9punkt - Die Debattenrundschau

Wie ein Wetterfrosch im Klimawandel

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.12.2022. Der Raum für Widerstand in Afghanistan hat sich stark verkleinert, sagt die afghanische Menschenrechtlerin Shaharzad Akbar in der taz nach dem Ausschluss von Frauen aus Hochschulen - was bleibt sind Stipendien westlicher Länder. Es gibt kein "blühendes jüdisches Leben" in Deutschland, nur ein potemkinsches Stetl, das die Deutschen feiern, während nicht weit entfernt davon ein Genozid stattfindet, schreibt Henryk M. Broder in der Welt. Bertelsmann geht's zwar prächtig, aber Schöner wohnen, Brigitte und Geo werden noch gründlicher entsorgt als bisher bekannt, berichtet die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.12.2022 finden Sie hier

Gesellschaft

In der Welt macht sich Henryk M. Broder zum Jahresende noch einmal Luft: Auf der einen Seite Intellektuelle, die den Völkermord an den Ukrainern lieber "differenziert" betrachten möchten, auf der anderen Seite ein Kanzler, der in einer jüdischen Schule "wieder blühendes jüdisches Leben" in Deutschland feiert. Aber: "Es gibt kein deutsches Judentum mehr - nicht zufällig heißt der 'Zentralrat der Juden in Deutschland' so wie er heißt, und nicht etwa 'Zentralrat der deutschen Juden'. Auf den ersten Blick ein kleiner, aber doch wichtiger Unterschied. Und was da angeblich wieder 'blüht', ist ein Potemkinsches Stetl, das von der Bundesregierung aus PR-Gründen unterhalten wird. (…) Ich fürchte, es ist nicht die Zeit, über ein blühendes jüdisches Leben in Deutschland zu fantasieren, während mehr als zwei Dutzend 'Antisemitismus-Beauftragte' auf kommunaler, Landes- und Bundesebene mit dem Registrieren judenfeindlicher Übergriffe nicht nachkommen. Was da blüht und gedeiht, ist allenfalls eine Bürokratie, die dem Antisemitismus ebenso hilflos gegenübersteht wie ein Wetterfrosch dem Klimawandel."

Deutschland muss interkulturelle Kompetenz nachholen, fordert Rameza Monir in der taz. Die Berichterstattung der deutschen Medien über die Fußball-WM sei rassistisch gewesen und habe die Sitten und Gebräuche in Katar nicht respektiert: "Als unüblich empfand es RTL Sport, als Katars Premierminister Al Thani bei der Schiedsrichterehrung nach dem Spiel um den dritten Platz Neuza Back, der vierten Offiziellen des Schiedsrichter-Teams, nicht die Hand schüttelte. Ich frage mich, wieso mir als muslimische Person in Deutschland gesagt wird, ich solle mich an die Normen und Sitten des Landes halten und zur Begrüßung die ausgestreckte Hand zwanghaft entgegennehmen, während gleichzeitig ein muslimisches Land die eigenen Werte und Normen nicht so eindeutig vertreten darf?" (Möglicherweise würde er das anders sehen, wenn man ihm in Deutschland als einzigem die Hand nicht schütteln würde, weil er Muslim ist.)
Archiv: Gesellschaft

Medien

Bertelsmann geht's laut SZ-Informationen prächtig, trotzdem sollen Zeitschriften wie Brigitte, Gala, Schöner Wohnen und die bisher "sicher geglaubte" Geo vermutlich schon im ersten Quartal 2023 veräußert werden, meldet Anna Ernst in der SZ. (Unsere Resümees) Die Bieter bringen sich bereits in Stellung, die Stimmung in den Magazinen ist angespannt. Die Pläne von Bertelsmann-CEO Thomas Rabe das Angebot aus TV und Print zu bündeln und eine der größten Redaktionen Deutschlands zu schaffen, liegen derweil brach, so Ernst weiter: "Mittlerweile hat Thomas Rabe persönlich den Vorsitz der Geschäftsführung von RTL Deutschland mitsamt dem einverleibten Printgeschäft übernommen. Praktisch: Als Vorstandsvorsitzender von Bertelsmann und Geschäftsführer der gesamten RTL Group kontrolliert er sich in der neuen Funktion quasi selbst. Die korrigierende Rolle des Aufsichtsrates? Nicht in Sicht. Weiß man dort im Detail Bescheid, was Rabe da gerade veranstaltet? Nun führt Thomas Rabe nach SZ-Informationen auch die Verkaufsverhandlungen mit den bisherigen Konkurrenzverlagen. Damit könnte er - acht Jahre nach seinem 'Bekenntnis zum Journalismus' - als der Mann in die deutsche Nachkriegsgeschichte eingehen, der am schnellsten den Niedergang eines großen Traditionsverlags herbeigeführt hat."
Archiv: Medien

Europa

Frauen in der Kriegsberichterstattung haben den Blick auf Krieg und Konflikt verändert, hält die Journalistin Katrin Eigendorf in der FR fest: Die Schicksale von Frauen erhielten plötzlich mehr Gewicht, auch im Krieg gegen die Ukraine: "Der Krieg trifft die Ukrainerinnen auf besondere Art: Auch weil die Männer in der Armee und der Territorialverteidigung kämpfen, bleiben sie oft alleine zurück mit der Verantwortung für die Kinder, und fallen damit auf Rollenbilder zurück. Und weil Russlands Krieg sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung richtet, erleben Frauen sexuelle Gewalt. Dabei waren die Ukrainerinnen gerade erst dabei, ihre Gleichberechtigung mühsam zu erringen. Im Parlament sind unter den 420 Abgeordneten gerade einmal 86 Frauen. Auch im Kabinett sind Männer nach wie vor in der großen Mehrheit: Von 23 Ministern sind nur fünf weiblich."

