9punkt - Die Debattenrundschau

Beitrag zur medialen Grundversorgung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.06.2018. Die italienischen Populisten hassen Deutschland, schreibt Angelo Bolaffi in der SZ, und Deutschland gibt ihnen mit Arroganz und Ignoranz Futter. Die taz setzt ihre verdienstvollen Recherchen zur Institutionalisierung der AfD fort. Die FAZ erklärt, warum der BND nach einer Gerichtsentscheidung einfach weiter die Daten von Bürgern absaugen darf. Die Kirchen biedern sich bei Islam-Funktionären an, damit ihre eigene Rolle nicht in Frage gestellt wird, sagt Alice Schwarzer im Deutschlandfunk.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.06.2018 finden Sie hier

Europa

Italien ist in zwei populistische Lager gespalten, ein "rechtes", nationalistisches und ein "linkes", illiberales und totalitäres, konstatiert in der SZ der italienische Philosoph und Politologe Angelo Bolaffi. Beide eint die Ablehnung Europas und der "Hass auf Deutschland", so Bolaffi und erklärt, wie es vor allem nach Finanz- und Flüchtlingskrise so weit kommen konnte: "Nicht etwa, weil Deutschland antieuropäisch agierte, wird Deutschland so gesehen, sondern paradoxerweise eben deshalb, weil es der unbeirrte Wächter der europäischen Verträge und ihrer Einhaltung ist. Man muss freilich auch unterstreichen, dass zur Dynamik, mit der sich die gestörte Wahrnehmung zwischen beiden Ländern entwickelte, auch die Voreingenommenheit beitrug, mit der Deutschland Italien begegnete, sowie das Wiederaufgreifen alter Stereotype und Vorurteile gegenüber Italien in den deutschen Medien. Nicht zuletzt die inakzeptable Zumutung ist hier zu nennen, dass Deutschland stets unbeugsamer Richter der Verfehlungen anderer, aber nie der eigenen ist." Auf Spiegel Online zeichnet Claus Hecking nach, warum gerade junge Wähler in Italien für die Populisten stimmten.

Arkadi Babtschenkos
Wiederauferstehung ist ja eine erfreuliche Meldung, ihre Umstände erfreuen Klaus Helge Donath, den Moskau-Korrespondenten der taz, nicht so: "Nur zu gerne werden Bedenken an Kiews Vertrauenswürdigkeit zur Verteidigung Moskauer Rechtsverstöße ins Feld geführt. Ukrainische und russische Rechtsverdrehungen werden nicht gleich wahrgenommen und auch nicht gleichbehandelt. Der Kreml erscheint immer im Vorteil. Auch Babtschenkos Glaubwürdigkeit als Journalist dürfte gelitten haben." Bernhard Clasen trägt in einem zweiten Artikel ukrainische Reaktionen auf die Nachricht zusammen.

Die taz setzt ihre verdienstvollen Recherchen zur Institutionalisierung der AfD fort. Besonders unter jungen AfDlern zeigt sich häufig eine Nähe zu rechtsextremen Kreisen, berichten Hannah Bley und Anna Grieben, und nicht wenige dieser jungen AfDlern finden Anstellungen in der AfD-Fraktion im Bundestag, wodurch sie ihre Netzwerke stärken können: "Dafür steht ihnen im Bundestag eine professionelle Infrastruktur zur Verfügung. Der Sozialwissenschaftler und AfD-Experte David Bebnowski vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam hält das für ein Problem. 'Man muss bedenken, auf was für Informationen diese Leute auf einmal zugreifen können', sagt Bebnowski. Angestellte mit Verbindungen in rechtsextreme Milieus hätten dort eine Ausstattung, 'die ihnen zu Hause am Rechner mit einer kleinen, rechten Splittergruppe sicher nicht zur Verfügung stehen würde'." Ernst Kovahl untersucht den neuen Einfluss der Burschenschaften im Bundestag.

