9punkt - Die Debattenrundschau

Das Duisburg Spaniens

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.05.2018. In Trier stiften die Chinesen ein gigantisches Marx-Denkmal. Zum morgigen Geburtstag soll es enthüllt werden. Gereon Sievernich, ehemals Gropius-Bau, ruft dazu auf, den Tag der Einweihung auf den Tag der Freilassung Liu Xias zu verschieben, berichtet die Berliner Zeitung. Der Welt wird angesichts des andauernden Marx-Hypes langsam mulmig. In Libération erklärt Bénédicte Savoy, wie sie afrikanische Kunst restituieren will.  Und Kanye Wests Äußerungen über Sklaverei verstören die amerikanischen Medien: Newsweek führt fünf Professoren auf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.05.2018 finden Sie hier

Ideen

In Marx' Geburtsstadt Trier soll ein von dem chinesischen Künstler Wu Weishan entworfenes und von der Volksrepublik China gestiftetes, 4,40 Meter hohes Marx-Denkmal mit Ausstellungseröffnungen, deutsch-chinesischem Partnerschaftsgarten und mehr Tamtam enthüllt werden. Petra Kohse berichtet in der Berliner Zeitung von einem Brief des ehemaligen Direktors des Martin-Gropius-Baus, Gereon Sievernich, der Triers Oberbürgermeister Wolfram Leibe auffordert, die Feierlichkeiten auf den Tag zu verschieben, an dem China den Hausarrest von Liu Xia aufhebt: "Sievernichs Brief kam erst am Sonntag im Trierer Rathaus an - und ist auch nicht der einzige, der gegen die Enthüllung der Statue protestiert. Etwa 50 Kritiker gebe es, sagt der Pressereferent Michael Schmitz, mit unterschiedlichsten Anliegen, der Oberbürgermeister werde allen antworten und sie nach Trier einladen - nach der Geburtstagsfeier."

In der SZ meldet Kai Strittmatter: "Tatsächlich geht es Liu Xia schlecht, sie leidet offenbar an schwerer Depression. Die Enttäuschung über die erneut nicht genehmigte Ausreise scheint die Lage noch schlimmer zu machen. 'Wenn ich nicht weg kann, dann sterbe ich in meiner Wohnung', sagte sie dem Schriftsteller Liao Yiwu in einem Telefonat am 30. April. 'Xiaobo ist nicht mehr da, und in dieser Welt ist nichts mehr für mich. Sterben ist jetzt einfacher als am Leben zu bleiben.'" Im Interview mit Spon rät der Menschenrechtsaktivist Hu Jia Diplomaten, sich lautstark für Liu Xia einzusetzen: "Unterwerft euch nicht der Logik der chinesischen Regierung. Macht so viel Lärm wie möglich - wann immer ihr das könnt."

"Verstörend" erscheint Olaf Gersemann in der Welt der aktuelle Marx-Hype, vor allem auch, weil er die Kapitalismuskritik nicht weiterbringe: "Marx-Getreuen bleibt nur, weiter eine fallende Lohnquote zum Naturgesetz zu erklären und daraus abzuleiten, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden müssen. Das eine ist - nachweisbar - so falsch wie das andere. Und daher können die Sympathisanten heute so wenig zur Lösung der sozialen Frage beitragen wie ihr Idol es im 19. Jahrhundert vermochte. Wer einen Automatismus via Verelendung in die Revolution unterstellt, mag sich nicht kümmern um Details, Differenzierung oder gar Empirie." Im Feuilleton-Aufmacher der SZ erklären Literaturkritiker unterdessen Marx-Metaphern.

In der Jüdischen Allgemeinen schreibt Martin Krauss über Religiosität, den Antisemitismus von und antisemitische Attacken gegen Karl Marx: "In Marx' Werk finden sich etliche Passagen, die von Ressentiments, teils Hass auf Juden geprägt sind. Doch, das sagen auch seine Kritiker, das ist keine geschlossene Weltanschauung. Marx'sche Wertanalyse und Kritik der politischen Ökonomie sind nicht antisemitisch."

