9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Art moralischer Überwältigungsstrategie

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.03.2019. Viel mehr als mit einem Leistungsschutzrecht wäre den Internetnutzern und übrigens auch den Medien mit einer eprivacy-Verordnung gedient - aber auch die Medien wollen nicht auf Tracking-Werbung verzichten, konstatiert Friedhelm Greis bei golem.de. Und übrigens haben sich die europäischen Verbände als die stärkeren Lobbyisten erwiesen, schreibt Thomas Stadler in seinem Blog. Der große Gewinner der Debatte um das Framing-Papier der ARD ist die ARD, staunt der Linguist Henning Lobin in seinem Blog. Emmanuel Macron hat gegen die Gelben Westen gewonnen, sagt Bernard-Henri Lévy im Standard.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.03.2019 finden Sie hier

Internet

Friedhelm Greis legt bei golem.de nochmal eine große Analyse zur Debatte um die europäische Urheberrechtsreform und besonders natürlich Artikel 11 (Leistungsschutzrecht) und 13 (Uploadfilter) vor. Zum einen stellt er einen Generationenkonflikt fest, weil Politiker, die das Internet noch ausdruckten, nicht verstünden, wie stark das Thema jüngere Internetnutzer umtreibe. Zum anderen führt er aus, dass die großen Internetkonzerne nicht durch das Urheberrecht zu bändigen sind: "Vor allem den Medien könnte es mehr helfen, wenn es Google und Facebook erschwert würde, mit ihren vielen unlauteren Methoden die Nutzer immer besser auszuforschen. Der datengetriebene Überwachungskapitalismus sollte gerade nach Ansicht der internetaffinen Nutzer viel stärker reguliert werden. Jedoch nicht mit Hilfe des Urheberrechts, sondern mit einem konsequent angewandten Datenschutz und Wettbewerbsrecht... Doch viele Medien stören sich am exzessiven Nutzertracking gar nicht und befürchten eher, dass sie selbst durch die E-Privacy-Verordnung im Vergleich zu Google und Facebook ins Hintertreffen geraten." Interessant übrigens auch die Passagen über die Rolle der französische Lobbyisten und Kulturindustrie in dieser Debatte."

Natürlich lobbyieren Google und Facebook gegen Artikel 11 und 13 der EU-Urheberrechtsreform, aber sie sind bei weitem nicht die stärksten Lobbyisten in Europa, schreibt Thomas Stadler in seinem Blog internet-law.de mit Blick auf die Zeitungsverlage: "Es ist gerade der über Jahrzehnte hinweg gewachsene Einfluss europäischer Verbände, der Artikel 11 und  13 möglich gemacht hat. Google und andere US-Player verfügen, egal wieviel Geld sie in die Waagschale werfen, in Europa nicht ansatzweise über einen vergleichbaren politischen Einfluss. Wenn in diesem Gesetzgebungsverfahren der Eindruck eines übermächtigen Lobbyismus von Google & Co. erweckt wird, ist dies nichts weiter als ein Zerrbild."

Die Krise der Wikipedia ist auch eine Folge des Triumphs der sozialen Medien - und spricht nicht für letzte, schreibt Michael Seemann bei Deutschlandfunk Kultur: "In den sozialen Medien versammeln sich die Menschen um ihre jeweiligen Wahrheiten. Wem die eine Wahrheit nicht passt, der geht in die andere Gruppe. Und von der eigenen Gruppe aus kann man dann gemeinsam die andere Gruppe mit der falschen Wahrheit beschimpfen. Das Ringen mit fremden Menschen um einen 'Neutralen Standpunkt', der bei der Wikipedia die Leitlinie der Zusammenarbeit bildet, wirkt dagegen anstrengend und das Ergebnis - der Kompromiss - wirkt unbefriedigend."
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Europa

Emmanuel Macron hat gegen die Gelben Westen gewonnen, sagt Bernard-Henri Lévy im Gespräch mit Stefan Weiß im Standard: "Wie? Er hat das Beste der Gelbwesten, den Wunsch nach mehr Debatte und Dialog, in seine Politik integriert und das Schlechte der Bewegung, Gewalt, das Antidemokratische, Rassistische, Homophobe, Antisemitische, bekämpft."
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Politik

