9punkt - Die Debattenrundschau

Der Vorrang des Rechts vor den Werten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.09.2016. Polen erlässt gerade eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze der Welt - polnische Feministinnen setzen ihre Hoffnung auf die EU, berichten BBC und Guardian. Die Welt und der Guardian denken über die alles korrumpierende Macht Wladimir Putins nach.  In der Zeit nimmt Wolfgang Ullrich den Kunsthandel gegen manche Kritik in Schutz. In der NZZ fordert der Frankfurter Philosophieprofessor Martin Seel, zwischen "Leitkultur" und demokratischer Rechtsordnung zu unterscheiden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.09.2016 finden Sie hier

Ideen

In der NZZ bittet der Frankfurter Philosophieprofessor Martin Seel, zwischen Leitkultur und demokratischer Rechtsordnung zu unterscheiden. Donald Trump und Recep Tayyip Erdogan führten schließlich gerade vor, wie gefährlich eine Verwischung dieser beiden Begriffen sei. Selbst in der EU werde "das Recht auf Asyl massiv eingeschränkt, mit der immer lauter werdenden Begründung, die einheimische Werteordnung dürfe nicht unterhöhlt werden. In allen diesen Fällen werden in politischen Prozessen Werte gegen Grundrechte ausgespielt, mit dem Ergebnis, wenn nicht sogar dem Ziel, das Recht zu einem Büttel partikularer Werte zu machen. Wer in dieser Lage den Vorrang des Rechts vor den Werten nicht zu verteidigen bereit ist, fällt der Demokratie in den Rücken. Denn Demokratien sind keine Wertegemeinschaften, sie sind Rechtsordnungen, die eine Pluralität von Wertorientierungen freigeben."

In der FAZ greift der Münchner Geschichtsprofessor Martin Schulze Wessel heftig die Reformpläne für den Geschichtsunterricht an. Überhaupt scheine Bildung für deutsche Politiker nur noch als ökonomisches Kritierium - "Kompetenzerwerb" - zu existieren. Beispiel Holocaust: "In der Unterrichtspraxis treten kompetenzorientierte Lernaufgaben oft neben den Lehrervortrag oder das Klassengespräch. Das kann Lernprozesse fördern, führt aber häufig geradewegs in die Anachronismusfalle. Stellt man einem Schüler die Aufgabe: 'Was würdest du an der Stelle von Otto Wels tun?', dann erfordert das nicht nur die Kenntnis des Ermächtigungsgesetzes, gegen das Wels 1933 im Reichstag auftrat, sondern die Kenntnis breiter historischer Kontexte, um nicht sehr kurzschlüssig zu enden."
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Europa

Polen erlässt gerade eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze der Welt - deutsche Medien, die sich mit kümmerlichen Tickermeldungen begnügen, kümmert das nicht. Um längere Hintergrundartikel zu finden, muss man sich nach London begeben. Bei BBC online berichten Becky Branford und Rafal Motriuk, auch über die Proteste, die es in Polen gibt: "Barbara Nowacka von 'Save the Women' fordert, dass der Staat 'Sexualerziehung, staatliche Hilfe bei Verhütung, besseren Zugang zu Ärzten und das Recht auf Abtreibung' gewähren solle, falls ihm daran liege, die Zahl illegaler Abtreibungen zu reduzieren. Die 'pro choice'-Bewegung sammelte etwa 250.000 Stimmen, damit ihre Vorschläge im Parlament disktuiert werden, die den Antrag allerdings sofort abwies."

Schon am Mittwoch schrieb im Guardian die polnische Feministin Krystyna Kacpura, die ihre Hoffnungen auf die EU setzt: "Auch Europa hat von dem Thema Notiz genommen. Über reproduktive Rechte in Polen sollen im nächsten Monat im EU-Parlament  debattiert werden."