Der globale Armutsreferenzwert liegt bei knapp 60 Euro im Monat, schreibt der Ökonom Wolfgang Fengler in der SZ und kritisiert, dass in vielen Staaten Europas eine relative Armutsdefinition verwendet werde - diese führe nicht zur Definition von Armut, sondern beschreibe lediglich Ungleichheit: "Zum Beispiel war die Ungleichheit in Deutschland und in der Welt bis zum Jahr 1800 recht gering. Fast alle Menschen waren gleich, nämlich gleich arm. Wenn man den 'Armutsbericht' damals veröffentlicht hätte, wäre die offizielle Armut nahe null gelegen, weil mehr als 95 Prozent der Menschen unter fast gleichen, meist schrecklichen Umständen lebten. Wenn man umgekehrt heute alle Realeinkommen verdoppeln würde, inklusive Hartz-IV-Satz, bliebe die Anzahl der Armen trotz des enormen Wohlstandsgewinns gleich. Schließlich könnten wir zum Ergebnis kommen, dass arme Länder mit moderater Ungleichheit, zum Beispiel Bangladesch oder Tadschikistan, plötzlich eine ähnliche Armutsquote hätten wie Deutschland."
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Kulturpolitik

Virginie Bloch-Lainé unterhält sich für Libération mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und dem Ökonom Felwine Sarr, die von Emmanuel Macron mit der heiklen Aufgabe der Restitution afrikanischer Kunstschätze an ihre Ursprungsländer betraut wurden. Unsere Aufgabe", sagt Savoy, "besteht ja nicht darin, die Objekte aus der Vitrine zu nehmen, sie in Kisten zu stecken und abzuschicken. Wir müssen erstmal die allgemeinen Problematiken definieren: Was heißt es, über hundert Jahre seines Erbes beraubt zu sein und nicht einmal zu wissen, was man hat? Lassen sich Formen einer 'geteilten Obhut' ersinnen? Können einige Objekte dort verbleiben, wohin die Geschichte sie verschlagen hat?"
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Europa

Im politischen Teil der SZ blickt Sebastian Schoepp auf die Wurzeln des baskischen Nationalismus, der im 19. Jahrhundert aus Angst entstanden sei, als Volksgruppe auszusterben: "Bilbao wurde im Zuge der Industrialisierung zum Botxo, zum rußverseuchten 'Loch', dem Duisburg Spaniens. Dagegen formierte sich ein Nationalromantizismus, der von Kirchenmännern befeuert wurde. 1881 erschien das Epos 'Peru Abarca' des Priesters und Hochschullehrers Juan Antonio Moguel Urquiza, der erste baskische Roman. In ihm ersteht das Idealbild des fleißigen, knorrigen, geradlinigen Basken, der in Einheit mit Mutter Erde und nach der Sitte der Vorväter lebt. Das Leben spielt sich ab um das Caserío, die dick ummauerte rustikale Heimstatt, und die Herde, die um jeden Preis verteidigt werden müssen."

Im Ausland steht Emmanuel Macron mit einer Gloriole da. Im Inland wollte er 1968 feiern und erlebt das Jahr statt dessen als Remake, schreibt Jürg Altwegg in der FAZ: "Universitäten werden besetzt und von der Polizei geräumt. Der Bahnstreik lähmt das Land und wird geführt, als gehe es um die historische 'Schienenschlacht' des antifaschistischen Widerstands im Krieg. Auf den Bau des Flughafens bei Nantes hat die Regierung verzichtet - die Besatzer sind geblieben. Bürger, die in den Alpen den Flüchtlingen das Leben retten, werden ins Gefängnis gesteckt. Die Demonstrationen des diesjährigen 1. Mais waren zerstörerisch wie schon lange nicht mehr."

