9punkt - Die Debattenrundschau

Dann habe H. sich ausgezogen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.01.2022. Der Fall des "notorischen Wiederholungstäters Peter H.", der gerne mit elfjährigen Jungen schlief, wirft kein besonders gutes Licht auf Expapst Benedikt XVI., konstatiert unter anderem die SZ. Begeistert greift Lothar Machtan in der Welt einen Vorschlag des Hohenzollern-Vertreters Georg Friedrich auf, eine "kritische" Ausstellung über die Familie zu bringen - mit dem "royalen Frühstücksservice" ließe sich endlich Aufklärung schaffen. Heise.de erklärt, warum eine Telegram-Abschaltung auch nichts bringt. Die FAZ zitiert kritische ukrainische Stimmen zur deutschen Position im Konflikt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.01.2022 finden Sie hier

Religion

Ein tausendseitiges Gutachten der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) bringt neue Fakten zum Missbrauch in der katholischen Kirche, auch in der Diözese des ehemaligen Münchner Erzbischofs Josef Ratzinger. Dieser antwortete in einem achtzigseitigen Papier voller frommer Bestürzung und harter formaljuristischer Abwehr konkreter Vorwürfe, schreibt eine Autorengruppe in der SZ: "Da ist zum einen das Beispiel des Priesters und notorischen Wiederholungstäters Peter H., der 1980 aus Nordrhein-Westfalen kam. Die Akten legen nahe, dass Ratzinger über dessen problematische Vorgeschichte informiert war und an einer entscheidenden Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980 teilgenommen hat. Der frühere Erzbischof streitet dies zwar ab, die Gutachter halten dessen Einlassung aber für 'unglaubwürdig'." Der Kirchenredakteur der FAZ Daniel Deckers schreibt schlicht von "Benedikts Lüge". Mehr Informationen hier. Der "Eckige Tisch", eine Betroffenenvertretung, bringt eine Presseschau zu den jüngsten Enthüllungen.

Ihr Sohn Wilfried sei so nett, hat der Priester Peter H. den Fesselmanns gesagt, er dürfe im Pfarrhaus übernachten. Die Eltern freuten sich über diese Ehre, erinnert sich Wilfried Fesselmann in der Seite 3-Reportage der SZ: Am Abend hätten der Priester und der Elfjährige "erst geredet, dann habe ihm der Priester 'was Tolles' zu trinken gegeben. Später habe Peter H. die Türen abgeschlossen und das Gespräch aufs Geschlechtsteil gelenkt. Dann habe H. sich ausgezogen - und es sei geschehen. 'Am anderen Morgen lag ein Zettel am Bett', erinnert sich Fesselmann: 'Bitte geh nach Hause und vergesse es schnell.'" Die Untaten des Priesters Peter H. in Ratzingers Diözese wurden von der Kirchenhierarchie immer nur vertuscht, so das Gutachten der Kanzlei. Nicolas Richter kommentiert in der SZ: "Der Skandal ist der einzige Teufel, der die Kirche wirklich schreckt."
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Geschichte

Die evangelischen Theologen Peter und Gabriele Scherle kritisieren in der FAZ den Text des Historikers Wolfgang Reinhard gegen eine angebliche "deutsche Holocaust-Orthodoxie" (unsere Resümees): "Ganz anders, als es Reinhard erwägt, ist das 'alltägliche Vergessen' des Holocausts nichts, was für die Täter oder, wie er es formuliert, 'das Volk der Täter' eine Hoffnung beinhaltet. Alltägliches Vergessen wäre kein erlösendes Vergessen, sondern eines, das 'auf ewig' an die Taten bindet, die mit dem Holocaust verbunden waren."

