, wenn sie nun im öffentlichen Leben erheblich eingeschränkt werden, weil sie angesichts der aktuellen Entwicklungen eher früher als später eine potenziell tödliche Krankheit übertragen werden."

Die niedrige Impfquote in Deutschland, Österreich und der Schweiz hat mit dem Föderalismus, aber auch mit der Verbreitung der Anthroposophie zu tun, sagt der Soziologe Oliver Nachtwey im Dlf-Interview mit Philipp May, in dem er auch darauf zu sprechen kommt, weshalb viele Migranten nicht geimpft sind: "Aus zwei Gründen. Erst mal, dass Migranten häufig eine Sprachbarriere haben und sehr stark ihr Leben in ihren eigenen, vornehmlich migrantisch geprägten Netzwerken leben, und auch teilweise eine gewisse Staatsskepsis aus mehr oder minder guten Erfahrungen mit dem Staat haben. Aber das sind Elemente, die man überwinden kann. Es gibt bei den Migranten keine prinzipielle Impfskepsis, zumindest nicht in diesem Ausmaß, sondern das kann man eigentlich über eine gute Aufklärungskampagne ganz gut angehen."

Im NZZ-Interview mit Paul Jandl spricht der österreichische Kabarettist Josef Hader über die Monarchie im Genom der Österreicher und die niedrige Impfquote in seiner Heimat: "Vielleicht hat es damit zu tun, welchen Stellenwert Wissenschaft hat. Oder überhaupt der Fortschritt. Dass die Franzosen einen hohen Fortschrittsglauben haben, weiß man spätestens seit den 'Fantomas'-Filmen der sechziger Jahre. Oder wenn man französische Autos fährt. Große Technikbegeisterung, aber es funktioniert halt nicht immer. Die Heilpraktiker-Idee, dass wir Menschen alle sehr feinstofflich sind und die Schulmedizin dafür viel zu grob, ist schon etwas sehr Deutsches und Österreichisches."

"Warum wurden Impfkampagnen oder strengere Maßnahmen oder wenigstens berechenbare Infektionsverläufe nicht schon dann zur Kenntnis genommen, als die Situation noch weniger bedrohlich war?", fragt Armin Nassehi in der SZ und erklärt die Trägheit der Entscheidungsfindung systemtheoretisch: "Wäre eine 2-G-Regel nicht sinnvoller, bevor man sie unbedingt braucht? Wäre eine Diskussion über berufsspezifische Impfpflichten nicht lösungsorientierter, bevor sogar diejenigen mitmachen, die es so gar nicht wollen - eben weil es nicht anders geht? Ja, Suggestivfragen - aber typisch dafür, dass eben auch politische Systeme, Überzeugungen, Routinen, Erwartungen, Illusionen und Diskurse prinzipiell träge sind. Vielleicht sind biologische und auch soziale Systeme per se konservativ: weil sie das Überleben gelernt haben, indem Anpassung ihre Maxime ist." Hätte man nur auf die Wissenschaft gehört, aber: "Man hat so getan, als sei die Unsichtbarkeit des Problems gleichbedeutend mit seiner Abwesenheit."
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Ideen

Annette Jensen und Ute Scheub schreiben in der taz einen Nachruf auf die Autorin und Forscherin Silke Helfrich, die in Deutschland maßgeblich die Idee der "Commons" wieder ins Spiel brachte. Sie ist im Alter von 54 Jahren beim Bergsteigen ums Leben gekommen. "Ihr ist zu verdanken, dass sich die Debatte immer stärker von einer vor allem wirtschaftlichen Perspektive emanzipierte. Nicht Güter oder Gegenstände stehen in der heutigen Commonsdebatte im Zentrum, sondern die Beziehungen der Beteiligten untereinander und zur Welt."
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Stichwörter: Commons, Helfrich, Silke

Geschichte

Dass es schlimm war, wusste man, aber so schlimm? Historiker Friedrich Kießling und der Rechtsprofessor Christoph Safferling haben eine Studie über Nazis bei der Bundesanwaltschaft vorgestellt, über die Konrad Litschko in der taz berichtet: "Die Bundesanwaltschaft wurde damals maßgeblich von einstigen NSDAP-Mitgliedern geführt, einen personellen Bruch mit dem NS-Zeit gab es nicht. So seien noch 1953 80 Prozent der Juristen der Behörde auch schon vor 1945 im NS-Justizsystem tätig gewesen. Bei den leitenden Bundes- und Oberstaatsanwälten waren es auch zehn Jahre später noch 75 Prozent. 1966 seien zehn von elf Bundesanwälten ehemalige NSDAP-Mitglieder gewesen, auch in den Siebziger Jahren sei der Anteil 'noch erheblich' geblieben. Gerade mit Blick auf den damals stattfindenden gesellschaftlichen Umbruch sei diese Form der NS-Kontinuität erstaunlich und 'häufig nicht gesehen worden', konstatieren die Forscher." (Vielleicht wäre es an der Zeit, Jörg Friedrichs Buch "Die kalte Amnestie - NS-Täter in der Bundesrepublik" von 1983 mal wieder aufzulegen?)
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