9punkt - Die Debattenrundschau

Der Made-in-Europe-Anteil eines Geschosses

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2023. In der FAZ sieht der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel den russischen Imperialismus bis zu Peter I. zurückreichen: Echte Verhandlungen im Ukrainekrieg sind erst nach Putin möglich, meint er. Die SZ ist entsetzt vom Bürokratismus der EU bei der Lieferung von Munition an die Ukraine. Dänemarks Gewerkschaftsführerin Lizette Risgaard muss wegen jahrelanger sexueller Belästigung jüngerer Männer zurücktreten, berichtet die taz. In der SZ beobachtet der Integrationsexperte Haci-Halil Uslucan eine Re-Ethnisierung der Deutschtürken, von denen überproportional viele Erdogan wählen würden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.05.2023 finden Sie hier

Europa

"Putin ist kein Betriebsunfall der russischen Geschichte", meint heute in der FAZ der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel, der bis zu Peter I. zurückreichende geschichtliche Kontinuitäten sieht: "In Peters Regierungszeit zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstand die hegemoniale Rolle, die Russland seitdem über Nordost- und Ostmitteleuropa ausübt beziehungsweise beansprucht. Der Anspruch, die Ukraine zu beherrschen, die Etablierung eines Protektorats über Polen, die Pflege besonderer Beziehungen zu Berlin, all das sind Kennzeichen der russischen Politik, die unter Peter I. erstmals hervortraten. Putin steht damit in einem epochalen Zusammenhang, freilich nicht als Fortsetzer, sondern als Totengräber einer Politik, die doppelgesichtig war: Europa zugewandt und innerhalb Osteuropas hegemonial." Auch für Schulze Wessel kann der russische Imperialismus nur unter einer Voraussetzung enden: der "Delegitimierung von Putins Herrschaft infolge einer Niederlage, das heißt eines russischen Rückzugs aus der Ukraine".

Während derzeit viel über die "strategische Autonomie" der Europäischen Union diskutiert wird, fragt Hubert Wetzel in der SZ: Wie verlässlich ist denn die EU überhaupt? Vor mehr als einem Monat wurde versprochen, "der Ukraine binnen zwölf Monaten eine Million Artilleriegranaten zu liefern. Bei der ukrainischen Armee, die die Munition dringend braucht, ist bisher jedoch allenfalls ein bescheidener Bruchteil dieser Menge angekommen - höchstens einige Zehntausend Geschosse. Denn statt in aller Welt möglichst schnell möglichst viele Granaten zusammenzukaufen und in die Ukraine zu liefern, streiten sich die EU-Regierungen seit Wochen darüber, wie hoch genau der Made-in-Europe-Anteil eines Geschosses sein muss, damit es mit Geld aus dem gemeinsam befüllten EU-Topf bezahlt werden kann. Darf der Zünder aus Südafrika stammen, der Sprengstoff aus Australien? Die Regierung in Kiew nennt diesen Hickhack völlig zu Recht 'frustrierend'."

In Deutschland dürfen 1,5 Millionen Türkinnen und Türken bereits zwei Wochen vor der Wahl in der Türkei über Erdogans Zukunft entscheiden. Die letzten Wahlen zeigten, dass Türken in Deutschland überproportional viel für Erdogan stimmten. Im SZ-Gespräch mit Christian Wernicke erklärt der Integrationsexperte Hacı-Halil Uslucan: "In Großbritannien und in den USA wählen nur 18 bis 20 Prozent Erdoğan - denn dort sind vor allem Studenten und Akademiker hingegangen. Das sind eher linke oder liberale Wähler. ... Die Türkeistämmigen in Deutschland hingegen, die erste Migrationswelle der sogenannten 'Gastarbeiter', stammten meist von der Schwarzmeerküste oder aus Anatolien. Diese Bevölkerung war weniger gebildet, kam oft vom Land, war stark konservativ und islamisch geprägt." Außerdem macht er deutsche Debatten für eine "Re-Ethnisierung" der Deutschtürken in den letzten Jahren verantwortlich: "Die Polemiken von Herrn Sarrazin, die Morde des NSU, das Aufkommen der AfD - das alles hat seit 2010 eine anti-migrantische Haltung erzeugt. Diese deutsche Debatte geht an den türkeistämmigen Menschen nicht vorbei: Warum soll ich als Türke Normen einer Gesellschaft annehmen, die mich eigentlich gar nicht in ihrer Mitte haben will?"