Begeistert greift der Historiker und Hohenzollern-Versteher Lothar Machtan den Vorschlag des aktuellen Prinzen Georg Friedrich zu einer Ausstellung zur Verstrickung seiner Familie in den Nationalsozialismus auf. Diese Ausstellung solle durchaus kritisch sein. Beleuchtet werden soll für Machtan, den Tilman Krause in der Welt interviewt, aber auch "der postmonarchische Lebenszusammenhang derjenigen, die eigentlich berufen waren, den deutschen Kaiserthron zu beerben, dieses Erbe aber infolge der deutschen Novemberrevolution nicht antreten durften." Da Machtan das Privatarchiv der Familie kennt, weiß er auch schon, wie er die kritische Ausstellung bestücken könnte, zum Beispiel mit "gedruckten Speisekarten für Gala-Diners auf Cecilienhof; dem royalen Frühstücksservice; Wilhelms Lieblingsuniform als Kommandeur des Leibhusaren-Regiments mit dem Totenkopf auf der Pelzmütze".
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Gesellschaft

Hazel Rosenstrauch hat für den Freitag zu antisemitischen Skulpturen und Reliefs recherchiert, die viele Kirchen in Deutschland (und nicht nur dort) verunstalten, etwa in Wittenberg. Dabei kommt sie aber auch noch auf ein anderes Thema zu sprechen, die Inflation der "Beauftragten": "Für den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung ist 'die Wiederanbringung des Judensau-Reliefs nach der Restaurierung völlig unverständlich'. Beim Weitergoogeln staune ich, wo es überall Beauftragte zur Bekämpfung des Antisemitismus gibt: In jedem Bundesland, bei der Generalstaatsanwaltschaft, der Polizei, der EKD, in jüdischen Gemeinden sowieso, aber auch die AfD hat eine Beauftragte - sie heißt Beatrix von Storch. Spätestens hier scheint mir ein gewisses Misstrauen angebracht."
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Überwachung

Nein, heise.de-Redakteur Axel Kannenberg will partout nicht, dass die neue Innenministerin Nancy Faeser Telegram abschaltet. Die Coronaleugner würden nur den Kanal wechslen, und er verlöre den Messenger, den er nun mal nutzt. Und das Abschalten hat für ihn eine Tendenz: "Wer als Rechtsstaat einmal keine Abschaltung ausschließen mag, der findet dann auch beim nächsten Mal wohl kaum ein Ende. Oder doch, nämlich eins der demokratischen Kultur und des offenen Internets, wie wir es kennen und mehrheitlich auch schätzen. Denn dann trennt uns online auch nicht mehr so viel von Ländern wie Kasachstan, die bei Demonstrationen das Internet abklemmen, oder China, wo die Great Firewall die unerwünschten Dienste aussperrt. Dann gibt es für Telegramisten wie mich sicher auch 'berufliche Weiterbildungen', wo dann Parolen einstudiert und Schilder hochgehalten werden, auf denen steht 'Ich liebe die Bundesinnenministerin'."
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Europa

Die Stadt München hat einer Veranstaltung von Israelboykotteuren des BDS keinen Saal geben wollen. Aber Städte dürfen solche Verbote nicht aussprechen, hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, berichtet Christian Rath in der taz: "Eingriffe in die Meinungsfreiheit seien laut Grundgesetz nur durch und auf Grundlage von 'allgemeinen Gesetzen' möglich, sagte die Vorsitzende Richterin Ulla Held-Daab. Diese Anforderung verfehle das Münchener Raumverbot jedoch gleich dreifach, so das BVerwG. Erstens sei ein Stadtratsbeschluss kein Gesetz. Zweitens sei der Münchener Beschluss nicht meinungsneutral. Und drittens sei er auch nicht zum Schutz allgemeiner Rechtsgüter erforderlich. (...) Zukünftig dürfen Städte also nur dann kommunale Räume für BDS-Veranstaltungen verweigern, wenn eine ernsthafte Gefahr von Straftaten droht, etwa Volksverhetzung und Beleidigungen."

FAZ-Korrespondent Gerhard Gnauck resümiert einige Äußerungen ukrainischer Intellektueller wie Oksana Sabuschko und Jurij Andruchowytsch zur knieweichen deutschen Position gegenüber Russland: "Deutschland gilt in der Ukraine wie auch in manchen ihrer Nachbarländer vielen als unsicherer Kantonist im westlichen Lager, einigen auch als Spießgeselle Russlands. Dass ausländische Politiker sich über die Lage im Osten Europas immer wieder 'zutiefst besorgt' zeigen, ist zum geflügelten Wort geworden. Die Besorgnis soll Untätigkeit verdecken, glaubt nicht nur der Journalist Iwan Jakowyna, der für das Portal nv.ua schreibt, das seit dieser Woche neben einer ukrainischen und russischen Version auch eine englischsprachige anbietet. Jakowyna spöttelt, Bundeskanzler Olaf Scholz habe sich 'wieder super-puper besorgt geäußert'.  Gnauck verweist auch auf einen Artikel des britischen Verteidigungsministers Ben Wallace auf der Website der britischen Regierung, auf den in der Ukraine Bezug genommen wird.

