9punkt - Die Debattenrundschau

Imaginär und ziemlich kontingent

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.09.2019. Das Klima ist erhitzt. All jenen, die dem Kapitalismus die Schuld an der Klimakrise geben, rät Hubertus Knabe in der NZZ, ein wenig Geschichte nachzuholen: Kein Regime verschmutzte effizienter als der Sozialismus. SZ-Autor Gustav Seibt warnt die Klimaaktivisten vor totaliären Anwandlungen. In der Berliner Zeitung stellen sich die neuen Eigner Silke und Holger Friedrich nun auch den Lesern vor und benennen ein paar Berliner Missstände. In der Zeit rät Kwame Anthony Appiah zu einem "leichten, spielerischen Umgang mit Identitäten".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.09.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Überall ist in jenen Tagen des Streiks und der Beschlüsse die Rede vom Klima.

All jenen, die dem Kapitalismus die Schuld an der Klimakrise geben, rät der Historiker Hubertus Knabe in der NZZ ein wenig Geschichte nachzuholen. Einer der größten "Klimakiller" war die DDR, erinnert er: "Das Land stieß schließlich über fünfmal so viel Schwefeldioxid aus wie die Bundesrepublik. Zu den Folgen zählte ein großflächiges Waldsterben in den Mittelgebirgen. Auch bei den Schwebstaubemissionen übertraf die DDR die Bundesrepublik um knapp das Fünffache. Da sich die Industrie vor allem im Süden konzentrierte, litt hier fast jedes zweite Kind an Atemwegserkrankungen und beinahe jedes dritte an Ekzemen. Nach dem Untergang der Planwirtschaft sanken SO2- und Staubemissionen schlagartig."

Im Aufmacher des SZ-Feuilletons geht Gustav Seibt der moralische Zeigefinger der Klimaaktivisten zunehmend auf die Nerven: Sozialmoralischer Druck kann schnell auch "totalitäre Züge" annehmen, warnt er: Man muss "gar nicht an die Spitzelregime der Diktaturen denken, die nicht nur inoffizielle Mitarbeiter anwarben, sondern ganz offen Blockwarte, Hausmeister, Parteivertreter als zivile Nebenpolizei beschäftigten. Solche 'Volksgemeinschaften' finden eher nicht spontan zusammen, sondern mit Vorkämpfern, deren Überzeugungsstärke wunderbar mit Opportunismus harmoniert, in der beruhigenden Gewissheit, auf der Seite des Guten zu stehen. Im alten Europa waren calvinistische Länder Vorreiter solcher inneren Disziplinierung."

Außerdem: In der Zeit streiten Ralf Fücks, Elder Statesman der Grünen, und die Aktivistin Luisa Neubauer über die Klimaproteste.

Es waren nicht die Abgehängten, die in den USA Trump und in Ostdeutschland die AfD wählten, betont Hannes Stein noch einmal in der Welt. Vielmehr sei es "Rassismus", der die Wählerschaft hier wie dort eine - nach der Wende konnten die Bürger der DDR auf niemanden mehr herabsehen, schreibt er: "Es ist heute beinahe vergessen, aber innerhalb des Ostblocks waren DDR-Bürger Könige. Wenn Ungarn die fröhlichste Baracke im sozialistischen Lager war, so war die Baracke mit dem Hammer, dem Zirkel und dem Ährenkranz mit Abstand die reichste. DDR-Deutsche konnten sich mehr leisten als die Bulgaren, Ungarn, Polen, um von den armen Rumänen ganz zu schweigen. Sie waren auch wohlhabender als die Bürger der Sowjetunion. (Ein Russe, der vor 1989 in die DDR kam, glaubte, er sei im Westen.) (…) Die DDR-Bevölkerung fühlte sich gegenüber den anderen Ostblockinsassen privilegiert und hatte auch allen Grund dazu. Und im Unterschied zur offenen Gesellschaft gleich nebenan, in der längst und selbstverständlich Hunderttausende Türken, Griechen und Italiener lebten, war die DDR ein ethnisch homogenes Biotop."
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Europa