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Geschichte

Schlimm, Kanye West, der Gott des HipHop, hat neulich nicht nur seine Sympathie zu Donald Trump bekannt, nun  hat er auch noch in einem Interview gesagt, die Sklaverei habe Hunderte Jahre gedauert, also hätten sich die Versklavten wohl in sie gefügt (es sei "ihre Entscheidung" gewesen). Newsweek fährt gleich fünf amerikanische Professoren auf, um ihm zu antworten. Die Afrikanistin Carole Boyce Davies sagt : "Die Strafen für Sklaven, die sich auflehnten, sind vielfach dokumentiert. Das Buch 'If We Must Die' (2009) dokumentiert über 500 Meutereien auf Sklavenschiffen... Man kann verstehen, dass Kanye West frustriert ist, dass sich die Dinge in seiner Heimatstadt Chicago seit seiner Kindheit nicht verändert haben, obwohl ein Politiker aus Chicago - Barack Obama - Präsident war. Vielleicht ist die Kritik an  Obama immer mehr zugunsten eines geschönten Bilds zurückgedrängt worden. Aber diese Kritik kann nicht darin bestehen, alle schwarzen Menschen zu beleidigen." The Daily Beast bringt ein Video mit einem Interview Whoopi Goldbergs, in dem Wests Äußerungen dokumentiert sind. West bekräftigte seine Aussage in einigen Tweets, die er später löschte, informiert Olivia B. Waxman in Time.
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Internet

"Warum trauen die Menschen in demokratischen Staaten ihren Regierungen keinen sorgsamen Umgang mit ihren Daten zu, während sie ihren Banken und sogar Facebook diesbezüglich vertrauen?" fragt in der Welt die Wirtschaftswissenschaftlerin und estnische Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid und erzählt von der strengen Regulierung digitaler Daten in ihrem Land, etwa mit Blick auf das estnische Genom-Gesetz: "Auch hier haben wir keine 'wilde Welt' erschaffen - manchmal denken die Menschen: Seid ihr naiv. Ihr erlaubt jedem, in eure DNA zu schauen. Nein, sind wir nicht. Wir haben eine Rechtsabteilung geschaffen, die genau festlegt, was möglich ist, wie die Daten gespeichert werden müssen, wer das Recht dazu hat und wie die gewonnenen Daten für die medizinische Entwicklung verwendet werden dürfen. All das ist streng reguliert, aber zugelassen."
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Gesellschaft

Die Urteile zum Paragrafen 219a, der Frauenärzten und -ärztinnen die Information über Schwangerschaftsabbruch untersagt, verdanken sich zum großen Teil dem Einfluss des "Tröndle/Fischer", eines maßgeblichen Kommentars zum Strafgesetzbuch, der offenbar in jedem Richter-Regal steht, berichtet Gaby Mayr in der taz. Der Kommentar hatte seine ersten Ausgaben noch in der Weimarer Zeit: "Mit Herbert Tröndle übernahm ab 1978 ein fanatischer 'Lebensschützer' das einflussreiche Geschäft des Kommentierens. Nun konnte der erzkonservative Katholik seine sittlichen Vorstellungen flächendeckend in der Justiz verbreiten. Bei einer Bundestagsanhörung wandte sich Tröndle 1992 gegen die Abschaffung von Paragraf 175 Strafgesetzbuch, der homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte... Vor allem aber kämpfte er gegen eine Liberalisierung der Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch. Tröndle schrieb für das 'Lebensschutzhandbuch' des katholischen Bonifatiusverlags und engagierte sich an führender Stelle in der Juristen-Vereinigung Lebensrecht, einer Lobbyorganisation selbsternannter Lebensschützer."

Von einer kontroversen, allerdings nur in Anwesenheit eines Imams geführten Diskussion über das Kopftuchverbot in der Dar-as-Salam-Moschee in Berlin-Neukölln mit 13 Musliminnen aus Syrien, Libanon, Marokko und Palästina berichtet auf Zeit Online die syrische Autorin Souad Abbas: "Der Standpunkt der islamischen Theologie zur Verschleierung junger Mädchen sei eindeutig, erklärt Taha Sabri, der Imam. Erst mit dem Beginn der Pubertät werde das Tragen des Kopftuchs zu einer religiösen Pflicht, ein kleines Mädchen mit unbedecktem Haar verletze somit kein religiöses Gebot. Zudem spiegele die muslimische Community in Deutschland die Diversität der Gesellschaften wider, aus denen die Muslime eingewandert sind."
Archiv: Gesellschaft