9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Art mentaler Humus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.01.2023. Die Festnahme des Mafiabosses Matteo Messina Denaro  ist eine Befreiung für alle Sizilianer, schreibt Cinzia Sciuto bei Micromega. Die Ukraine ist nicht verpflichtet, ihren Mördern Konzessionen zu machen, antwortet der Philosoph Darrell Moellendorf in der FAZ auf Reinhard Merkel. Russland ist ein Failed State, und je eher der Westen das begreift, umso besser, meint der Politologe Janusz Bugajski in Politico. In der Menschheit überwiegt das Gemeinsame, sagt der Ethnologe Christoph Antweiler in hpd.de.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.01.2023 finden Sie hier

Europa

Auch das ius ex bello ist kein Argument, um von der Ukraine konzessionslose Verhandlungen über einen Frieden zu fordern, schreibt in der FAZ Darrell Moellendorf, Professor für Internationale Politische Theorie und Philosophie in Frankfurt, als Antwort auf Reinhard Merkel, der eben dies gefordert hatte (unser Resümee). "Letztlich sind es vier Gründe, die dafür sprechen, dass die Ukraine das Recht hat, ihren Kampf fortzusetzen. Erstens ist das Ziel, den russischen Beherrschungsversuch abzuwehren, gerecht. Zweitens ist der Einsatz des Militärs hierfür das einzig wirksame Mittel. Drittens sei daran erinnert, dass, obgleich die Erfolgsaussichten schwer abzuschätzen sind, die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen Sieges von Anfang an unterschätzt worden ist. Zuletzt: Solange man der Ukraine nicht fälschlicherweise die Schandtaten des ungerechten russischen Eroberungskrieges indirekt zuschreibt, sind ihre Verteidigungsbemühungen verhältnismäßig."

In Palermo ist Matteo Messina Denaro festgenommen worden, der amtierende Pate der Cosa Nostra. Für Italien ist das ein wichtiger Tag, schreibt die Autorin Cinzia Sciuto, Redakteurin bei Micromega, für sie selbst, die aus Sizilien stammt, eine Befreiung. Die Mafia habe eine Präsenz, die weit über die unmittelbaren Handlungen ihrer Mitglieder hinausgeht: "In einem Mafia-Land aufzuwachsen bedeutet, mit dem Wissen aufzuwachsen, dass man eine Reihe von Dingen nicht tun kann oder dass es sehr kompliziert sein könnte, sie zu tun, oder dass man bereits weiß, dass man viele Kompromisse eingehen muss, um sie zu tun. Das ist natürlich nicht immer der Fall. Aber es ist auch die Macht der Mafia. Wie alle unterdrückenden Mächte liegt ihr Erfolg in der Tatsache, dass sie das Denken auch derjenigen prägt, die nicht dazugehören, und sie dazu bringt, mentale Strukturen und Haltungen zu übernehmen."

Russland ist ein gescheiterter Staat, ein Imperium, das zerfällt, und je eher der Westen das begreift, umso besser, meint der britisch-amerikanische Politologe Janusz Bugajski in Politico. Er sieht goldene Zeiten auf die westlichen Demokratien zukommen: "Von der Arktis bis zum Schwarzen Meer wird die Ostfront der NATO sicherer werden, während die Ukraine, Georgien und Moldawien ihre besetzten Gebiete zurückerhalten und sich um die Integration in die Europäische Union und die NATO bemühen werden, ohne die Reaktion Russlands fürchten zu müssen. Auch die Länder Zentralasiens werden sich zunehmend befreit fühlen und sich in Bezug auf Energie, Sicherheit und wirtschaftliche Verbindungen an den Westen wenden können. China wird in einer schwächeren Position sein, um seinen Einfluss auszuweiten, da es nicht mehr mit Moskau zusammenarbeiten kann, und innerhalb der russischen Föderation können neue prowestliche Staaten entstehen, was die Stabilität in mehreren Regionen Europas und Eurasiens erhöht."
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Politik

In Kabul wurden die ehemalige Parlamentarierin Mursal Nabizada und einer ihrer Leibwächter erschossen, berichtet Natalie Mayroth in der taz. "Laut Khalid Zadran, einem Sprecher der Kabuler Sicherheitsbehörde, sei die Suche nach den bisher unbekannten Tätern eingeleitet. Auch das Motiv sei noch unklar. Nabizada war 'eine echte Vorreiterin - eine starke, freimütige Frau, die für ihre Überzeugungen einstand, selbst im Angesicht der Gefahr. Obwohl ihr die Möglichkeit geboten wurde, Afghanistan zu verlassen, entschied sie sich zu bleiben und für ihr Volk zu kämpfen', schrieb die ehemalige Abgeordnete Mariam Solaimankhil auf Twitter und bedauerte einen 'großen Verlust'. Die afghanische Start-up-Gründerin Sara Wahedi bezeichnete ihr Heimatland nach dem Tod Nabizadas als 'Hölle auf Erden für Frauen'."