Einen russischen Angriff auf die Republik Moldau hält Ana Mihailov, Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Republik Moldau, im Gespräch mit dem Tagesspiegel zwar nicht für wahrscheinlich, aber: "Nach Ansicht der hiesigen Behörden geht es Russland in Moldau weniger um einen konventionellen Krieg als vielmehr um den Sturz der Regierung und die Machtübernahme durch die prorussischen Kräfte mit Hilfe sogenannter hybrider Mechanismen - Informationskrieg, Massenproteste und dergleichen."

Mindestens 21 Chefs von bundeseigenen Unternehmen verdienen laut eines Berichtes des Redaktionsnetzwerks Deutschland mehr als Bundeskanzler Olaf Scholz, meldet die Berliner Zeitung: "Der absolute Spitzenverdiener unter den Führungskräften von Staatsunternehmen ist Deutsche Bahn-Vorstandschef Richard Lutz. Er verdient stolze 900.000 Euro im Jahr."
Archiv: Europa

Geschichte

"Wir nicht, die anderen auch" - so hatte der Historiker Robert Heinze in der FAZ auf die Thesen des Kollegen Egon Flaig zur Sklaverei geantwortet (unsere Resümees). Flaig hatte dargelegt, dass auch andere Gesellschaften Sklaverei hatten, aber nicht den Abolitionismus. Heute greift der Althistoriker Burkhard Meißner in die Debatte ein und verliert sich in akademischen Erwägungen zum Historismus, bevor er zur Sache kommt: "Flaigs Thesen hätten es gewiss verdient, historisch-vergleichend genau geprüft zu werden. Heinze hätte, um zu demonstrieren, dass diese Thesen unzutreffend seien, zeigen müssen, dass Sklavenhandel, Kolonialismus und Rassismus europäische Singularitäten darstellen oder dass es umgekehrt eine Abschaffung der Sklaverei und die Ideologie eines zivilisatorischen Kolonialismus auch außerhalb Europas und seiner Moderne gab. Dies hat er nicht gezeigt. "
Archiv: Geschichte

Politik

Die Taliban lassen die Masken fallen, die sie eigentlich sowieso nicht getragen haben, und schließen Afghanerinnen aus den Hochschulen aus. Der Westen kann darauf nur mit einer weiteren Reduzierung der Unterstützung reagieren, schreibt Sven Hansen in der taz, aber er steckt in einem Dilemma: "Was dabei untergeht, ist, dass die bisherigen Sanktionen das gesamte Land, in dem inzwischen 97 Prozent der Bevölkerung arm sind, empfindlich treffen, aber eben nicht gezielt die Taliban-Führer. Und niemand kann ein Interesse am völligen Zusammenbruch Afghanistans und einer weiteren Zuspitzung der Massenflucht haben."

Auf die Frage, was der Westen tun kann, antwortet die afghanische Menschenrechtlerin Shaharzad Akbar im Gespräch mit Hansen: "Es braucht eine Kombination aus lokalem Widerstand und internationalem Druck. Leider hat sich der Raum für Widerstand in Afghanistan stark verkleinert. Sagt man nur ein kritisches Wort, droht Gefangennahme und Folter. Ohne Unterstützung von außen geht es also nicht, vor allem aus islamischen Ländern und religiösen Vereinigungen. Und leider gibt es kaum Visa und Stipendien für afghanische Frauen aus anderen Ländern. Deutschland hat sich noch etwas mehr engagiert, aber andere Länder wollen von der Unterstützung für afghanische Frauen nichts wissen."

Der "Uyghur Forced Labor Prevention Act" (UFLPA) schließt internationale Unternehmen, die von Zwangsarbeit in Xianjing profitieren, in amerikanische Sanktionen mit ein. Allerdings wird die Autoindustrie nicht als profitierende Industrie benannt, schreibt Cullen Hendrix, in Foreign Policy. Nun gibt es allerdings einen Bericht britischer Forscher, der die internationale Autoindustrie sehr wohl als Profiteur darstellt. Er könnte politische Konsequenzen haben, so Hendrix: "Durch die Hervorhebung dieser Zusammenhänge erhöht der Bericht die wirtschaftliche Bedeutung des UFLPA drastisch. Xinjiang ist von zentraler Bedeutung für die weltweite Baumwoll-, Silizium- und Tomatenproduktion. Gemessen am Welthandel sind diese Märkte jedoch  Peanuts im Vergleich zur Autoindustrie. Der gesamte Welthandel mit Baumwolle, Photovoltaik und Tomaten belief sich im Jahr 2020 auf etwa 80 Milliarden Dollar; allein der Handel mit Kraftfahrzeugen belief sich auf 645 Milliarden Dollar, mit weiteren Milliarden für Autoteile."
Archiv: Politik

Religion

Daniel Botmann, Geschäftsgführer der Jüdischen Gemeinde, verspricht im Interview mit Philipp Peyman Engel von der Jüdischen Allgemeinen, die Rabbinerausbildung in Deutschland auf neuen Beine zu stellen - Anlass ist der Skandal um Walter Homolka. Das gilt für das liberale Abraham Geiger Kolleg und das konservative Zacharias Frankel College, die laut Botmann beide Homolka gehören. Über die Enthüllungen zu Homolkas Machtmissbrauch äußert sich Botmann, der die Institutionen doch gekannt haben muss, entsetzt: "Die institutionell verankerte Angst war so tiefgehend, dass sich über Jahre hinweg niemand getraut hat, über Vorkommnisse zu sprechen. Ich persönlich war ob dieser emotionalen Schilderungen schockiert. Kein Student sollte sein Studium in Angst absolvieren müssen."
Archiv: Religion