9punkt - Die Debattenrundschau

Dann aber kam der 24. Februar 2022

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.06.2023. Nach der Explosion des Staudamms von Kachowka mahnt Timothy Snyder westliche Medien, russische und ukrainische Behauptungen nicht auf eine Stufe zu stellen. Es ist Kirchentag in Nürnberg. Frank-Walter Steinmeier dachte bei der Gelegenheit über seine Rolle in der Geschichte nach, notiert die FAZ. Schön, dass Amazon sich für Diversity engagiert, findet die Welt, bei Gewerkschaften ist der Konzern allerdings schüchterner. Im Tagesspiegel bittet Katja Hoyer, Stalins Ängste zu verstehen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.06.2023 finden Sie hier

Europa

Timothy Snyder beschwört westliche Medien in einem Twitter-Thread nach der Havarie des Staudamms von Kachowka, das "Bothsiding" aufzugeben. Wenn russische Behauptungen, die Ukraine habe das Kraftwerk (das unter russischer Kontrolle stand) gesprengt, dann werde aus einem Ereignis ein Narrativ: "Russische Behauptungen als gleichwertig neben ukrainischen Behauptungen anzuführen, ist unfair gegenüber den Ukrainern. Was russische Sprecher gesagt haben, war fast immer unwahr, während das, was ukrainische Sprecher gesagt haben, weitgehend zuverlässig war. Die Gegenüberstellung suggeriert eine falsche Gleichheit... Wenn ein russischer Sprecher (zum Beispiel Dmitri Peskow) zitiert werden muss, dann muss erwähnt werden, dass diese spezifische Figur bisher über jeden Aspekt dieses Krieges gelogen hat. Das ist keine Beleidigung, sondern Kontext."

Snyder empfiehlt eine Recherche der New York Times zur Havarie des Damms, die zu folgendem Schluss gelangt: "Eine absichtliche Explosion im Inneren des Staudamms von Kachowka, der an der Frontlinie des Krieges in der Ukraine liegt, hat höchstwahrscheinlich zu seinem Zusammenbruch am Dienstag geführt, so Ingenieur- und Munitionsexperten, die gleichzeitig festhielten, dass eine Attacke von außen oder ein Versagen der Struktur möglich, aber weniger plausibel seien."

Archiv: Europa
Stichwörter: Snyder, Timothy, Kraftwerk

Religion

Es ist Kirchentag in Nürnberg. Die Creme des deutschen Pazifismus ist eher vergrätzt, wie sich im Ausbleiben des einstigen Kirchentagstars Margot Käßmann zeigt (unser Resümee). Dass die Macht der Kirchen bröckelt, zeigen die Teilnehmerzahlen, die laut dem Bericht Reinhard Bingeners im FAZ.Net "hinter denen früher Kirchentage zurückblieben. Die Veranstalter teilten am Mittwochmittag mit, dass sich bislang weniger als 60.000 Dauerteilnehmer angemeldet haben. Beim vergangenen Kirchentag vor der Pandemie 2019 in Dortmund waren es 80.000, zuvor oft mehr als 100.000." Interessant auch, wie Bingener, Ko-Autor des Buchs "Moskau-Connection", den eigenwilligen Beitrag Frank-Walter Steinmeiers zur eigenen Rolle in der Geschichte resümiert: "Steinmeier blickte auch auf die deutsche Russlandpolitik, die er selbst als Außenminister jahrelang selbst mitbestimmte. 'Ihr wisst, dass Generationen von Politikerinnen und Politikern auch hier in Deutschland für die Wahrung des Friedens in Europa gearbeitet haben', sagte Steinmeier. 'Viele haben alles Menschenmögliche versucht, um zu verhindern, dass Europa noch einmal zurückfällt in eine Zeit des Krieges, der Aggression, der Gewalt. Dann aber kam der 24. Februar 2022. Dieser Tag veränderte alles, markiert einen Epochenbruch. Wir müssen neu denken, wir müssen neu handeln.'"

Die Kirchen tun zwar viel Gutes, findet Jan Feddersen in der taz, aber sie haben angesichts ihres schwindenden Einflusses zu viele Privilegien: "Sie verfügen außerdem über faktisch übermächtige Positionen im sozialen Bereich, über Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, auch Schulen und Kitas. Sie werden finanziell aus den allgemeinen Steuermitteln gepampert. Sie bestimmen sogar das Leben von Nicht- oder Andersgläubigen - dass Geschäfte sonntags geschlossen haben oder dass an bestimmten Feiertagen nur 'gedeckte' Musik gespielt werden darf."

