9punkt - Die Debattenrundschau

Rapider Wertverfall der Weltmacht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.12.2021. In der Coronakrise hat sich eine Führungsschwäche der politischen Elite gezeigt, konstatiert die Politologin Christine Landfried in der FAZ : Man handelt lieber nicht und wartet aufs Gericht. Im Standard sehnt sich Kulturkritiker Hartmut Rosa in den Plattenladen zurück. Bei emma.de gibt Alice Schwarzer der frisch gebackenen Ministerin Annalena Baebock Empfehlungen für eine feministische Außenpolitik. Eine Demokratie, die funktioniert, gibt es doch: China, findet China laut Zeit online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.12.2021 finden Sie hier

Europa

In der Coronakrise, die sich ausgerechnet im Interregnum verschärfte, hat sich eine "Führungsschwäche der politischen Elite" gezeigt, schreibt die Politologin Christine Landfried in der FAZ. Politik warte lieber ab. Im Wahlkampf habe man das Corona-Thema nicht angefasst, um niemanden, auch Impfgegner nicht, zu verschrecken. Es zeige sich, "dass Politikerinnen und Politiker immer häufiger ihrer Aufgabe nicht nachkommen, auf der Basis öffentlicher Debatten und in Kenntnis der Sorgen der Bevölkerung die gesellschaftlichen Probleme im Interesse des Gemeinwohls zu lösen. Stattdessen erwarten sie vom Bundesverfassungsgericht, auf politisch umstrittene Fragen eine Antwort zu geben. Dies führt zu einer übermäßigen Verrechtlichung der Politik, die der Demokratie schadet."

Bei emma.de gibt Alice Schwarzer der frisch gebackenen Ministerin Annalena Baebock Empfehlungen für eine feministische Außenpolitik: "Wenn die deutsche Außenministerin China wegen seiner Repressionen gegen die muslimischen Uiguren mit Konsequenzen droht, wird das Reich der Mitte nicht erzittern. Die Chancen auf Einflussnahme sind Machtfragen, und China ist mächtiger als Deutschland. Aber in zahlreichen islamischen Ländern, Afghanistan allen voran, ist man auf Handel mit und Unterstützung durch den Westen angewiesen. Hier könnten wir etwas erreichen. Wenn wir nur wollen."

Zaal Andronikashvili, Mitarbeiter des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin, beschreibt in der FAZ die kulturpolitische Gleichschaltung Georgiens. "Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Demontage der Demokratie in Georgien endgültig ist. Natürlich mögen angesichts der drohenden Invasion Russlands in die Ukraine und der von Lukaschenko orchestrierten Flüchtlingskrise an der Grenze zur EU Probleme in Georgien aus europäischer Sicht eher klein und bedeutungslos erscheinen. Doch man sollte nicht die Augen davor verschließen, dass die Zustände in Georgien ein Teil der Entwicklungen im Osten Europas sind."

"Wie ein Mafiaboss schafft Putin ein Problem und bietet dann an, es zu lösen - zu einem von ihm festgesetzten Preis", schreibt der britische Sicherheitsexperte Edward Lucas bei libmod.de. Der Westen darf sich nicht darauf einlassen, so Lucas: "Die Ukraine ist das unmittelbare Ziel, weil sie eine Bedrohung für Putin darstellt: nicht militärisch, sondern politisch. Wenn das andere große, mehrheitlich orthodoxe Land der ehemaligen Sowjetunion in Freiheit gedeihen kann, warum müssen die Russen dann die korrupte, aufgeblasene, repressive und stagnierende Herrschaft von Wladimir Putin ertragen? Russische Propagandisten stellen die Ukraine als einen scheiternden Staat und ein faschistisches Höllenloch dar, weil ihr Erfolg als multiethnische, mehrsprachige Mehrparteiendemokratie (mit einem Präsidenten, der übrigens sowohl Jude als auch russischer Muttersprachler ist) unerträglich ist."
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Politik

