9punkt - Die Debattenrundschau

Undemokratisches Verhalten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2019. Es scheint gerade so etwas wie einen Dialog der Religionen zur besseren Schikanierung der Bevölkerungen zu geben: Im Guardian schildert die argentinische Autorin Claudia Piñeiro den Fall der Elfjährigen Lucia, die vergewaltigt wurde und nicht abtreiben durfte. Die FAZ erzählt, wie der Islamismus Indonesien von unten erobert. Und in Düsseldorf wurden nun erstmals die satirischen Karnevalswagen gesegnet, berichtet hpd.de.  Aber auch die säkulare Macht kann sehr zäh sein, wie Boualem Sansal im Parisien mit Blick auf Abdelaziz Bouteflika feststellt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.03.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Im Guardian schildert die argentinische Autorin Claudia Piñeiro den skandalösen Fall der elfjährigen Lucia, die nach einer Vergewaltigung durch den Freund ihrer Großmutter schwanger wurde, aber nicht abtreiben durfte, obwohl ihr Fall zu den wenigen gehört hätte, in denen das auch in Argentinien erlaubt ist: "Warum hat die Regierung die Abtreibung verzögert? In Argentinien gibt es diejenigen, die glauben, dass sie ihre religiösen Vorstellungen dem Rest der Bevölkerung aufzwingen können. Und wenn sie, um das zu tun, das Gesetz brechen müssen, dann brechen sie es. Und wenn sie dafür ein Mädchen foltern müssen, tun sie auch das. Für sie steht das Gesetz ihres Gottes über dem höchsten Gesetz des Landes. Die Verfassung Argentiniens besagt, dass unser Staat säkular ist. Tag für Tag sehen wir jedoch, wie unsere Rechte durch religiöse Ideen eingeschränkt und sogar aufgehoben werden, die der gesamten Bevölkerung von einer autoritären und dogmatischen Gruppe aufgezwungen werden, die sich im Besitz der Wahrheit glauben. So gefährlich sind die Dinge in Argentinien geworden."
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Religion

Für so etwas muss man den Humanistischen Pressedienst lesen: Dieses Jahr gab es etwas Neues beim traditionellen Richtfest der Düsseldorfer Karnevalswagen, berichtet Gisda Bodenstein unter Berufung auf den Kölner Express. "Ein katholischer und ein evangelischer Vertreter waren eingeladen worden, um diese zu segnen. Jacques Tilly, der vor allem für die politischen Mottowagen verantwortlich ist, die den Düsseldorfer Karneval prägen, wusste davon nichts. 'Zuerst habe ich gedacht, das ist ein Scherz", sagte der Bildhauer dem hpd. 'Seit 35 Jahren baue ich die Wagen und in der ganzen Zeit habe ich hier nie einen Pfarrer gesehen.'"

Pädophilie scheint nicht die einzige sexuelle Orientierung in der katholischen Kirche zu sein. Bernadette Sauvaget bespricht in Libération tief schockiert den heute auf Arte laufenden Dokumentarfilm "Religieuses abusées", der die Geschichten sexuell missbrauchter Nonnen erzählt: "In 'Religieuses abusées' offenbart jedes einzelne Zeugnis einer Interviewten eine Tragödie. Wie etwa jenes von Grace, einer Afrikanerin, die in Rom von einem Priester aus ihrem Land vergewaltigt wurde und sich, als sie schwanger wurde, nach Pesaro zurückziehen musste, wo sie gezwungen wurde, ihr Kind freizugeben. Zwei Jahre lang hat ihr Anwalt, Luca Gardini, gekämpft, damit Grace, die aus ihrem Kloster verjagt worden ist, ihre kleine Tochter wiederfindet..." In der Mediathek von Arte ist der Film schon zu sehen.
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Politik

Der bettlägerige algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika will zwar nochmal antreten, annonciert aber zugleich in einem Brief an die Bürger Neuwahlen nach nur einem Jahr (mehr in der taz). Nichts verändert sich, schrieb Boualem Sansal am Sonntag - also noch vor dieser Ankündigung Bouteflikas - in einer Kolumne für den Parisien: "Das Volk ist seiner überdrüssig, beobachtet ihn, wie er die Welt mit leeren Augen anblickt und auf sein Revers sabbert, ohne irgendetwas über den Krebs zu sagen, der dieses Land auffrisst. Es hat genug vom Elend und vom Krieg, es will, dass sich das ändert, aber es weiß nicht, wen es fragen soll; Allah, die Politiker oder sich selbst. Es schwankt, ihm fehlt die Selbstgewissheit in dem, was es tut."

