9punkt - Die Debattenrundschau

Elefantöses Nationalgerät

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.07.2014. Netzpolitik ist anderer Meinung als die Zeitungen und findet nicht, dass die Lohndrückerei bei Zeitungsboten der Pressefreiheit dient. In Deutschland wird ein Propublica gegründet. Es heißt Correctiv. Überall - von Deutschland bis Amerika - wird über die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum französischen Burka-Verbot diskutiert. Die Empörung über die Experimente, die Facebook mit seinen Nutzern anstellt, ist nach wie vor groß.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.07.2014 finden Sie hier

Religion

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das französische Gesetz gegen die Burka nicht verurteilt. Franck Johannes erläutert in Le Monde: "Die große Kammer des Gerichts sieht zwar, dass das französische Gesetz vom 11. Oktober 2010, das die Totalverschleierung an öffentlichen Orten untersagt, eine "dauerhafte Einmischung" in das Recht auf Privatleben und die Religionsfreiheit darstelle. Aber sie findet, dass diese Einmischung zwei legitime, in der Verfassung festgeschriebene Ziele hat: die "öffentliche Sicherheit" und der "Schutz der Rechte und der Freiheit anderer"."

In vielen angelsächsischen Medien sorgt die Entscheidung für Unverständnis. Louise Roug schreibt in Mashable: "Bitte kämpfen Sie nicht gegen dieses Recht in meinem Namen. Ich verschleiere mein Gesicht nicht, aber ich finde, ich sollte das Recht haben, wenn ich es wollte, vor allem in dem so freiheitsliebenden Frankreich, dem Land, das uns Voltaire schenkte."

In der Welt begrüßt Richard Herzinger die Entscheidung ohne Wenn und Aber: "Menschenrechte schützen den Einzelnen nicht nur vor der Willkür des Staates, sondern auch übermächtiger religiöser oder "kultureller" Kollektive. Diese Prinzipien wollen islamische Ideologen systematisch verwirren. Deshalb geben sie die Vollverschleierung, die zur Stigmatisierung und Ausgrenzung der Frau aus dem öffentlichen Raum ersonnen wurde, als Angelegenheit der "Privatsphäre" aus. Die Unterwerfung unter religiös verfügte Unterdrückungspraktiken soll so als Ausdruck freier Entscheidung erscheinen."
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Internet

Die Empörung über das Rattenexperiment von Facebook mit seinen Nutzern, denen es unterschiedliche Newsstreams zu spielte, um ihre Reaktionen zu testen, empört immer noch die amerikanischen Blogs. Nicole Lee hält in Engagdet fest: "Schlimm genug, dass die Studie ohne die Zustimmung der Facebook-Nutzer stattfand. Aber Facebook beobachtete ja nicht nur die Aktionen der User - es spielte absichtlich mit ihren Gefühlen." Kurt Wagner meldet unterdessen in Mashable, dass die britische Datenschutzbehörde (dass es da sowas gibt!) eine Untersuchung gegen Facebook einleitet.
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Kulturpolitik

FAZ-Redakteur Andreas Kilb sieht die in Berlin geplante Einheitswippe nach neuesten Verwerfungen in der Berliner Politik endgültig zu einem "durch Zäune und Geländerstangen gesicherten, von Wärtern und Polizisten bewachten elefantösen Nationalgerät" werden.
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Medien

David Schraven, ehemals Recherchechef der WAZ-Gruppe gründet ein Rechercheprojekt finanziert von der Brost-Stiftung, die von einer der WAZ-Gründungsfamilien betrieben wird, berichtet Christian Meier bei Meedia : "Correctiv hat unter anderem das US-Projekt Propublica zum Vorbild. Wie die amerikanischen Kollegen halten es die Journalisten um Schraven mit der Leitlinie: wir machen nur, was die Gesellschaft zum Besseren verändert. Die recherchierten Geschichten werden nicht in erster Linie auf dem eigenen Portal veröffentlicht (das auch), sondern an Zeitungen, Magazine, Radio- und TV-Sender weitergereicht."

Sehr lesenswert ist Leonhard Dobuschs Beitrag in Netzpolitik über die "netzpolitische Dimension von Mindestlöhnen für Zeitungsboten". Er wirft den Zeitungen vor, in ihrer Berichterstattung das Thema der Pressefreiheit um der Lohndrückerei willen missbraucht zu haben - wie beim Leistungsschutzrecht: "Wie beim Leistungsschutzrecht sollen andere für den Strukturwandel in der Zeitungsbranche bezahlen. (Im Unterschied zum Leistungsschutzrecht, wo es um einen milliardenschweren Suchmaschinenkonzern geht, müssen beim Mindestlohn allerdings Geringverdiener dafür herhalten). Wie beim Leistungsschutzrecht wird auch die Ausnahme vom Mindestlohn für Zeitungszusteller zu einer Überlebensfrage für die Branche stilisiert."

Heidi Tworek und Christopher Buschow stellen in irights.info eine beachtliche historische Parallele zwischen dem heutigen Lobbyismus für ein Leistungsschutzrecht und dem Kampf von Nachrichtenagenturen für einen "Nachrichtenschutz" in den zwanziger Jahren her: Damals war es möglich geworden, per Radio an Zeitungen übertragene Nachrichten mitzuhören und abzuschreiben. Die Argumente waren die gleichen. Ein Weltuntergang! Die Zeitungen gehörten damals allerdings zu den Kritisierten: "Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass in den 1920er-Jahren der damalige Verlegerverband VDZV aufgrund der geplanten zivilrechtlichen Verankerung des Nachrichtenschutzes ebenfalls vor einer "Flut an Gerichtsverhandlungen" warnte."

