9punkt - Die Debattenrundschau

Für die meisten dort sind wir Aliens

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.07.2015. Im Guardian fordern Historiker nach dem von der Sun veröffentlichten Video mit Edward, der späteren Queen und dem Hitler-Gruß eine Freigabe der königlichen Archive. Die Welt feiert den Atomdeal mit dem Iran als Sieg der israelischen Außenpolitik. In der NZZ erklärt Viktor Jerofejew, wie Wladimir Putin die Unsicherheiten des Westens ausnutzt. Horizont erklärt, warum Mobil die Zukunft der Inhalte, aber wohl nicht der Medien ist. In der FR hofft der britische Historiker Faramerz Dabhoiwala auf sexuelle Befreiung im Rest der Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.07.2015 finden Sie hier

Gesellschaft

Der britische Historiker Faramerz Dabhoiwala spricht im FR-Interview mit Arno Widmann über die seiner Ansicht nach unumkehrbare zweihundertjährige Geschichte der sexuellen Befreiung: "Ich werde zu Lesungen oder Diskussionen über das Buch nach Indien oder China eingeladen. Dort wird mir sehr schnell klar, dass die Vorstellung einer individuellen sexuellen Freiheit, wie sie in den letzten Jahren im Westen immer weiter sich verbreitet hat, dem Rest der Welt noch immer zutiefst fremd ist. Für die meisten dort sind wir Aliens. Im Buch beschreibe ich die im europäischen 18. Jahrhundert einsetzende neue Betrachtung des Menschen, seines Verstandes, seiner Individualität, seines Körpers, seiner Sexualität. Eben diese Prozesse beobachten meine Leser im Nahen Osten, in Indien und China heute in ihren Gesellschaften. Für sie ist das Buch nicht in erster Linie eine historische Abhandlung, sondern ein Mittel, die Gegenwart zu begreifen."
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Politik

So kann man es auch sehen. Trotz Benjamin Netanjahus anhaltenden Schimpfens sei der Atomdeal mit dem Iran als ein Sieg der israelischen Außenpolitik zu feiern, meint Daniel-Dylan Böhmer in der Welt: "Am Ende war es .. Netanjahus glaubhafte Drohung mit einem Militärschlag gegen das iranische Atomprogramm, die Europa bewog, den USA zu folgen und doch wirtschaftliche Strafmaßnahmen zu verhängen. Dann erst zogen auch Russland und China mit. Und siehe: Es waren eben diese Sanktionen, die die iranische Bevölkerung schließlich anstießen, einen Präsidenten zu wählen, der lieber ernsthaft verhandelte."

In der FAZ erklärt der Historiker Gregor Schöllgen, warum das iranische Bekenntnis zur Nichtverbreitung irgendwie auch ein später Erfolg für Willy Brandt ist. Außerdem: Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman äußert sich in einem CNN-Interview enttäuscht über die Griechen, die sich in der jüngsten Einigung mit der Europruppe nicht an seine reine Lehre hielten.
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Europa

Im Moment ist die französische Presse voll mit Artikeln über das "Diktat", das die Deutschen den Griechen auferlegt hätten. Robin Verner begibt sich in Slate.fr auf die Spur antideutscher Gefühle in Frankreich und zitiert Georges Valance, Autor eines Buchs zum Thema, der den ersten Zusammenstoß der Ressentiments auf das Jahr 1147 und den ersten Kreuzzug datiert: "Hier haben französische und deutsche Truppen erstmals Seite an Seite gekämpft. Es gibt einige Zeugnisse von Chronisten... und liest dort bereits alle üblichen Klischees über die Deutschen: Sie fressen alles, sie sind vulgär, sind sind brutal." Dann muss wohl was dran sein!

In der ersten Meldung war der Guardian sehr verschämt und zeigte das Bild gar nicht, später wählte er - wie bei den Mohammed-Karikaturen - den Weg des frommen Heuchelns und zeigte die Zeitung, die das Bild zeigt - in diesem Fall Murdochs Boulevardzeitung Sun, die ein Video ausgegraben hatte, das zeigt, wie der für seine Nazi-Sympathien bekannte Prinz Edward VIII. die spätere Queen, damals ein siebenjähriges Mädchen, zum Hitler-Gruß verführte. Der Artikel im Guardian zum Thema hat inzwischen über 5.000 Kommentare: "Der Buckingham Palace weigert sich angesichts wachsenden Drucks, historische Dokumente freizugeben, sich in die Debatte um die Privatarchive der königlichen Familie hineinziehen zu lassen..."

Die königlichen Archive sind auch Gegenstand eines Hintergrunds im Guardian: "Die Historikerin Alex von Tunzelmann bemerkte auf Twitter, dass der fehlende Zugang für Historiker "zutiefst undemokratisch ist... Die Geschichte dieses Landes gehört dem Volk."

