9punkt - Die Debattenrundschau

Ähnliche Aufmärsche

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.05.2017. In der NZZ erweist Hans Ulrich Gumbrecht den Techno-Genies in seinen geisteswissenschaftlichen Stanford-Seminaren Reverenz. Ebenfalls in der NZZ fragt Slavoj Zizek, wie bunt die bunte Linke tatsächlich ist. In der SZ erinnert Gustav Seibt daran, dass der "Abfall vom normativen Projekt des Westens," bielang eher eine europäische Spezialität war.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.05.2017 finden Sie hier

Ideen

In der NZZ erzählt Hans Hans Ulrich Gumbrecht, was ihm widerfährt, wenn junge Techno-Genies als Gaststudenten in seine geisteswissenschaftlichen Seminare in Stanford kommen: "Gleich die erste Diskussion im 'Ästhetik'-Kurs entwickelte eine unerwartete Intensität. Ich hatte eine Eröffnungsfrage nach Beispielen für die Verwendung der Begriffe 'schön' und 'erhaben' gestellt, die sich nicht auf Kunstwerke beziehen - und sofort nannte eine Studentin die 'Eleganz mathematischer Gleichungen', um eine Debatte unter ihren Kommilitonen auszulösen, deren Komplexität vor allem mich überforderte."
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Gesellschaft

Der bekennende Leninist Slavoj Zizek kann mit der kunterbunten Linken, die sich unter dem LGBT-Banner versammelt nicht viel anfangen. In der NZZ erklärt er nach einer Pride-Parade in Vancouver, was ihn an dieser neuen "political correctness" stört: "Hier waren mehrheitlich gut ausgebildete weiße, privilegierte Frauen und Männer unterwegs, die über hohen sozialen Status verfügen. Die Parade erinnerte mich an so viele ähnliche Aufmärsche, die ich in meiner Jugend im kommunistischen Jugoslawien miterlebte. Paraden zum Tag der Arbeit, an dem unterschiedliche Kollektive ihre 'Einheit in Vielfalt' feierten, alle unter dem gemeinsamen Schirm der herrschenden Ideologie (Bruderschaft und Einheit aller Nationen im selbstregierten und blockfreien sozialistischen Jugoslawien)."
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Kulturpolitik

Heute kann man in Berlin Keywan Karimis Dokumentarfilm "Writing on the City" sehen, für den der iranische Regisseur ins Gefängnis musste. Insgesamt sehen iranische Kulturschaffende seit der Wahl Hassan Rohanis mit leichtem Optimismus in die Zukunft, berichtet Omid Rezaee im Tagesspiegel: "Am letzten Freitag konzertierte der Komponist und Tar-Spieler Keywan Saket im südiranischen Abadan, allen Drohungen der Konservativen zum Trotz. Die Hardliner hatten die Veranstalter einzuschüchtern versucht, aber die Regierung unterstützte Sakets Ensemble. Ein Sieg für die Reformer, hatten sich die Erzkonservativen in den letzten vier Jahren doch regelmäßig eingemischt und bereits genehmigte Konzerte oft in letzter Sekunde verhindert."
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Stichwörter: Iran

Urheberrecht

Christian Rath nimmt in der taz das wehleidige Gejammer der FAZ über den Gesetzentwurf zum Urheberrecht in der Wissensgesellschaft (unser Resümee) aufs Korn. Viel dran sei nicht an den Argumenten der Kollegen: "Konkret kritisiert die FAZ, dass Bildungseinrichtungen bei Presseartikeln nicht nur 15 Prozent erlaubnisfrei nutzen dürfen, sondern den ganzen Artikel. Das ist aber nichts Neues, sondern gilt schon seit 2003. Thomas Thiel behauptet, der Gesetzentwurf 'erlaubt es einem jeden, einzelne Zeitungsartikel der Allgemeinheit zu Bildungszwecken kostenlos zur Verfügung zu stellen'. Das ist nicht richtig. Das Gesetz privilegiert nur Bildungseinrichtungen - Schulen, Unis, Weiterbildungseinrichtungen -, und auch diese dürfen die Materialien nur Kursteilnehmern zugänglich machen, nicht der Allgemeinheit."
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Politik

In ihrer Interviewreihe zu fünfzig Jahren Sechstagekrieg unterhält sich taz-Korrespondentin Susanne Knaul mit dem palästinensischen Bankier Sam Bahour, der auch Kritik an dan Palästinensern übt: "Zwei Generationen kennen nichts anderes als die Realität von Soldaten, Checkpoints und Verboten. Das schafft eine Geisteshaltung, die nicht gesund ist. Die Besatzung hat die palästinensische Existenz dahingehend verändert, dass sie sich auf den Widerstand konzentriert anstatt darauf, eine aufstrebende, lebhafte Gesellschaft zu schaffen."
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Europa

Wenn die Europäer Amerika aus dem "Westen" verabschieden und ihr Schicksal nun tatsächlich in die eigene Hand nehmen, wie Angela Merkel kürzlich forderte, könnte es für sie eng werden, meint Gustav Seibt in der SZ und wirft einen Blick zurück: "Was war die Militärdiktatur Napoleons anderes als ein Abfall vom normativen Projekt des Westens, und zwar in einem Kernland seiner Entstehung? Keine Gewaltenteilung, ein schönes Gesetzbuch, aber keine unabhängige Justiz, Pressezensur, überwachter Briefverkehr, politische Verhaftungen Zehntausender. Im 20. Jahrhundert gingen immer wieder ganze Nationen für den normativ verstandenen Westen verloren, Italien, Spanien, Deutschland. Und ob dessen Gefährdung heute in Ungarn und Polen nicht größer ist als in den USA, ist eine offene Frage. Die Schließung der Balkanroute am vorläufigen Ende der Flüchtlingskrise geschah unter normativ so fragwürdigen Umständen, dass der Westen von seinem reaktionären Schatten, dem 'Abendland', kaum mehr zu unterscheiden war."
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