Emmanuel Macron lässt die Banlieues im Stich, schreibt Martina Meister in der Welt und wagt einen Blick in jene Zonen, die der Soziologe Farhad Khosrokhavar als "dschihadogen" bezeichnet und die Faktoren aufweisen, "die sich an allen Problemvierteln Europas durchdeklinieren lassen: eine Konzentration von jungen Männern derselben ethnischen Herkunft, Stigmatisierung, Gettoisierung, Entwicklung illegaler Parallelwirtschaft und Kriminalität, Jugendarbeitslosigkeit, oft doppelt so hoch wie im Rest des Landes, aufgesprengte Familienstrukturen. Entstanden sind soziale Enklaven, die geografisch, wirtschaftlich, verkehrstechnisch, aber vor allem symbolisch von den Aktivitätszentren abgehängt sind. Die Personen, die aus der Gesellschaft auf diese Weise ausgeschlossen wurden, so Khosrokhavar, strebten nicht einmal mehr an, wieder in sie integriert zu werden. Sie würden sich vielmehr um 'Nichtdazugehörigkeit' bemühen, die sie demonstrativ ausstellen."

In der Türkei läuft es wirtschaftlich übel, und Tayyip Erdogan stößt bei seiner Selbstverwirklichung als neuer Sultan auf unerwartete Widerstände, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Wegen des Drucks von Regierungsseite kann in der Türkei außer einer Handvoll unabhängiger Presseorgane niemand über diese Fakten berichten. Aufgrund des Angstklimas trauen sich die Wähler kaum noch, bei Umfragen ihr Wahlverhalten preiszugeben. Trotz dieses Klimas könnten die Wähler, die den Niedergang der Wirtschaft spüren, Erdogan und seiner Partei bei den Wahlen am 24. Juni einen unerwarteten Schlag versetzen."

Weiteres: Die Welt druckt einen offenen Brief ab, in dem sich unter anderem Herta Müller und Karl Schlögel für die Freilassung des ukrainischen Filmemachers Oleg Senzow einsetzen.
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Überwachung

Das Unternehmen De-Cix betreibt den größten Internetknoten der Welt bei Frankfurt. Hier gibt es unterschiedliche Aktivitäten der deutschen Geheimdienste, die ohne Scheu Daten der Bürger absaugen - herausgekommen war das erstmals im Rahmen der Snowden-Enthüllungen. Nun hat De-Cix vor Gericht gegen den BND verloren, obwohl die Richter die Repräsentanten der Behörde sehr streng befragt hatten, berichtet unter  anderem Hendrik Wieduwilt  im FAZ.Net: "Dennoch hat das Gericht in seinem Urteil am Abend die Überwachung zugelassen - und das hat vor allem einen eher formalen Grund. Denn De-Cix kann sich in den Augen der Verwaltungsrichter nicht zum Anwalt der Internetnutzer aufschwingen. Der Infrastrukturbetreiber hatte argumentiert, dass das Bundesinnenministeriums gegen das Fernmeldegeheimnis verstoße, indem es De-Cix zur Kooperation heranziehe. Doch das Betreiberunternehmen dürfe nur eigene Rechte geltend machen, argumentierte der Senat, und das sei eben nicht das Fernmeldegeheimnis, sondern die Berufsfreiheit."
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Ideen

"Les Noirs n'existent pas", so heißt ein Essay der (selbst schwarzen) Autorin Tania de Montaigne, die im Gespräch mit Gladys Marivat von Le Monde erklärt, warum sie ein Problem mit Identitätspolitik hat. Es gebe einerseits die klein geschriebenen Adjektive, wenn man über eine schwarze, eine jüdische, eine arabische Person spreche und damit vom Prinzip ausgehe, "dass man die französische Nationalität, oder gar eine Person nicht über eine Hautfarbe oder einen Ursprung definieren kann. Aber das andere, was passiert, und worüber ich arbeite, ist, wie sich diese Realität verändert, wenn man die Adjektive in Substantive verwandelt: die Juden, die Schwarzen, die Araber und so weiter. Plötzlich erstarrt hier etwas, Personen werden starren Kriterien unterworfen um einer leichten Wiedererkennbarkeit willen. Aber es gibt keine Einfachheit. Wenn man mit den Großbuchstaben anfängt, glaubt man eine Identität zu schaffen, während man sie in Wirklichkeit auslöscht. Man verwandelt eine Person in eine Sache."
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Religion