In der FAZ hält der chinesische Autor Liao Yiwu ein dringendes Plädoyer für die Freilassung von Pastor Wang Yi, seiner Frau und ihrer Gefährten. Die beiden wurde zusammen mit rund 100 Gläubigen im Dezember 2018 von der Polizei verschleppt. "Als ich die Heimat dieses Albtraums verließ, ist Wang Yi trotz seiner Krankheit weiter vorwärtsgegangen auf seinem Weg, bis zur Verhaftung. Ich fürchte, er kommt nicht zurück. Ihr wisst es: Dieses Land, diese Städte - Ürümqi, Lhasa, Chengdu oder auch Peking - sind in Wirklichkeit vollgestopft mit politischen Gefangenen, obwohl all die Leute, die es noch nicht getroffen hat, so weit von ihnen entfernt zu sein scheinen wie von den Sternen. Oder mindestens von Afrika. Ich schreibe diesen Text für den Dichter, für den Schriftsteller, für den Pastor Wang Yi. Ich appelliere an alle Politiker im Westen, an alle Dichter, Schriftsteller und China-Experten, an alle, die sich mit Menschenrechten beschäftigen, und an alle einfachen Bürger, Widerstand auszuüben gegen die Gehirnwäsche und den Krieg, der die Seele angreift."
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Stichwörter: Wang Yi, Liao Yiwu, China

Gesellschaft

Einige tazler sind bei der Israelkritik immer ganz vorne dabei, zum Beispiel Andreas Zumach, viel gefragter UN-Experte, der als Vorsitzender der Jury des "Göttinger Friedenspreises" die israelkritische Organisation "Jüdische Stimme" auserkor. taz-Autor Micha Brumlik unterstützt die Auszeichnung. Der Preis soll am 9. März verliehen werden, meldet Alexander Diehl in der taz. "Göttingens SPD-Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler und Uni-Präsidentin Ulrike Beisiegel - beides Mitglieder des Stiftungskuratoriums - zogen ihre Unterstützung zurück, ebenso die örtliche Sparkasse. So standen Stiftung und Jury ohne Räumlichkeiten für die Preisübergabe da. Zumach trug Köhler und Beisiegel eine Podiumsdiskussion zum Thema Antisemitismus und BDS an, wartet aber noch auf eine Reaktion." Die taz veranstaltet außerdem ein Pro und Contra zum Preis für die der BDS-Bewegung nahestehende Organisation. Für das Ja steht Moshe Zimmermann, für das Nein Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung.

"Institutionell rassistisch" ist die Labour-Partei inzwischen, sagt die britische Abgeordnete Joan Ryan, die vor kurzem aus Labour ausgetreten ist und der neuen "Independent Group" im House of Commons angehört, im Gespräch mit Daniel Zylbersztajn in der Jüdischen Allgemeinen: "Durch Corbyn wurde Labour für viele anti-zionistisch motivierte Menschen attraktiv. Gerade viele ältere Jahrgänge aus Organisationen, die Trotzki oder Stalin verehrten, traten ein. Labour ließ es zu. Als die große Mehrheit britischer Juden sich über den Antisemitismus in der Partei besorgt zeigte, hätte sich Corbyn nur laut und solidarisch zu den britischen Juden bekennen müssen. Aber das tat er nicht. So wirft der Antisemitismus ein grelles Licht auf Corbyns Labour und auf die orthodoxe Linke."

Wieder aufgestiegen ist der europäische Judenhass "durch eine giftige Mischung aus Herabsetzung Israels, der Wiederkehr des jüdischen Plutokraten als Verkörperung des '1 Prozent' und des jüdischen 'Kosmopoliten' als Zielscheibe aufsteigender Nationalisten, die überzeugt sind, dass die Welt durch eine jüdische Verschwörung regiert wird", schreibt Roger Cohen in der New York Times.

Der marokkanisch-schweizerische Schriftsteller Kacem El Ghazzali kauft den westlichen Antirassisten, die wegen Katy Perrys Schuhen auf Twitter Sturm laufen, ihre Empörung nicht ab. Die wäre bei anderen Gelegenheiten besser aufgehoben, meint er in der NZZ: "Es wäre sinnvoller, ihre Wut darauf zu verwenden, die ethnische Diskriminierung und Sklaverei in repressiven Staaten zu bekämpfen: So gibt es etwa den mauretanischen Blogger und Sklavereigegner Mohamed Cheikh Ould Mkhaitir, der wegen Beleidigung des Islams im Gefängnis landete. Oder den Menschenhandel mit afrikanischen Migranten in Libyen, der 2017 durch CNN aufgedeckte wurde. Ganz zu schweigen von der rassistischen Diskriminierung, unter der Millionen Armenier, Kurden und Berber in Gesellschaften mit arabischer Mehrheit leiden."
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Medien