Laut Daily Mail plant jetzt außerdem Channel 4 eine Dokumentation, die die Verbindungen der Familie von Prinz Philip zu den Nazis untersuchen soll: "An explosive Channel 4 documentary is set to reveal details of how Prince Philip"s sister met and admired Adolf Hitler, whom she described as a "charming and seemingly modest man". Three of his sisters were married to senior Nazi officers - one a colonel in the SS - and when Philip attended a family funeral in Germany in 1937 he was confronted by crowds giving the Heil Hitler salute. The documentary includes previously unseen extracts from a private memoir in which one sister talks of her early admiration for Hitler."

In fünfzig Jahren wird auch Russland ein europäisches Land sein, glaubt der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew im NZZ-Interview mit Andreas Breitenstein, doch auf absehbare Zeit wird Putin dem Westen ganz schön zusetzen: "Je weiter er sich vorgewagt hat, desto besser hat er begriffen, wie schwach der Westen ist. Ich habe mit führenden westlichen Politikern gesprochen: Sie sind ratlos, was sie mit der Ukraine anfangen sollen. Sie sind zurückhaltend mit Hilfe, weil sie denken, dass die wirtschaftliche Misere zu schwer und die Korruption zu groß sind, als dass sie von außen bekämpft werden können. Putin als ehemaliger KGB-Offizier liest die Signale, die hier ausgesandt werden, ganz genau. Er weiß um die Unentschlossenheit und Orientierungslosigkeit der Europäer."
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Medien

(Via turi2) Mobilgeräte gefährden Medien noch mehr als das Desktop-Internet, meint Volker Schütz in Horizont mit Blick auf "Instant Articles" von Facebook, einen Dienst, der die Medien dazu verführen soll, Artikel direkt in dem sozialen Netz zu publizieren: "Rein betriebswirtschaftlich betrachtet profitieren nur wenige große Angebote von der Facebook-Offerte. Der Tausender-Kontakt-Preis, der mit Instant Articles erzielt werden kann, wird so niedrig sein, dass Big Player mit Riesenreichweiten damit Geld verdienen können. Kein Wunder, dass die Marktführer Bild Online und Spiegel Online den Test mitmachen. Schon mittelgroße Sites wie FAZ.net werden zehnmal überlegen, ob der Einsatz sich lohnt. Und noch kleinere Anbieter fallen im Facebook-Universum so wenig auf wie ein einzelnes Sandkorn am Lister Weststrand." (Der Tausend-Kontakt-Preis oder TKP ist der Preis, den Werbetreibende für den Kontakt zu tausend Nutzern zahlen - für eine Seite beim Spiegel betrug er früher 50 Euro und brachte insgesamt 50.000 Euro, im Internet sind wir inzwischen bei 50 Cent.)

Rudolf Balmer erklärt in der taz, was das neue Redaktionsstatut von Charlie Hebdo bedeutet.
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Internet

Der Verleger Jonathan Beck antwortet in der SZ Leonhard Dobusch, der die Einschränkung der "Rechtspolitisch höchstens zweitrangigen" Panoramafreiheit als "Urheberrechtsextremismus" brandmarkte (unser Resümee): "Erstaunlich ist dabei, dass sich all dieser Unmut gegen die Urheber richtet. Wahrlich skandalös ist doch eigentlich die Tatsache, dass Netzgiganten wie Facebook oder Youtube einerseits per Werbeerlös reichlich kommerziellen Gewinn erzielen, wenn ihre Nutzer die Werke anderer in "kreativer Appropriation" (Dobusch) mit eigenen Werken vermischen, andererseits das damit verbundene urheberrechtliche Risiko aber schlicht per AGB auf die Nutzer abwälzen."

Urs Hafner hält nicht viel von den Digital Humanities und kann sich in der NZZ den Hype nur damit erklären, dass den Geisteswissenschaften in den Jahren des Public Managements das Rückgrat gebrochen wurde: "Für viele ihrer Anhänger sind die Digital Humanities nicht weniger als die neue Disziplin, die die Geisteswissenschaften revolutioniert. Bis jetzt allerdings fällt der Leistungsausweis eher bescheiden aus. Vor zwei Jahren präsentierten Forscher an einer Tagung in Bern eine Reihe von Digital-Humanities-Projekten. Die Rede war zeitgeistkonform von mehr Praxis, mehr Anwendung, mehr Öffentlichkeit, mehr Feedback, mehr Daten und mehr Vernetzung, doch neue Erkenntnisse blieben rar. Unübersehbar zeigte sich die Faszination für das positivistische Neugruppieren großer Datenmengen, wobei der Aufwand oft in keinem Verhältnis zum Ertrag stand."
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