Wie hält man den russischen Bären im Zaum, wenn er direkt neben einem liegt? Die Finnen streiten darüber heute noch, erzählt Claus Leggewie in der FR mit Blick auch auf die Ukraine und die baltischen Länder: "Weiterhin zwei Drittel der Finnen bekunden in Umfragen, neutral bleiben zu wollen. Sie verweisen auf die guten Wirtschaftsbeziehungen mit dem östlichen Nachbarn, den regen Grenztourismus und die Abhängigkeit von russischem Gas - und erinnern an den 'Fortsetzungskrieg' mit Russland (1917 und 1941), in dem Hunderttausende Finnen ihr Leben lassen mussten. Dass im Zuge der Krim-Krise russische Jagdbomber in den finnischen Luftraum eindrangen, war da für manche ein Menetekel. Doch nicht nur Sankt Petersburg, auch Tallinn, Riga und Vilnius liegen in Reichweite. Ältere Finnen berichten, die baltischen Nachbarn, seinerzeit als Sowjetrepubliken Opfer jener Okkupation, die Finnland erspart geblieben war, seien im Erdkundeunterricht nicht vorgekommen."

Kasan ist "einer der zwei Dutzend Orte auf der Welt, die man gesehen haben muss", schreibt Arno Widmann in der FR nach einem Besuch der Hauptstadt Tatarstans, einer Republik Russlands, in der der junge Lenin agitierte: "Für die Russen ist Kasan nach Petersburg und Moskau die wichtigste Stadt. Nicht nur wegen des jungen Lenin. Mit der Eroberung Kasans begann der Weg Russlands zur Weltmacht. Die Unterwerfung Kasans war der erste Schritt zur Befreiung von den Tataren, der erste auch auf dem Weg nach Sibirien und dann noch weiter hinaus über die Weiten Asiens. Bis nach Lawrentija. Iwan der Schreckliche war der erste Zar. Zar ist das russische Wort für Kaiser und leitet sich wie dieses von Cäsar her. Kasan ist die Geburtsstätte des Zarenreiches. Erst hier wurde Moskau wirklich zum dritten Rom. Warum kommen die Türken nach Kasan? Die Stadt ist zu einem guten Teil muslimisch. Die 2005 erbaute, disneybunt strahlende Kol-Sharif-Moschee ist die größte Europas. Und sie steht mitten im Kreml, im einstigen Bollwerk des Christentums in einer muslimischen und heidnischen Umgebung."
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Politik

Die russische Unterstützung der verbrecherischen Attacken Baschar al-Assads gegen seine eigene Zivilbevölkerung ändert nichts an der Sympathie, die deutsche Sozialdemokraten fest entschlossen für Russlands Repräsentanten verbreiten wollen, konstatiert Richard Herzinger in der Welt: "Der unwürdige Auftritt des SPD-Vorsitzenden, Wirtschaftsministers und Vizekanzlers Sigmar Gabriel vergangene Woche im Kreml - einen Tag nach der Bombardierung des UN-Hilfskonvois - hat dies illustriert. Deutliche Kritik an Moskaus militaristischer Gewaltpolitik sparte Gabriel dort aus. Er ermunterte den Kremlherren sogar indirekt zu deren Fortsetzung, indem er seine Bereitschaft bekräftigte, die EU-Sanktionen aufzuweichen."

Der begnadete Polemiker Nick Cohen macht sich im Guardian Gedanken über Populismus auf der Rechten und der Linken: "Wie tief sich die Fäulnis ausgebreitet hat, ist zu ermessen, wenn man bedenkt, dass Trump und die Führer von UKIP und des Front national Putin-Bewunderer sind. Das Ausmaß der Korruption auf der Linken begreift, wer zur Kenntnis nimmt, dass der Chef der britischen Labourpartei als bezahlter Propagandist für das iranische Staatsfernsehen gearbeitet hat, dass er Milosevic verteidigte und natürlich auch Putin. Der moralische Ekel vor diesen Kollaborationen sollte niemals schwinden."
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Wissenschaft