In der Welt hat Richard Herzinger Zweifel an der Integrität des smarten, sich volkstümlich gebenden ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski: "In Kontrast zu Selenskis Erneuerungspathos steht auch die Tatsache, dass sich unter den nur drei bisherigen Ministern, die er im Amt beließ, ausgerechnet der hoch umstrittene Innenminister Arsen Awakow befindet. Awakow gilt vielen Korruptionsbekämpfern als Inbegriff des korrupten Politikers - mit Verbindungen zu Oligarchen und Rechtsradikalen. Beobachter rieben sich verblüfft die Augen, als selbst profilierte Antikorruptionsaktivisten unter den Abgeordneten der Selenski-Partei 'Diener des Volkes' dieser Personalie im Parlament ohne Murren zustimmten. Das nährt die Befürchtung, die über die absolute Mehrheit verfügende Parlamentsfraktion der Partei sei lediglich dazu da, die Beschlüsse des Präsidenten abzunicken und so seinem persönlichen Machtmissbrauch Tür und Tor zu öffnen."
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Medien

In der Berliner Zeitung stellen sich die neuen Eigner, Silke und Holger Friedrich (unser Resümee), in einem Gespräch nun auch den Lesern vor. Sie beteuern ihre Liebe zu Print, zu Regionaljournalismus und ihr gesellschaftliches Engagement (aber Geld verdienen wollen sie mit der Zeitung trotzdem). Interessanter wird's wo Holger Friedrich politisch wird: "Wir haben zum Beispiel eine hochrestriktive Verkehrspolitik in Berlin und gleichzeitig so viele Pkw-Zulassungen wie noch nie. Wir haben eine enorm restriktive Wohnungswirtschaftspolitik in Berlin und gleichzeitig die am stärksten wachsenden Mieten in Europa. Wir haben die teuersten Schulplätze in ganz Deutschland und mit Abstand die schlechtesten Ergebnisse. Unser Ehrgeiz ist geweckt, die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit transparent und konstruktiv zu diskutieren."

Eine Initiative von Medien wie correctiv.org veröffentlicht einen offenen Brief an die Mitglieder des Bundesrats, die darüber beraten, ob Journalismus als gemeinnütziger Zweck  anerkannt werden kann. Gemeinnütziger Journalismus könne nicht den Markt schädigen, beschwichtigen sie: "Gemeinnütziger Journalismus kann nur da funktionieren, wo der Markt versagt, nur da sind Bürger*innen bereit, für ein Medienangebot zu spenden. Solange Medien - vor allem im lokalen Raum - funktionieren, haben gemeinnützige Organisationen keine Chance sich zu etablieren. Der gemeinnützige Journalismus füllt Lücken und sorgt so für Vielfalt. Um es klar zu sagen: Angebote des gemeinnützigen Journalismus können keiner Regional- oder Lokalzeitung und auch keinem Fernseh- oder Radiosender Konkurrenz machen. Das anzunehmen wäre übertrieben. Es geht immer um Nischenangebote." Ach so, es geht nur um Nischen.

Man hätte "keine Hitler-Parallele bemühen müssen, um die fatale Tendenz in den Höcke-Zitaten herauszupräparieren", schreibt Jens Jessen in der Zeit zum Höcke-Interview (Unser Resümee). Sprachanalyse und ein Mindestmaß an Gelassenheit hätten gereicht, meint er: "Es ist ein Unglück, dass stattdessen die überfallartige Konfrontation mit scheinhaften Beweisstücken gewählt wurde, die noch dazu auf eine Weise gewonnen wurden, die eher kabarettwürdig war als journalistisch seriös. Die Neigung zu boshaftem Kabarett und denunziatorischem Überfall ist gerade eines der demagogischen Mittel der AfD. Man wird die Partei nicht bloßstellen und schon gar nicht entzaubern, wenn man sie kopiert."

Außerdem: Stefan Niggemeier wendet sich in den Uebermedien gegen die Interpretation einer Studie des Reuters Institute zur Glaubwürdigkeit der öffentlich-rechtlichen Sender in Europa durch die FAZ (unser Resümee) und andere Medien und kommt zum  Schluss, dass es mit der Glaubwürdigkeit von ARD und ZDF in Wirklichkeit sehr gut stehe. Im FR-Interview mit Christian Seidl erklärt Spiegel-Reporter Juan Moreno, der seinen Spiegel-Kollegen Claas Relotius (Unsere Resümees) ohne jeglichen Rückhalt der Redaktion der Fälschung überführte und gerade ein Buch zum Thema veröffentlichte,  wie das System Relotius funktionierte.
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Geschichte