Der kirchenkritische Aktivist David Farago merkt in einem Bericht bei hpd.de an, dass der Kirchentag äußerst großzügig von der öffentlichen Hand mit finanziert wird. "In Nürnberg haben beide Kirchen zusammen nur noch einen Anteil von rund 42 Prozent an der Bevölkerung..." Trotz dieser eindeutigen Veränderung in der Gesellschaft werde der Kirchentag in Nürnberg "mit mindestens 10 Millionen Euro von der öffentlichen Hand gefördert", kritisiert Farago: "Im Einzelnen gibt das Land Bayern 5,5 Millionen Euro, der Bund 500.000 Euro und die Stadt Nürnberg drei Millionen Euro. Die Stadt fördert das religiöse Sommerfest laut Ratsbeschluss aber zusätzlich noch in Form von Sachleistungen und Gebührenbefreiungen im Wert von mindestens einer Million Euro. Von den Gesamtkosten in Höhe von 22 Millionen Euro trägt die öffentliche Hand daher 45,5 Prozent."

In der Welt erzählt der Germanist Karl-Heinz Göttert, dessen Buch "Massen in Bewegung. Über Menschenzüge" gerade erschienen ist, wie vor allem von protestantischer Seite immer wieder gegen die Fronleichnamsprozessionen vorgegangen wurde, etwa im protestantischen Berlin, das seit dem 19. Jahrhundert auch Katholiken anzog: "Um sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, griffen sie zu dem Mittel, das dazu am besten geeignet ist: zu einer Prozession. Es wurde die 'Spandauer Prozession', von Sympathisanten als 'Glanzstück des jungen Berliner Katholizismus' bezeichnet. (…) Die etwa 2500 Teilnehmer trugen Fahnen und sangen geistliche Lieder. Raufereien mit Protestanten waren programmiert und blieben nicht aus, auch wenn Vorkehrungen gegen Provokationen getroffen waren. So durften die Fahnen ausdrücklich nicht 'senkrecht' getragen werden, sondern 'über die Schulter gebogen'. Ob sich die Behörden daran störten, dass die Prozession jedes Jahr enorme Aufmerksamkeit erregte oder eine gewisse Mutierung zum Volksfest mit Beteiligung der Spandauer Schützen und einer fahrbaren Trinkhalle das religiöse Konzept auf Dauer aushöhlten: Mit dem Argument, das Ganze sei nur dazu da, um die Protestanten zu reizen, wurde die Spandauer Prozession 1874 eingestellt."
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Gesellschaft

Die Diversitätsindustrie setzt allein in den USA jährlich Milliardenbeträge um, nur verbucht sie kaum nennenswerte Erfolge, notiert Jörg Wimalasena in der Welt: "Dennoch halten die Konzerne meist an den Maßnahmen fest. Kein Wunder, denn sie dienen als PR-Instrument, um sich woken Investoren, Medien und Konsumenten als progressiv zu präsentieren. Echte Veränderungen in der Unternehmenskultur will man in vielen Fällen eher nicht. Während die größten Unternehmen in den USA ganz überwiegend Diversity-Programme unterhalten, legen laut einer Erhebung des Informationsportals Just Capital zum Beispiel nur 43 Prozent der 100 größten US-Firmen ihre Gehaltsstruktur bezogen auf die Ethnie ihrer Mitarbeiter offen. Ein paar Diversity-Trainings sind offenbar billiger als eine kräftige Lohnspritze oder eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Beschäftigte aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Der Versandriese Amazon, der ebenfalls mit Diversitätsprogrammen wirbt, kämpft zum Beispiel erbittert gegen Gewerkschaftsbewegungen vor allem schwarzer Mitarbeiter in Versandzentren, die sich organisieren und für bessere Arbeitsbedingungen eintreten. Auch das US-Arbeitsrecht spiegelt die Schieflage zwischen identitätspolitischen Tugend-Demonstrationen und Arbeitsbedingungen wieder. In vielen Bundesstaaten gibt es keinen Kündigungsschutz, wer allerdings Diskriminierung nachweist, kann seine Entlassung anfechten."