Amerika ist wieder da, hatte Joe Biden behauptet. Ende der Woche veranstaltet er einen internationalen Demokratiegipfel (mehr hier). Aber Amerika, schreibt Majid Sattar in der FAZ, steht auf wackeligen Beinen, weil es innerlich angegriffen ist: "Zwei Drittel der Wähler Trumps behaupten bis heute, ihrem Präsidenten sei durch Wahlbetrug die zweite Amtszeit gestohlen worden. Der Republikaner ist trotz seiner Verantwortung für den Sturm auf das Kapitol längst dabei, seine Rückkehr ins Weiße Haus zu planen. Biden steht daher nicht nur zu Hause unter Druck. Auf sein Mantra, Amerika sei wieder da, entgegnen die Vertreter gleichgesinnter Staaten: Für wie lange? Es herrscht Misstrauen auch im Westen - ein rapider Wertverfall der Weltmacht."

China ist zu Bidens Demokratiegipfel ausdrücklich nicht eingeladen worden. Die chinesische Führung revanchiert sich, indem sie noch vor dem Gipfel ein offizielles Weißbuch mit dem Titel "China: Demokratie, die funktioniert" herausgebracht hat. China will damit seine "ganzheitlich-prozedurale Demokratie" genannte Einparteienherrschaft als "einzigartige Anwendung demokratischer Prinzipien" verkaufen, erklärt Michael Radunski auf Zeit online. "Am Samstag bei der Vorstellung des Demokratieweißbuches erklärten mehrere KP-Funktionäre das Konzept. Es handele sich um ein 'neues Modell von Demokratie, das China entwickelt hat'. Die Bewertung jener Demokratie lieferten die KP-Offiziellen gleich mit: Chinas Demokratie sei umfangreicher, authentischer und effektiver als die amerikanische. US-Politiker würden willkürliche Versprechen abgeben, nur um gewählt zu werden. Vordergründig akzeptieren sie durch Wahlen eine Kontrolle durch die Bevölkerung, aber in Wirklichkeit hätten die Bürger nach einer Wahl keine Einflussmöglichkeit mehr und müssten bis zur nächsten Wahl hilflos dem Handeln der Regierung zusehen." In China ist das natürlich ganz anders!

Im Interview mit der Welt kritisiert Ai Weiwei einmal mehr die in seinen Augen anbiedernde Haltung des Westens an China: "Sogar die New York Times hat Meinungsartikel veröffentlicht, in denen es heißt: Vielleicht sollten wir nicht mehr ständig dagegen ankämpfen, sondern Chinas Dominanz einfach akzeptieren. Aber was würden wir da akzeptieren? Um wirtschaftlich mit dem Westen gleichzuziehen, hat China in den letzten 30, 40 Jahren all das getan, was der Westen nicht tun durfte. Es hat sich nicht um Arbeitnehmerrechte, die Gesundheit seiner Bevölkerung, die Umwelt, Menschenrechte und die Redefreiheit geschert. Der Westen und China sind so ein Dreamteam geworden. Der Westen liebt es! ... Im Westen muss man mit zwei, drei oder fünf Parteien jahrelang diskutieren und kämpfen und erreicht am Ende vielleicht trotzdem nichts. In China kann alles von einem einzigen Führer entschieden werden. In China heißt es: 'OK, lasst uns zu Abend essen!' Und am nächsten Tag ist alles geregelt. Dann kann Volkswagen einfach so eine Fabrik bauen. Dann kann man alles machen!"
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Medien