Auf ZeitOnline fürchtet Can Dündar, dass Erdogan irgendwie einen Weg findet, an der Macht festzuhalten: "Dieser 'Weg' könnte von Interventionen an den Urnen bis hin zur Nichtanerkennung der Ergebnisse oder gar zum Stiften von Chaos im Land reichen. Aus diesem Grund reden Politiker in Berlin zwar untereinander darüber, wie viel Schaden Erdoğan der Türkei zufügt, sind aber extrem darauf bedacht, ihm vor den Wahlen nichts in die Hand zu geben, was er als Trumpf oder Anlass für Verärgerung nehmen könnte. Andererseits ist man in der deutschen Hauptstadt aber auch besorgt, dass im Falle von Erdoğans Niederlage die multiple Koalition radikale Beschlüsse zu grundlegenden Komplexen wie dem Flüchtlingsabkommen oder der Ukraine-Krise fassen könnte."

Die Türkei steht vor einer historischen Wahl, schreibt der Historiker Rasim Marz, der in der NZZ zunächst einen Überblick über die türkische Politik seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt. "Das oppositionelle Wahlbündnis, das Staatspräsident Erdogan entmachten will, besteht aus einer breiten Front von alten Sozialdemokraten und Vertretern des ehemaligen kemalistischen Establishments, türkischen Nationalisten, antikapitalistischen Islamisten sowie konservativen Wirtschaftsliberalen, die sich von Erdogans Regierungspartei AKP abgewandt haben. Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr werden von mehreren Faktoren abhängig sein. Erstens von den kurdischen Stimmen der HDP, zweitens von den Stimmen der sechs Millionen Erstwähler, die, da von der AKP-Regierung frustriert, mehrheitlich für die Opposition stimmen werden, und drittens von der Katastrophenprävention und Wiederaufbaupolitik der Regierung in den zehn Provinzen Anatoliens, die im Februar von einem schweren Erdbeben verheert wurden."
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Politik

"Offensichtlich versucht die Wagner Gruppe im Auftrag Putins, ein Bündnis antiwestlicher Staaten in Afrika aufzubauen", schreibt der FDP-Abgeordnete Christoph Hoffmann, der in der Welt eine Ausweitung des entwicklungspolitischen und wirtschaftlichen Engagements Deutschlands fordert: "Erst kürzlich sagte Prigoschin offen, es gehe ihm um 'eine Befreiung des afrikanischen Kontinents von westlichen Besatzern'. Das Ansinnen dabei liegt auf der Hand: Russland will neben materiellen und geostrategischen Zielen Unfrieden in der Region stiften, um Kräfte des Westens auch auf dem afrikanischen Kontinent und durch Flüchtlingsströme zu binden und ihr Engagement in der Ukraine zu schwächen. Den Erfolg Russlands und auch Chinas, in zahlreichen afrikanischen Ländern Fuß zu fassen, hat Europa in Teilen selbst zu verantworten. Zu zögerlich, zu bürokratisch, zu paternalistisch belehrend kamen die Kooperationsbemühungen oft daher. Das ließ eine unkomplizierte Zusammenarbeit mit Russland oder China, die schnelle Erfolge verspricht, oftmals attraktiver erscheinen."
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Stichwörter: Russland, Afrika, Sudan, EU

Gesellschaft

Man sollte die Zahl der Geschlechter bei zwei belassen, beharrt im NZZ-Gespräch mit Birgit Schmid die Psychologin Doris Bischof-Köhler, die auch von der These, Geschlecht sei ein soziales Konstrukt nichts wissen will: "Wer ein solches Postulat aufstellt, muss sich fragen, was er unter 'Forschung' versteht. Er hält es nicht für nötig, auch nur darüber nachzudenken, warum die wichtigsten Geschlechtsunterschiede, die angeblich die Gesellschaft erfunden hat, auch im Tierreich so weit verbreitet sind. Vielleicht wären Gleichberechtigung und Gleichbewertung einfacher zu erreichen, wenn man alle Unterschiede aus der Welt schaffen könnte. Aber nicht einmal das ist sicher. Jedenfalls ist der guten Sache kein Dienst erwiesen, wenn man sich in die eigene Tasche lügt."