Der ganze Zorn in der Debatte um das Framing-Papier der ARD hat sich auf die Linguistin Elisabeth Wehling konzentriert. Der Linguist Henning Lobin fragt sich in seinem Blog, ob dies ein geschicktes Framing der ARD war, denn die eigentliche Frage wäre für ihn, "warum die ARD eigentlich überhaupt der Meinung war, statt mit Sachlichkeit in einer Art moralischer Überwältigungsstrategie für sich werben und die privatwirtschaftliche Konkurrenz dabei verunglimpfen zu müssen. Wir brauchen nämlich nicht mehr, sondern weniger Framing in der öffentlichen Diskussion, und erst recht nicht von einem der größten öffentlich-rechtlichen Sender der Welt. Man sollte sich fragen, warum man dort nicht nach den ersten Vorgesprächen oder Workshops, um die es wohl ursprünglich ging, die Finger von der ganzen Sache gelassen hat..."

Michal Angele vom Freitag hat ein "HU-nahes Institute for Desensibilisation" gegründet. Es hilft mit Gutachten und Workshops gegen ungute Fixierungen, etwa die Fixierung der nicht-öffentlich-rechtlichen und darum eher prekär "gerahmten" Journalistenschaft auf das "Framing"-Papier der ARD, verspricht er: "Was hat man sich nicht darüber aufgeregt, konnte gar nicht aufhören! Wurde in seinem Hass auf die ARD sogar den rechten Wutbürgern ähnlich, obwohl man das ja nicht wollte!! Kein Problem für uns." Aber wahrscheinlich ist der Laden viel zu teuer!

Der Diesel-Skandal und die Panama-Papers wären nicht ohne Leaks aus Firmen publik geworden. Bundesjustizministerin Katarina Barley plant nun aber ein Gesetz, das den Schutz von Whistlebowern vermindern würde, fürchten Justus von Daniels und Jonathan Sachse bei correctiv.org. "Bisher gehört zur Pressefreiheit, dass Journalisten nicht dafür angezeigt und strafrechtlich verfolgt werden, Firmeninterna offenzulegen. Behörden wie Polizei oder Staatsanwaltschaft ermitteln also nicht gegen sie. Wenn es zu unzulässigen oder unwahren Berichten kommt, können sich Unternehmen vor allem mit Unterlassungen und Schadensersatzforderungen gegen eine Redaktion wehren. Nach den Plänen des Justizministeriums könnten Unternehmen eine Strafermittlung gegen Journalisten auslösen, weil sie auf Grundlage von internen Papieren Skandale aufdecken."
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Geschichte

In der NZZ erinnert Hoo Nam Seelmann an den gewaltlosen koreanischen Volksaufstand vor hundert Jahren gegen die japanische Kolonialmacht: die Japaner waren geschockt und knüppelten den Widerstand nieder. "Eine neue Kolonialpolitik sollte die Koreaner besänftigen. Eine subtilere Art der Unterdrückung wurde versucht, indem man die eigene Politik 'Kulturpolitik' nannte, die Methoden verfeinerte, um mehr Kollaborateure heranzuziehen, zwei Zeitungen Lizenzen erteilte, um Ventile zu schaffen, und die Unterhaltungsindustrie förderte, um den Menschen Zerstreuung zu bieten. Eine zentrale Rolle spielte die Errichtung der Gedankenpolizei, die unter den Koreanern Angst und Schrecken verbreitete. Darin zeigt sich das Grunddilemma jeder Kolonialpolitik, nämlich das abgrundtiefe gegenseitige Misstrauen zwischen Kolonisierten und Kolonialherren. Dass Rassismus und Ungleichheit die Grundlage kolonialer Okkupation sind, spürt jeder, dessen Land eine Kolonie ist."

Außerdem: Thomas Jordan berichtet in der SZ über die Tagung zu "Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft" am Historischen Kolleg in München. Die FAZ druckt einen Auszug aus den geheimen Tagebüchern der deutschen Feministin Anna Haag während des Nationalsozialismus, die sie neben die Tagebücher Viktor Klemperers stellt.
Archiv: Geschichte