Die Gerontokratie ist überall in Afrika ein Problem, schreibt Mirco Keilberth in der taz, auch zum Beispiel in Tunesien, dessen 93-jähriger Präsident Beji Caïd Essebsi ebenfalls neu antreten will: "Wie in Algerien begründen auch die Regime im Tschad und Sudan ihre Kompromisslosigkeit mit der angeblich drohenden islamistischen Gefahr. Sudans Präsident Omar Hassan al-Bashir will trotz massiver Proteste seit Dezember auf den Straßen Khartums und anderer Städte nicht gehen, und auch der seit 29 Jahren im Tschad regierende Idriss Déby geht gegen die Opposition militärisch vor - mithilfe der französischen Luftwaffe, die aus Libyen eingedrungene tschadische Rebellen bombardiert hat."

"Es ist nicht genug, und es kommt zu spät", schreibt Le Monde im Editorial zu Bouteflikas Ankündigung, nur noch ein Jahr präsidieren zu wollen, und merkt an, dass die Algerier nicht mal wissen, ob Bouteflika von Algerien oder einem Schweizer Krankenhaus aus schreibt.

Auch in Indonesien stehen Wahlen an. Unter Präsident Joko Widodo, der versucht hat, sich gegen Islamisten zu wehren, hat sich der Islamismus auf lokaler Ebene doch immer weiter durchgesetzt. Widodo versuchte, einige Grenzen zu setzen, etwa durch das Verbot der islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir - und wird dabei ausgerechnet von Menschenrechtlern nicht unterstützt, schreibt Marco Stahlhut in der FAZ: "Tatsächlich kritisierte unter anderem Amnesty International sofort nach dem Verbot von Hizb ut-Tahrir, dieses Vorgehen wäre undemokratisch. Amnesty, aber auch westliche Wissenschaftler haben fast jeden Zug der aktuellen Regierung gegen den Islamismus als autoritär denunziert. Die meisten westlichen Akademiker und NGOs, indonesische sowieso, tun sich dagegen äußerst schwer damit, den Islamismus zu kritisieren, selbst dort, wo er Minderheiten unmittelbar bedroht."
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Internet

So kann man EU-Verdrossenheit natürlich auch befördern: Der CSU-Politiker und Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei Manfred Weber möchte offenbar die Abstimmung zur umstrittenen EU-Urheberrechtsreform vorverlegen, berichtet netzpolitik unter Berufung auf die EU-Abgeordnete Julia Reda. Der Grund: So sollen die geplanten Protestaktionen am 23. März ins Leere laufen. "Das vermeldete die Europaabgeordnete Julia Reda auf Twitter. Sie sagt: 'Es ist ein Unding, mit welcher Verachtung die Union hier den öffentlichen Protesten entgegen tritt. Es ist das eine, anderer Meinung zu sein und anders abzustimmen, aber mit Verfahrenstricks den Protesten am 23. März das Wasser abzugraben und im Vorfeld diese Abstimmung durchzudrücken, ist wirklich ein undemokratisches Verhalten.' Die Europaabgeordnete rief zu Protesten gegen diesen Schritt auf. Die Vorverlegung der Abstimmung soll offenbar der immer größeren Protestbewegung gegen die Urheberrechtsreform entgegenwirken. Damit wollen die Konservativen wohl eine Wiederholung des Falls ACTA verhindern: 2012 lehnte das EU-Parlament das umstrittene Abkommen zum Schutz geistigen Eigentums nach massiven Protesten ab." Das Büro von Weber konnte sich laut netzpolitik noch nicht zu einem Dementi durchringen.

In der NZZ rümpft der Literaturwissenschaftler Adrian Daub die Nase über Scheiternde in Silicon Valley, die sich seiner Meinung nach in die Tasche lügen, wenn sie glauben, sie könnten immer wieder aufstehen.
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Europa

Ein paar Monate vor der Wahl und in der immer noch ungewissen Brexit-Situation hat Emmanuel Macron einen Brief an die europäischen Bürger geschrieben: "Angesichts der globalen Umwälzungen sagen uns die Bürgerinnen und Bürger nur allzu oft: 'Wo ist Europa? Was unternimmt die EU?'  Europa ist in ihren Augen ein seelenloser Markt geworden. Aber Europa ist nicht nur ein Markt, es ist ein Projekt. Ein Markt ist durchaus nützlich, aber er darf nicht die Notwendigkeit schützender Grenzen und einigender Werte vergessen machen. Die Nationalisten irren, wenn sie behaupten, sie schützten unsere Identität durch den Rückzug aus Europa. Denn es ist die europäische Zivilisation, die uns eint, uns frei macht und uns schützt." Es gibt auch konkrete Vorschläge in dem Brief: gemeinsame Stärkung der Grenzen und der Verteidigung, Bevorzugung europäischer Firmen bei Ausschreibungen, Verhinderung ausländischer Einflussnahme bei Wahlen, Überwachung der Internetgiganten, eine neue Afrikapolitk.
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