Im DLF-Gespräch mit Andreas Main spricht Alice Schwarzer über das Kopftuch, das sie im Gegensatz zum Kreuz ganz klar als politisches Signal versteht, über ihr Unverständnis darüber, dass man in Deutschland den Unterschied zwischen Islam und Islamismus nicht begreifen will und über die "fatale" Rolle der Kirchen, die den Schulterschluss mit Islamverbänden suchen, um ihre Privilegien nicht aufzugeben: "Ich glaube, dass diese demonstrierte Toleranz eine verlogene und falsche Toleranz ist und dass in Wahrheit die christlichen Kirchen ihre Ruhe haben wollen und ihre islamischen Freunde da abfüttern, damit die nicht infrage gestellt werden, aber das ist sehr gefährlich und sehr falsch, denn die Islamisten sind keine Glaubensgemeinschaft, sondern sind eine politische Strategie, eine weltweite Strategie mit stark faschistoiden Zügen."

Ob Bayern, Polen, Ungarn oder insbesondere Russland - zunehmend wird eine vorgeblich christliche, vor allem aber vormoderne und sich von anderen Religionen abgrenzende Tradition für autoritäre Staatszwecke in den Dienst genommen, schreibt Thomas Schmid in der Welt: "Alle diese neo-autoritären Advokaten eines Christentums ohne Barmherzigkeit wollen im Grunde zurück in die Staaten- und Glaubenswelt des 19. Jahrhunderts, in der der Krieg zwischen Staaten der Normalfall war. In der - besonders bei Orthodoxen und Protestanten - die Kirche ein Anhängsel des Staates und eine obrigkeitliche Institution war. Und in der an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte noch gar nicht zu denken war - geschweige denn an internationale Organisationen wie Völkerbund, Vereinte Nationen, UNHCR oder Internationaler Gerichtshof."

Weiteres: In seiner NZZ-Kolumne erläutert Hans-Magnus Enzensberger, weshalb er lieber Agnostiker als Atheist ist: Man "braucht sich nicht den harten und weichen Vorschriften zu fügen, die von irgendwelchen Institutionen ersonnen werden."
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Medien

ProSieben-Manager Conrad Albert möchte auch ein Stück vom rund acht Milliarden schweren Rundfunkbeitrags-Kuchen, zumindest für gesellschaftspolitisch-relevante Sendungen, weiß Christian Meier in der Welt, der mit Albert gesprochen hat: "Albert spricht von einem 'Selbstverständnis als öffentlich-rechtliche Belehrungsanstalten', die wegen ihrer unübersichtlichen Strukturen 'kernsaniert' werden müssten. Auf der anderen Seite leisteten die Privatsender bereits heute einen 'wichtigen Beitrag zur medialen Grundversorgung der Bürger'. Und dieser Beitrag, legt Albert nahe, könnte noch viel höher ausfallen, wenn man dafür Geld bekäme. 'Wir fühlen uns dem öffentlichen Gemeinwohl verpflichtet', beteuert er, 'nicht in erster Linie aus ökonomischem Interesse.'" Der Perlentaucher auch, bitte!

Die Landesmedienanstalt Berlin-Brandenburg fordert den Springer Verlag auf, für ein paar Livestreams der Bild-Zeitung eine Rundfunklizenz zu beantragen. Dagegen klagt Springer, und zwar zu Recht, meint Michael Hanfeld in der FAZ: "Zuerst haben die Landesmedienanstalten kleine Privatanbieter von Youtube-Streams mit der Lizenzpflicht überzogen, jetzt nehmen sie sich - wie es nicht anders zu erwarten war - die Zeitungen vor. Mangels Auslastung bei der rechtlichen Beaufsichtigung der Privatsender suchen sich die Anstalten ein neues Betätigungsfeld.

Weiteres: In der SZ nimmt Peter Richter Abschied vom US-Magazin Interview, das nach knapp fünfzig Jahren eingestellt wird.
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