9punkt - Die Debattenrundschau

Jagd nach erfundenen Phantomen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.10.2019. In der FAZ sieht Gilles Kepel die dschihadistischen Organsiationen auf dem Rückzug, in Libération ahnt Farhad Khosrokhavar, dass dafür der labile Paranoiker zum Zug kommt. In der Zeit hat Richard C. Schneider keine Geduld mehr mit den rituellen Reaktionen nach antisemitischen Angriffen in Deutschland. Der Guardian kann Boris Johnson in der Brexit-Deal-Heldenrolle nur mäßig bewundern. Die CJR analysiert Fake News und Outrage Porn bei Indiens ersten WhatsApp-Wahlen. Und die SZ berichtet von einem neuen Offenen Brief in Sachen kolonialer Raubkunst.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.10.2019 finden Sie hier

Europa

Der Guardian kann nicht abschätzen, ob Boris Johnsons Skript für ein Brexit-Abkommen in letzter Minute (mit dem Premier in der Heldenrolle) aufgehen wird. Vor allem aber lenkt es vom eigentlichen, politischen Gehalt des Dramas ab, ärgert sich die Redaktion im Leitartikel: "Johnson lehnte Theresa Mays Abkommen vor allem deshalb ab, weil es seinen Ambitionen diente, in seinem Brexit-Spirit entschiedener als sie zu erscheinen. Aber er folgt auch anderen ideologischen Instinkten. Johnson ist ein Euro-Skeptiker in der Tradition derer, die Europa als Hort aller Bürokratie verteufeln. Für die Tories dieser Schule ist der Brexit die Befreiung vom regulatorischen Joch, das Brüsseler Bürokraten uns auferlegen. Der Hass auf den Backstop hat seinen Ursprung in dem Ziel, die britische Wirtschaft von sozialen Absicherungen zu befreien, die viele europäische Länder vorziehen. In der Theorie wird man konkurrenzfähiger, wenn es günstiger wird, in Britannien Geschäfte zu machen. In der Praxis bedeutet das schlechtere Arbeitsbedingungen, weniger Umweltschutz und niedrigere Löhne." Außerdem meldet der Guardian, dass die jüdische Labour-Abgeordnete Louise Ellman die Partei verlässt, weil sie Jeremy Corbyn für "eine Gefahr für Britannien" hält.

Nach dem Attentat des Franzosen Mickaël Harpon, der - taub, marginalisiert, vor zehn Jahren zum Islam konvertiert - im Pariser Polizeipräsidium vier Kollegen tötete, sieht der französische Islam-Forscher Gilles Kepel in der FAZ den islamistischen Terror in eine neue Phase übergehen, in der die dschihadistisch strukturierte Organisation unbedeutend wird, die bislang als Kriterium der "Radikalisierung" galt. Es werde vielmehr der "kultureller Bruch" mit der Gesellschaft entscheidend: "Falls diese Hypothesen sich bewahrheiten, wird deutlich, dass unsere Gesellschaften und Institutionen das Problem des Terrorismus grundlegend überdenken müssen. Der Glaube an die Fähigkeit der Behörden, mit Hilfe ihrer Algorithmen Anzeichen einer 'Radikalisierung' erkennen zu können, wird unter diesen Umständen deutlich geschwächt. Gleichfalls grundlegend zu überdenken wäre die Verantwortung der politischen Akteure auf kommunaler Ebene, die in den Salafisten und Muslimbrüdern gelegentlich Akteure des 'sozialen Friedens' erblicken und deren Unterstützung bei Wahlen zu gewinnen versuchen, indem sie ihnen größere Freiheiten gewähren, wenn es darum geht, den kulturellen Bruch zu predigen."

In Libération konstatiert auch der Soziologe Farhad Khosrokhavar eine neuen Tätertypus, für den sich demütigende Erfahrungen - Diskriminierung, Marginalisierung - in paranoide Dimensionen steigern: "Das ist nicht das Ende des Dschihadismus, sondern sein Rückzug, sein Verstummen: Von einem quasi industriell betriebenen Unternehmen wie die Attentate, die im November 2015 von mehreren Gruppen aus dem Inneren des Islamischen Staats verübt wurden, erleben wir nun eher handwerkliche Attentate, eher wie vor dem Aufstieg des IS - mit dem Unterschied, dass jetzt Einzelne mit mentalen Problemen in den Vordergrund treten. Diese neuen Akteure sind geistig labil, aber sie besitzen auch die Fähigkeit, sich auf einer imaginären Ebene eine kohärente Verschwörungstheorie konstruieren, und sie wollen auf diese Art eine neue Würde zurückgewinnen."