Zehntausende protestierten am Wochenende in Tel Aviv und Jerusalem gegen die Pläne der neuen israelischen Regierung, die Justiz gleichzuschalten. Der heftigste Widerstand aber kommt aus dem Justizsystem selbst, berichtet  Steffi Hentschke bei Zeit online. Maßgebliche Juristen, darunter alle zehn ehemaligen israelischen Generalstaatsanwälte unterzeichneten einen Protestbrief. "Am selben Tag demonstrierten in Tel Aviv Hunderte Juristinnen und Juristen, als Zeichen des Protests legten sie für eine Stunde die Arbeit nieder. Wenige Stunden später, während einer juristischen Konferenz in Haifa, warnte die Präsidentin des Obersten Gerichts, Esther Hayut, die Reformpläne seien 'eine tödliche Wunde für die Unabhängigkeit der Justiz'."
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Medien

ARD und ZDF haben die Rechte zu einer umfangreichen TV-Berichterstattung von den Olympischen Spielen bis 2030 erworben, berichtet unter anderem Spiegel online mit Hilfe von Tickern. Ausgehandelt wurde der Vertrag mit IOC-Präsident Thomas Bach. Die Gebührenzahler werden offenbar nicht darüber informiert, wie viel sie für das Vergnügen berappen müssen: "Das IOC werde 90 Prozent der erwirtschafteten Einnahmen weiterverteilen, sagte Bach. Wie hoch der Vertrag dotiert ist, sagte er nicht. Bei der bisher letzten Ausschreibung für Europa hatte das IOC nach eigenen Angaben für vier Spiele 1,3 Milliarden Euro eingenommen. Zu dem TV-Paket gehören die Sommerspiele 2028 in Los Angeles und 2032 in Brisbane sowie die Winterspiele 2026 in Mailand/Cortina d'Ampezzo und die noch nicht vergebenen von 2030." Wenn für ganz Europa Einnahmen von 1,3 Milliarden aus Rechten zusammenkommen - wieviel davon zahlen ARD und ZDF?
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Ideen

Kulturalismus von links und von rechts, aber auch religiöser Prägung wie in Indien oder in islamischen Ländern prägen aktuelle Debatten. Dabei überwiegt in der Menschheit das Gemeinsame, sagt der Ethnologe Christoph Antweiler im Gespräch mit Martin Bauer von hpd.de: "Eine Ethnologin vom Mars wäre sicherlich erstaunt, wie friedlich die meisten Beziehungen zwischen den derzeit immerhin acht Milliarden Menschen und zwischen den über 200 Staaten insgesamt sind. Was allerdings selten ist, sind Gesellschaften, deren Politik und Erziehung voll auf Gewaltmeidung ausgerichtet ist, wie etwa bei den Semai im Regenwald Malaysias. Das sind zumeist ganz kleine Minderheitsgruppen und es sind allenfalls knapp hundert von den etwa 7.000 Kulturen. Dagegen gibt es einige wenige Kulturen, die im Kontext einer über Generationen erfahrenen Konfliktgeschichte Gewalt als positiven Wert etwa in der Erziehung von jungen Männern fördern."

Der Kulturwissenschafter Helmut Lethen gilt als Spezialist für heiße und kalte Zonen im Denken und Handeln, als besonders schnittig gilt, dass er als Linker Carl Schmitt las. Was er im NZZ-Gespräch mit Paul Jandl zur aktuellen Situation sagt, klingt allerdings eher lau: "Der Pazifismus war eine kulturelle Errungenschaft und ist damit für Jahrzehnte in die kollektive Psyche der Bundesrepublik eingewandert. Davon gehe ich aus. Aber auf einmal ist alles anders. Man ist draufgekommen, dass die Kategorien Freund und Feind doch noch nützlich sind. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat man vergessen, dass es auch Feinde geben kann."

Der ungarische Philosoph Gáspár Miklós Tamás ist gestorben. Michael Hesse würdigt ihn heute in der FR. In der taz schreibt Ralf Leonhard. Mehr heute Nachmittag in der Magazinrundschau.
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Geschichte

Marko Martin bespricht in der Welt den von Anne Hartmann und Reinhard Müller herausgegebenen Band "Tribunale als Trauma - Die Deutsche Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbandes", der die Zeit der stalinistischen Säuberungen unter deutschen Exilkommunisten in Moskau aufarbeitet, eines der düstersten Kapitel der deutschen Geschichte: "Viele der damals am Beschuldigungs-Veitstanz Beteiligten - wie eben Willi Bredel, Erich Weinert oder der nachmalige SEDKulturfunktionär Alfred Kurella - mögen heute nur noch Experten bekannt sein. Das mag als ausgleichende Gerechtigkeit trösten, doch bildeten diese Gestalten in der DDR eine Art mentalen Humus und prägten in ihrer gesinnungstreuen Gesinnungslosigkeit die Institutionen."
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Gesellschaft

Nein, Silvester ist noch nicht vorbei. In der taz findet Daniel Bax die Diskussion über die Angriffe auf Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen in Berlin bediene "rassistische Ressentiments". Das eigentliche Problem sei die "deutsche Böllertradition": Individuelles Böllern sei eh nur noch in Deutschland erlaubt, weshalb er auch hierzulande ein Böllerverbot fordert. Auf den Seiten der Geschichte der Gegenwart halten Manuela Bojadžijev und Robin Celikates nicht nur die Silvesterdiskussion rassistisch, sondern jede Diskussion über Integration: Die "Probleme fangen damit an, dass 'Integration' die Gegenüberstellung eines national gedachten 'Wir' und 'der Anderen' und damit die mehr als bloß symbolische Ausschließung von großen Teilen der Bevölkerung in Deutschland fortschreibt, von denen viele von Geburt an eine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen - und das betrifft bei weitem nicht bloß junge Menschen. Die gleichzeitige Homogenisierung des ihnen gegenübergestellten 'Wir' führt in einen überholten argumentativen Nationalismus, der angesichts transnationaler Verflechtungen sozialer Beziehungen und Zugehörigkeiten, ökonomischer Strukturen und Prozesse und kultureller Formationen geradewegs naiv erscheint."
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