Auch die Soziologie wird durch die Digitalisierung revolutioniert, schreibt der Zürcher Soziologe Andreas Diekmann in der SZ in einem Artikel über den heute beginnenden Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg. Aber "von alldem ist auf Soziologiekongressen leider nur vereinzelt die Rede. Im Soziologie-Studium erfährt man kaum etwas über die neuen statistischen Techniken der Kausalanalyse, über experimentelle Designs, über das Potenzial von Geo-Informationssystemen, die Bedeutung kontrollierter Interventionsstudien, die Erhebung internetbasierter Daten oder die neuen Entwicklungen in der Entscheidungs- und Spieltheorie. Wenn die Medizin sich ähnlich neuen Methoden verschlossen hätte, hätten wir heute noch den Aderlass."

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Kulturmarkt

In einem jetzt online gestellten Artikel aus der Zeit liefert der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich eine kleine Verteidigung des Kunstmarkts: Es wäre falsch, meint er, "den Kunsthandel als Übel anzusehen, als das er in der Moderne häufig galt, als viele Künstler und Kunstfreunde die Werke bildender Kunst - in der Fortsetzung der Logik des Museums - gerne vom Schicksal erlöst hätten, Waren zu sein. Während sie befürchteten, jeder Preis würde die Kunst profanieren, muss man im Gegenteil anerkennen, dass die Bemühung um Exklusivität vonseiten des Handels die Kunstwahrnehmung derer, die Werke kaufen und besitzen können, entscheidend geprägt und oft sogar erst Wertschätzung für einzelne Kunstrichtungen geschaffen hat."
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Geschichte

Kolja Reichert besucht für die FAZ das neue Nationalmuseum für afroamerikanische Geschichte und Kultur in Washington: "Auch afroamerikanische Kunst wird gezeigt, leider mit einem Hang zu Handwerk und Folklore. Konzeptuellere Positionen wie David Hammons, William Pope. L oder Kara Walker fehlen. Den breitesten Raum nimmt das Showgeschäft ein: Es gibt das Klavier des 'Father of Gospel' Thomas A. Dorsay. Die selbstgebaute rechteckige Gitarre von Bo Diddley. Den Cadillac von Chuck Berry." In der taz berichtet Dorothea Hahn, in der NZZ schrieb Ronald D. Gerste.
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Gesellschaft

In der FAS nimmt Tobias Rüther die unsäglichen Reaktionen auf Angela Merkels aufmunternden Spruch "Wir schaffen das" auseinander. Da ist bis heute von "Einladung" an die Flüchtlinge die Rede (die es nie gab), von Staatsversagen und Destabilisierung. Wo denn, fragt Rüther? "Dass es mit der Registrierung ankommender Flüchtlinge Schwierigkeiten gab, war ein schwerwiegendes Problem, aber keine Destabilisierung. Man musste es lösen. Es ist gelöst worden. Aus Einzelfällen, in denen das immer noch nicht gelingt, aber Aussagen für die gesamte Lage abzuleiten, ist infam."

In ihrer monatlichen Freibank in der taz porträtiert Gabriele Goettle eine Urgestein der alternativen Szene in Berlin, Hans-Georg Lindenau, der in der Kreuzberger Manteuffelstraße einen nun von Zwangsräumung bedrohten Buchladen betreibt: "Der Laden M99 sticht sofort negativ ins Auge. Man versteht HG Lindenau und seinen Laden heute nicht mehr, wenn man die politische Vorgeschichte außer acht lässt. Deshalb hier ein paar Randbemerkungen: Die Manteuffelstraße ist gewiss keine architektonische Perle die man verschandeln könnte, aber die Nr. 99 wirkt heute wie ein schockierende Schandfleck. Dabei sah es Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre hier überall so aus. Und ein Schandfleck wäre es gewesen, wenn nicht überall besetzte Häuser oder bunte Fassaden mit Spruchbändern zu sehen gewesen wären."
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