Auf ZeitOnline beantwortet Johannes Schneider die Frage nach dem Umfrageerfolg der AfD unter anderem mit einen Artikel des Sozialpsychologen Jonathan Haidt, der bereits im Mai 2022 unter dem Titel "Why the past 10 years of American Life have been so uniquely stupid" in The Atlantic erschien und die sozialen Medien für die Krise der Demokratien verantwortlich macht: "Laut Haidt sind die entscheidenden Bindungskräfte von erfolgreichen Demokratien allgemein vertrauenswürdige Netzwerke, starke Institutionen und geteilte Erzählungen. Alle drei seien durch den Siegeszug sozialer Medien geschwächt worden. Die Folge: 'Wir sind desorientiert, unfähig, die gleiche Sprache zu sprechen oder die gleiche Wahrheit zu erkennen." Während frühere Zeiten mit seriösen Medien wie dem Völkischen Beobachter oder der Prawda operierten

Viel hält der Literaturwissenschaftler Robert Harrison, der 2014 das Buch "Ewige Jugend" veröffentlichte, nicht von der jungen Generation, wie er im Welt-Gespräch mit Hannes Stein deutlich macht: "Ich bin kein großer Fan der jungen Generation, denn sie wähnt sich auf der Seite der Engel. Aber die menschliche Natur trägt immer sowohl das Engelhafte als auch das Diabolische in sich. Es ist schön, zu sagen, dass man sich um den Klimawandel Sorgen macht, aber wie viel konsumierst du täglich? Wie viel CO2 bläst du in die Luft? Der junge Durchschnittsamerikaner fährt viele Meilen mit seinem Auto, nimmt Flugzeuge, duscht heiß, schaltet seine Klimaanlage ein - und wenn man all das zusammenrechnet, kann die Erde nur eine, höchstens zwei Milliarden Menschen verkraften, die so viel konsumieren. Bist du gewillt, junger Amerikaner, auf deine heißen Duschen zu verzichten und die Klimaanlage abzuschalten?"
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Geschichte

Das Buch "Diesseits der Mauer" der Historikerin Katja Hoyer ist nach seinem Erscheinen in Großbritannien auch hierzulande ein Bestseller, von der Kritik wird ihr allerdings unter anderem vorgeworfen, sie rede die DDR schön. "DDR-Geschichtsschreibung nach 1990 ist 'Unrechtsaufarbeitung'. Das ist notwendig und verdienstvoll, es ist aber nicht alles, was mich als Historikerin interessiert", verteidigt sie sich im Tsp-Gespräch mit Kerstin Decker, die Hoyer etwa mit dem Vorwurf, sie nehme die Stalin-Note zu ernst, konfrontiert: "Auch andere Historiker nehmen Stalins Angebot einer Wiedervereinigung ernst. Das heißt ja nicht, dass ein neutrales, wiedervereinigtes Deutschland realistisch war. Stalin hatte Angst. (…) Sein Nachfolger Chruschtschow erinnerte sich, wie Stalin zitterte. Sie müssen sich das mal vorstellen: Plötzlich hätte die Sowjetunion nicht mehr nur Deutschland als Kriegsgegner, das Land, das sie ein paar Jahre zuvor nur unter großen Opfern besiegt hatte, sondern jetzt sind es potenziell Deutschland plus die früheren Verbündeten. Chruschtschow sprach von einer regelrechten 'Kriegspsychose', die Moskau erfasst habe nach der Unterzeichnung des Deutschlandvertrages zwischen der BRD und den früheren Westalliierten im Mai 1952. Man habe geglaubt, man müsse jeden Augenblick wieder in den Krieg ziehen."
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Ideen

Angesichts des Kriegs gegen die Ukraine werden in der Schweiz Forderungen nach Aussetzen des Neutralitätsstatus laut. In der NZZ wollen die beiden Völkerrechtler Oliver Diggelmann und Robert Kolb die Frage nicht rechtlich beantworten, sie geben die Verantwortung an die Politik weiter: "Ein Neutralitätsdiskurs mit einem als progressiv und einem als konservativ etikettierten Lager degradiert wissenschaftliche Positionierungen zu rechtlich verbrämter Politik. Auf der Strecke bleiben unvermeidlich die Komplexität völkerrechtlicher Fragen und ein Stück Rechtsstaatlichkeit. Rechtlich Mögliches und politisch Richtiges werden vermengt, wissenschaftlich 'richtig' erscheint das der eigenen Intuition Entsprechende. (...) Der Ukraine-Krieg wirft ein grelles Licht auf die problematischste Seite des Neutralitätsstatus: seine Inflexibilität im eindeutigen Fall. Die politische Frage, die vollständig der Politik zurückzugeben ist, lautet daher: Erfordert dieser Ausnahmefall die Aussetzung der Neutralität für die Dauer dieses Krieges, mit allen Vor- und Nachteilen - oder hat sich die Neutralität allenfalls überlebt?"
Archiv: Ideen