Auch Matthew Karnitschnig, Korrespondent von politico.eu attackiert die schwache deutsche Antwort auf die russischen Provokationen und attackiert nebenbei die Autorin Annika Brockschmidt, deren Bestseller "Amerikas Gotteskrieger" für ihn eine antiamerikanische Wende in der deutsche Debatte repräsentiert. Er wirft Brockchmidt auch nachlässige Recherche vor, die auf Verifikation vor Ort verzichtet habe: "In amerikanischen Augen ist Brockschmidts Arbeit eine offensichtliche Karikatur. Daten, die ihrer Darstellung einer schleichenden radikalen christlichen Übernahme der USA widersprechen, wurden einfach ignoriert. So zitiert Brockschmidt beispielsweise 34 Mal Ergebnisse des Pew Research Center zu Religion und anderen Bereichen. Auffällig ist, dass in ihrem Bericht eine im letzten Jahr von Pew veröffentlichte Studie fehlt, aus der hervorgeht, dass die Zahl der Amerikaner in beiden Parteien, die die christliche Religion für wichtig halten, um 'wirklich amerikanisch' zu sein, rapide abnimmt."

Roberta Metsola aus Malta ist nach Simone Veil und Nicole Fontaine neulich zur dritten weiblichen Präsidentin des Europaparlaments gewählt worden. Dass sie eine strikte Abtreibungsgegnerin ist, spielte in der Berichterstattung kaum eine Rolle, notiert Inge Hüsgen bei hpd.de: "So stimmte sie für keine einzige Resolution des EU-Parlaments, die das Recht von Frauen auf Abtreibung stärkt. 2015 hatte sie gemeinsam mit zwei ParteikollegInnen gegen den Tarabella-Report votiert, der einen Zugang zu Verhütung und Schwangerschaftsabbruch fordert... Das erzkatholische Malta ist der einzige EU-Staat, in dem Abtreibungen komplett verboten sind - selbst nach einer Vergewaltigung, wenn das Kind schwerbehindert oder nicht lebensfähig ist oder die Schwangerschaft das Leben der Frau bedroht."

Der Vater von Dänemarks Integrationsminister Mattias Tesfaye kam aus Äthiopien. Er selbst war erst Maurer und Aktivist einer kommunistischen Splitterpartei, bevor er 2012 zu den Sozialdemokraten wechselte, wo er seit 2019 eine Flüchtlingspolitik betreibt, die der Linken inzwischen als abschreckendes Beispiel dient. "Wenn Sie den historischen Hintergrund betrachten, ist es völlig normal für linke Politiker wie mich, nicht gegen Migration zu sein, aber darauf zu bestehen, dass sie unter Kontrolle ist", erklärt Tesfaye im Interview mit der NZZ. "Falls sie das nicht ist - und sie war es nicht ab den 1980er Jahren -, zahlen Schlechtverdiener und schlecht gebildete Leute den höchsten Preis für eine Integration, die nicht funktioniert. Es sind nicht die reichen Quartiere, die am meisten Kinder integrieren müssen. Vielmehr müssen Gebiete, in denen die klassischen sozialdemokratischen Wähler und Gewerkschafter leben, mit den größten Problemen umgehen." Er ist dafür, die Ansprüche von Flüchtlingen und Asylbewerbern in dem Land zu überprüfen, aus dem sie kommen: "Es muss eine richtige Zusammenarbeit geben mit unserem Partnerland. Migration betrifft diese Länder auch, weil sie viele junge Männer verlieren, und die Industrie der Menschenschmuggler ist ein Problem. Das müssen wir berücksichtigen. Zum Beispiel, indem unser Partnerland ein Asylzentrum betreibt, während wir es jungen Leuten erlauben, in Dänemark zu studieren."
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