Ulrike Herrmann möchte in der taz der eventuell verwirrten Leserschaft klarstellen, dass Frank Schirrmacher trotz allen revolutionären Pathos kein Linker war, sondern ein Konservativer: "Wird die Welt falsch beschrieben, lässt sie sich garantiert nicht verändern." Und Silke Burmester fordert in ihrer taz-Kolumne, den Journalismus als Weltkulturerbe anzuerkennen, und zwar bitte "mit UN-Blauhelmsoldaten drumrum".
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Geschichte

Im Interview mit Alan Posener spricht der slowenische Autor Boris Pahor über sein Leben als Widerstandskämpfer, über den deutschen und italienischen Faschismus und seine Heimat Triest: "Triest ist meine Geburtsstadt. Die Hauptstadt meines Lebens. Ich hatte nie ein großes Interesse, die Welt zu entdecken. Denn als die italienischen Faschisten 1920 das slowenische Kulturhaus niederbrannten, brach meine Welt zusammen. Da war ich sieben Jahre alt, und ich hatte das Gefühl, als brannte dort meine Zukunft. Das ist die Grundlage meiner Beziehung zu Triest."

Klaus Hillenbrand begrüßt in der taz die neue Ausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, die das Nachkriegsdenken hinter sich lässt: "Die Geschichte von den Deutschen, die sich nicht wehren konnten, weil dies nicht möglich gewesen sei, wird als das entlarvt, was sie schon immer war: eine gern kolportierte Legende, die dazu diente, das eigene individuelle Versagen zu verschleiern."
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Politik



Nach den Protesten in Hongkong hat die Polizei mehr als 500 Menschen festgenommen, meldet die SZ: "Medienberichten zufolge veranstalteten die Aktivisten nach dem Protestmarsch in der Innenstadt eine Sitzblockade, unter anderem auch vor dem Amtssitz von Regierungschef Leung Chun Ying. Sie riefen nach mehr Demokratie in der chinesischen Sonderverwaltungsregion. Die Polizei begann nach eigenen Angaben gegen 3 Uhr Ortszeit mit der Räumung." (Die Bilder sind dem Twitter-Fotostream zum Stichwort Hongkong entnommen.)

In der NZZ beschreibt Wei Zhang das System der korrupten Kader in China, das sich selbst auszuhöhlen beginnt. Mit jedem aufgedeckten Skandal wird die Legitimität der Partei in Frage gestellt, die sich im Wettlauf gegen sich selbst befindet: "Es gibt in China viele Gründe, weshalb man Beamte bestechen zu müssen glaubt. Die hochrangigen Beamten fällen Entscheide oft allein, während das gewöhnliche Volk ihrer Willkür ausgeliefert ist. Yan Yongxi, ein Beamter, der für die Entschädigungen beim Umzug eines Quartiers in Peking zuständig war, maßte sich durch seine Macht an, seiner Mätresse ein Haus zu überschreiben, um ihr für dessen Abriss eine Entschädigung von 7,4 Millionen Yuan zu verschaffen, während gewöhnliche Personen ohne Beziehungen ihn bestechen mussten, um ihre Entschädigungen zu bekommen."

Mit Blick auf Errol Morris Dokumentation "The Unknown Known" (mehr in Efeu) weist der Berliner Menschrechtsanwalt Wolfgang Kaleck in der SZ darauf hin, dass Donald Rumsfeld Geschichte sein mag, nicht aber die von ihm geförderten Folterpraktiken bei CIA und Armee: "Dazu zählen missbräuchliche Praktiken wie Einzelhaft, Schlaf- und Reizentzug. Solche Praktiken dürfen bis zu 30 Tage lang angewandt werden, mit besonderer Erlaubnis sogar für einen längeren Zeitraum. Aber auch andere entwürdigende Praktiken wie das Abspielen von lauter Musik, Stroboskopbeleuchtung, sexuelle Beleidigungen und Angriffe sind nicht ausdrücklich verboten."

Weiteres: Auf der Seite drei der SZ gibt Peter Münch einen guten Hintergrund zu den drei ermordeten israelischen Jugendlichen. In der Welt attackiert Henryk M. Broder Ignoranz und Mitleidlosigkeit in deutschen Medien, "eine Mentalität, die tief in der Geschichte verwurzelt ist und in den Köpfen und Herzen weiterspukt".
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Weiteres

Wolfgang Streeck vom Max-Planck- Institut für Gesellschaftsforschung in Köln tritt nach den Enthüllungen über die NSA und Big Data der Konzerne für die FAZ gleich die gesamte Idee einer möglichen Demokratisierung durch das Netz in die Tonne. Ebenfalls für die FAZ unterhält sich Lena Bopp mit dem ägyptischen Satiriker Bassem Youssef, der aus Gründen der persönlichen Sicherheit nicht mehr im Fernsehen auftritt: "Kurioserweise waren wir immer unter Druck. Unter und nach den Muslimbrüdern. Der einzige Unterschied ist, dass die Muslimbrüder nicht genug Zeit hatten, uns kleinzukriegen."
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