In der Zeit wendet sich Richard C. Schneider fast schon angewidert ab von den immer gleichen Ritualen nach einem Attentat auf Juden. Er ist vor zweieinhalb Jahren nach Israel gezogen, weil er den wachsenden Antisemitismus in Deutschland nicht mehr ertrug, wie er schreibt: "Der Antisemitismus ist längst wieder in der Mitte der Gesellschaft, nein, nicht 'angekommen', denn er war ja nie weg: Er ist einfach wieder hervorgekrochen aus seinen Löchern, er ist überall präsent, und wir sehen, lesen und hören ihn, egal, ob es sich um antisemitische Karikaturen, Klischeefotos oder Verschwörungstheorien in renommierten deutschen Tageszeitungen handelt, egal, ob in gepflegten Kreisen über die 'Allmacht der jüdischen Lobby' oder über unseren 'unendlichen Reichtum' fantasiert wird. Wir sind 'die unbekannte Welt nebenan', wie der Spiegel unlängst titelte, also auf keinen Fall Teil der deutschen Gesellschaft."
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Kulturpolitik

In der SZ berichtet Jörg Häntzschel von einem Offenen Brief, in dem Postkolonialismus-Forscher und Künstler wie Bénédicte Savoy, Achille Mbembe, Felwine Sarr, Souleymane Bachir Diagne, Wolfang Kaleck, Milo Rau und Kader Attia eine klare Öffnung der Museen fordern, um die Raubkunst-Debatte auf einen anderen Stand zu heben. Leider lässt sich der Brief nicht im Netz finden, Häntzschel zitiert, worüber die Unterzeichner Klarheit haben wollen: "Wie genau sehen die afrikanischen Sammlungen in deutschen Museen aus? Aus welchen Regionen kommen die Objekte? Welche Arten von Objekten sind es? Wir wollen und müssen das wissen, wenn wir die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit gemeinsam betreiben wollen." Auch wenn die Forderungen nach Klärung des Sachverhalts deutlich verhaltener klingen als die nach unbedingter Rückgabe, sieht er einen wichtigen Punkt im Selbstverständnis der Museen berührt, wie er seinerseits schreibt: "Anders als Bibliotheken und Archive, die jedem offenstehen, entscheiden die Museen nach wie vor ganz alleine darüber, wer mit ihren Inventaren forschen darf, und was er zu sehen bekommt."
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Gesellschaft

Bei den Grünen wird weiter über Globuli gestritten, berichtet Ulrich Schulte in der taz. Die Homöopathie-Kritiker in der Partei lehnten den Kompromissvorschlag des Vorstands ab, den Streit auf eine Fachkonferenz zu vertagen: "Eine gesundheitspolitische Fachkonferenz könne nicht die Kompromisslösung der Frage sein, 'ob wir uns zur Wissenschaft bekennen', schrieb das Grünen-Mitglied Tim Demisch auf Twitter. Demisch hat mit über 250 Mitgliedern einen Antrag für den Parteitag im November gestellt, der fordert, die Finanzierung der Homöopathie über die Krankenkassen zu beenden. Schließlich sei jene erwiesenermaßen nicht über den Placebo-Effekt hinaus wirksam. Die Homöopathie-Fans bei den Grünen wollen den Status quo der Kassenfinanzierung beibehalten."
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Stichwörter: Homöopathie

Internet

Die Wahlen in Indien waren wie bereits die in Nigeria und Brasilien in Bezug auf die politische Kommunikation vor allem WhatsApp-Wahlen. Für die Columbia Journalism Review analysiert Priyanjana Bengani, ob und wie Fake-News oder Outrage Porn die Stimmung anheizten. Allerdings wird es schwieriger, Manipulationen nachzuweisen: "Nach dem Skandal um Cambridge Analytica ist es schwieriger geworden Einblick in das Geschehen bei Facebook und Twitter zu bekommen. Angeblich um die Privatsphäre der Nutzer zu schützen, verhindern die Sozialen Netzwerke die Auswertung von Daten über die öffentlich zugänglichen Interfaces und sichern ihre Tracking Tools so ab, dass sie nicht verfolgt werden können. Das macht es schwieriger als jemals zuvor, fragwürdige Praktiken - wie 'koordiniertes unauthentisches Verhalten', Gewalttätiges und Desinformation - zu identifizieren."
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Geschichte

Der Historiker Timothy Snyder zeichnet in der New York Times nach, wie sich Hitler 1919 zu einem großen Propagandisten entwickelte. Damals arbeitete er noch für die Deutsche Arbeiterpartei (DAP), wurde aber von der Armee bezahlt: "Wie Benjamin Carter Hett in einer ausgezeichneten aktuellen Studie über Hitlers Machtergreifung feststellte: 'Der Schlüssel zum Verständnis, warum viele Deutsche ihn unterstützten, liegt in der Ablehnung einer rationalen, sachlichen Welt durch die Nazis.' In seinen Reden Ende 1919 leistete Hitler Pionierarbeit für einen Propagandastil, der einen Großteil des Jahrhunderts prägte. Es beginnt mit einer totalen Hingabe an Überzeugungstechniken, geht über die Schaffung eines reinen Mythos und endet damit, dass der Sprecher sein Land auf die Jagd nach erfundenen Phantomen führt, die über echte Gräber führt. In 'Mein Kampf' schrieb Hitler, dass sich die Propaganda 'auf einige Punkte beschränken und diese immer wieder wiederholen muss.'" Klingt unangenehm nah.
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