Im Interview mit der FAZ spricht der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann über sein Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung", das von älteren Lesern besser angenommen werde als von jüngeren, die sehr viel selbstbewusster mit ihrer Herkunft umgingen: "Ich bezweifle allerdings, dass der Trick funktioniert, eine hochgradig negativ besetzte Zuschreibung so umzuformulieren, dass sie eine positive Wirkung entfaltet", meint Oschmann, der gar nichts besser werden sieht und deshalb für Quoten plädiert: "Vor der Publikation des Buches bin ich noch gegen eine Ostquote gewesen, also die Besetzung von Führungspositionen im Verhältnis zur Herkunft. Die Gespräche, die ich seither geführt habe, haben mir gezeigt, dass es nicht ohne Quote gehen wird, wenn sich politisch etwas ändern soll. Das ist so ähnlich wie mit den Stipendien: Wenn ich nicht sehe, dass es Leute von hier schaffen können, dann denke ich selbst nicht, dass ich es schaffen kann."

Dänemarks Gewerkschaftsführerin Lizette Risgaard hat jahrelang jüngere Männer sexuell belästigt und musste deshalb jetzt zurücktreten, berichtet Reinhard Wolff in der taz. "Der Fall Risgaard könne Auslöser einer MeToo-Bewegung unter Männern sein, glaubt Kenneth Reinicke, Gender-Forscher an der Universität Roskilde. 'Es gibt vermutlich genug Männer, die mit Erfahrungen herumlaufen, von denen sie vorher nicht das Gefühl hatten, dass es legitim ist, darüber zu sprechen.' Dass sie es jetzt tun, hätte sicherlich auch mit der MeToo-Protestbewegung von Frauen zu tun, die es auch in Dänemark gegeben habe: 'Ohne MeToo hätten diese Männer das Geschehene möglicherweise vollständig verdrängt.' Laut einer 2022 veröffentlichten Studie haben 26,4 Prozent aller weiblichen und 18,3 Prozent aller männlichen Angestellten in Dänemark in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal am Arbeitsplatz 'unerwünschte sexuelle Aufmerksamkeit und Belästigung' erlebt."

Bei der Debatte um das Gendern in der Sprache geht es "viel zu oft um politische und persönliche Macht", sagt der Linguist Peter Eisenberg in der Berliner Zeitung: "Der Genderstern bezeichnet nichts. Er ist ein sprachfremdes Symbol ohne Inhalt. Das andere Konzept, sprachliche Diskriminierung zu vermeiden, besteht in der Verwendung von Ausdrücken, die kein grammatisches Geschlecht haben und deshalb auch nicht an ein bestimmtes natürliches Geschlecht gebunden sind. Das heißt, wenn wir uns über Gender oder über natürliches Geschlecht Gedanken machen, dann müssen wir schauen, was die Sprache wie realisiert. Und die einzige Möglichkeit, die das Deutsche hat, Substantive zu verwenden, die strukturell nicht geschlechtsgebunden sind, ist das generische Maskulinum."
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Medien

"Ist der außergerichtliche Vergleich zwischen Fox News und Dominion … ein Einschnitt in die Meinungsfreiheit?", fragt der Medienrechtler Urs Saxer in der NZZ. Es geht nicht, dem Wahlmaschinenhersteller Fehlungfunktionen wider besseres Wissen zuzuschreiben, aber: "Ein zentrales Anliegen zur Garantie der Meinungsfreiheit ist es, die ungehinderte Kritik an den Regierenden zu ermöglichen. Dies schließt Kritik an Institutionen ein; man darf den Staat oder einzelne seiner Institutionen, zum Beispiel Gefängnisse, auch ablehnen. Es besteht im öffentlichen Diskurs auch keine Verpflichtung zur Wahrheit. Die Verdrehung von Fakten, Polemik und Unterstellungen gehören in Amerika bis zu einem gewissen Grad zum politischen Geschäft."

Der neue Intendant des MDR, Ralf Ludwig, möchte trotz Widerspruch der Belegschaft nicht auf sein Ruhegeld verzichten, meldet Birgit Walter in der Berliner Zeitung. Sparen will er an anderer Stelle: "Nicht beim Ruhegeld. Aber bei Journalistenstellen, da könne er keine Garantie geben, dass es künftig nicht zu Streichungen komme. Zugleich kündigte er eine regionalere Ausrichtung des Senders an, eine Konzentration auf die Digitalisierung, Bildung und Information. Und einen Erzgebirgskrimi wie im ZDF, den wünsche er sich auch für seinen Sender. Klingt das nach Aufbruch in der existenziellen Krise der Öffentlich-Rechtlichen - oder nach 'weiter so'?"
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