Neulich hatte die SZ von krassen israelfeindlichen Äußerungen arabischer Mitarbeiter der Deutschen Welle berichtet (unser Resümee). In der taz greift nun Peter Weißenburger Recherchen des Online-Magazins Vice auf, das die Vorwürfe ausweitet. Die Deutsche Welle hat seit Jahren mit dem jordanischen Sender Roya TV zusammengearbeitet, der Chef der Deutschen Welle hat dessen Chef Fares Sayegh sogar mit einem Preis für Meinungsfreiheit ausgezeichnet. Aber der Sender ist strikt antiisraelisch eingestellt: "Vice hatte enthüllt, dass Roya TV, das mit der DW unter anderem die Show 'Jaafar Talk' produzierte, Israel nicht als Staat anerkennt, sondern konsequent von der 'israelischen Besatzung' spricht. Vice berichtete außerdem von Landkarten ohne Israel und antisemitischen Karikaturen, die der Sender auf den sozialen Medien geteilt hatte. Die DW teilte Vice zunächst mit, Roya TV sei 'nicht israelfeindlich'. Diese Einschätzung nahm der Sender nun mit Bedauern zurück."

Jürg Altwegg erzählt in der FAZ, wie der fundamentalistische Katholik und Milliardär Vincent Bolloré in Frankreich ein Medienimperium ohne gleichen aufbaute, das er nun dazu nutzt, Eric Zemmour groß zu machen (unsere Resümees über Bolloré): "Den biederen Nachrichtenkanal von Canal+ hat Bolloré in CNews umbenannt und zu einem 'Fox News auf Französisch' gemacht. Er war das Schlusslicht unter den News-Sendern. Immer öfter aber erreicht CNews inzwischen die höchsten Einschaltquoten. Bolloré persönlich hatte vor zwei Jahren die tägliche Talkshow - 60 Minuten zur besten Sendezeit - für Eric Zemmour verfügt. Sie wurde zum Sprungbrett für dessen Präsidentschaftskandidatur."
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Gesellschaft

Die Impfgegnerschaft vieler Ostdeutscher ist ein Echo der Wiedervereinigung, meint der Autor Lennart Laberenz in der taz: "Das Elitenprojekt Sozialabbau, Beschneidung der Daseinsvorsorge, komplementiert mit militanter Forderung von Selbstverantwortung schallt nun aus dem Wald zurück als komplette Unfähigkeit, einen Gemeinschaftsbegriff zu denken. Der Wald bedeckt auch Teile der Mitte der ostdeutschen Gesellschaft. Von hier halten Menschen einer Mehrheit ihre Hartleibigkeit entgegen, die sie sich im Wettbewerb aller gegen alle angelegt haben."

In der Welt bekennt sich der Journalist Tim Röhn zur Coronaskepsis: "Gerade stehen die Ungeimpften im Fokus der Empörung, es wird schon diskutiert, ob man sie behandeln soll, wenn sie wegen Corona in die Klinik müssen. Motto: selbst schuld, wenn dich Corona trifft. Was ist, wenn einmal mit anderen Gruppen so umgegangen wird? Mit Rauchern etwa. Und wollen wir noch jene behandeln, die als Folge des Alkoholkonsums krank werden?"
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Ideen

Wir haben zu viel Kapitalismus, zu viel Digitalisierung, zu viel Beschleunigung, zu viel Verfügbarkeit kritisiert im Interview mit dem Standard der Soziologe Hartmut Rosa. "Wir haben ein aggressives Grundverhältnis zur Welt. Jeder blinde Fleck muss sofort und mit allen Mitteln verfügbar gemacht werden. Diese Art der Aneignung erfüllt uns aber nicht. Mein Lieblingsbeispiel sind die Streamingplattformen: In der analogen Welt hat man stundenlang in Plattenläden nach der einen Schallplatte gesucht, hat sie dann wie einen Schatz nach Hause getragen, gehütet und gesammelt. Heute haben wir 100 Millionen Musiktitel gratis auf Spotify abrufbereit. Diese permanente Verfügbarkeit und Überforderung führt nun eher dazu, dass uns die Musik gleichgültig wird. Die Menschen hören Playlists ohne zu wissen, was und wen sie da gerade hören. Musik wird im eigenen Leben zu einem substanzlosen Stimmungsaufheller. Das wiederum war nicht das bildungsbürgerliche Ideal."

Wir dagegen haben auf Spotify Ichiko Aobo entdeckt, die Rosas Phantomschmerzen vielleicht heilen kann:

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