Der Mythos vom Nazi-Gegner Ludwig Erhard, der in Deutschland für die Idee der sozialen Marktwirtschaft steht, ist nichts als geflunkert, schreibt Ulrike Herrmann in der taz. Seine Habilitation wurde nicht wegen Nazi-Gegnerschaft abgelehnt, sondern weil sie schlicht dürftig war, schreibt sie. Und in mehreren Studien beriet er die Nazis, wie sie mit geraubtem Vermögen umgehen sollten, in einer davon "sollte Erhard die 'Gesichtspunkte' untersuchen, die bei der 'Verwertung des volksfeindlichen Vermögens zu beachten' seien. Damit war das Eigentum von deportierten Juden und missliebigen französischen Politikern gemeint." Über die Ausraubung der Juden, so Herrmann, muss Erhard bestens informiert gewesen sein.

Außerdem: Stefan Willeke trifft sich für das Zeit-Feuilleton zu einer ausufernden Homestory mit Georg Friedrich Prinz von Preußen.
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Ideen

Ijoma Mangold unterhält sich in der Zeit mit dem amerikanischen Philosophen Kwame Anthony Appiah, der im Zeitalter einer konvulsivischen Identitätsdebatte immer noch den Begriff des Kosmopolitismus hochhält, den er vor Jahren in einem Buch feierte. "Ich habe einmal vom Imperialismus der Identitäten gesprochen: Identität kann deine ganze Person kolonisieren, so dass du dann nichts anderes mehr bist als diese eine Eigenschaft. Da Identitäten aber imaginär und ziemlich kontingent sind, empfehle ich einen leichten, spielerischen Umgang mit ihnen." Auch den modischen Begriff des "Privilegs" lehnt er ab: "Man sollte ein Bewusstsein dafür haben und keine Vorteile daraus ziehen, aber man sollte sich weder schuldig fühlen noch andere dafür beschuldigen. Privilegiert zu sein ist keine Straftat."
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Internet

Das Media Lab des MIT hat bekanntlich Geld von dem korrupten und Prostitutionsringe unterhaltenden Milliardär Jeffrey Epstein angenommen, obwohl es den sulfurösen Ruf des Spenders kannte. Heike Buchter resümiert die Geschichte, die von Ronan Farrow im New Yorker aufgebracht wurde (unser Resümee), in der Zeit. Aber das Media Lab war nicht allein: "Die Elite-Universitäten Stanford und Harvard mussten ebenfalls einräumen, Geld von Epstein genommen zu haben. Epstein suchte die Nähe zu Nobelpreisträgern wie dem 2014 verstorbenen Molekularbiologen Gerald Edelman und dem Physiker Murray Gell-Mann. Auf seiner privaten Karibikinsel, die die Einheimischen in 'Orgy Island' umgetauft hatten, empfing Epstein 2006 Stephen Hawking. Der Physiker war Teilnehmer eines von Epstein gesponserten Kongresses auf der Nachbarinsel."
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Kulturpolitik

Das Ethnologische Museum verleiht 23 Objekte nach Namibia, berichtet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung. Hermann Parzinger von der Stiftung Deutscher Kulturbesitz erwartet nicht unbedingt, dass sie alle zurückkommen: "Es sei ein modellhafter Prozess, der hier in Gang gesetzt werde. Das Ende sei offen." Doch Vertreter von "Berlin Postkolonial" und dem "Bündnis Völkermord verjährt nicht!" kritisieren die Verleihung: Ihrer Ansicht nach sollten die Puppen einfach zurückgegeben werden. Und ein in Berlin lebender Herero fragt, ob die Herero denn an diesem Projekt beteiligt seien. Dabei kommt Lenz die Einstellung Parchingers eigentlich ganz vernünftig vor: "Die Idee, sie nach Namibia reisen zu lassen und abzuwarten, welche Diskussionen sich dort an ihnen entzünden, welche Wünsche entstehen, ob etwa die namibische Regierung ein Rückgabe-Ersuchen stellen wird, erkennt zum einen an, dass es in Afrika einen Anspruch auf diese Objekte gibt. Aber vor allem beinhaltet dieser Prozess eine Ermächtigung: Die Antworten auf die Frage, die man sich in Berlin, in Deutschland, in Europa stellt, könnten in Afrika gegeben werden."
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