9punkt - Die Debattenrundschau

10.000 Euro pro Lurch

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.01.2020. Die SZ fordert: Steuern senken für alle. Foreign Policy warnt: Wer "posh" sein will, sagt "Loo", nicht "Toilet"; "Scent", nicht "Perfume", und "Napkin", nicht "Serviette". Gabor Steingart entwickelt im Gespräch mit der NZZ neue Messmethoden: "Wenn jemand sagt, er lese gern auf Papier, ist das keine Meinungsäußerung, sondern eine Altersangabe." Und Zeit online verzehrt heute schon mal die veganen Ersatzprodukte des Jahrs 2030: Denn wo Kühe waren, wird Wald sein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.01.2020 finden Sie hier

Politik

Gerade überraschte der Iran die Welt noch mit bestens organisierten Massendemos, um seine Trauer für den abgeschossenen General Soleimani zu bekunden. Dann musste der Gottesstaat zugeben, aus Versehen ein Verkehrsflugzeug abgeschossen zu haben. Dann protestierten spontan die Studenten und riefen "Soleimani ist ein Mörder". Und nun verabschiedet sich die einzige iranische Olympia-Medaillengewinnerin, Kimia Alizadeh, berichtet yahoo.com: "'Soll ich Hallo, Auf Wiedersehen oder Mein Beileid sagen', schreibt sie auf Instagram… Alizadeh, die 2016 in Rio de Janeiro eine Bronze-Medaille in Taekwondo gewann, macht Unterdrückung durch die Regierung der Islamischen Republik geltend. Sie kritisiert das System für seine 'Heuchelei', 'Lügen', 'Ungerechtigkeit', 'Schmeichelei' und sagte, dass sie 'nur noch Taekwondo, Sicherheit und ein gesundes und glückliches Leben' wolle. 'Ich gehöre zu den Millionen unterdrückten Frauen im Iran, mit denen sie seit Jahren nach Belieben herumspielen', schreibt die 21-Jährige."

Andrian Kreye unterhält sich für die SZ mit dem Nahost-Experten Gilles Kepel über dessen jüngstes Buch "Chaos - Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen", über Drohnenschläge und die wichtigsten Akteure im Nahen Osten: "Wir stehen sicherlich vor gewaltigen Veränderungen in der Region. Saudi-Arabien hat an Einfluss verloren. Amerika zieht sich zurück. Russland mischt sich ein. Die Hoffnungen des Arabischen Frühlings haben sich längst zerschlagen. Der neue starke Mann im Nahen Osten ist Erdogan mit seinem Traum vom Osmanischen Reich." Die EU dagegen spielt kaum eine Rolle, meint Kepel, sie bräuchte "stärkere deutsche Streitkräfte und ein starkes deutsch-französisches Bündnis. Die Tatsache, dass Europa gerade so passiv wirkt, ist ein deutliches Zeichen von Schwäche. Das ist gefährlich."
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Geschichte

Den Begriff der "Seidenstaße" kannte man im Mittelalter noch nicht, schreibt der Historiker Thomas Höllmann, Autor eines Buchs zum Thema, in einem FAZ-Essay: "Er wurde erst 1877 von dem deutschen Geografen Ferdinand von Richthofen geprägt und in der Folgezeit zunächst ins Englische und dann ins Chinesische übersetzt. Zwar verbinden heute nicht wenige Menschen damit die Vorstellung von einer einbahnstraßenähnlichen Ost-West-Verbindung, doch trügt dieser Eindruck. Das von Ostasien bis nach Westeuropa und Nordafrika reichende, vielfach verzweigte und zeitweilig maritime Verbindungen einschließende Routengeflecht bildete einst das größte Verkehrsnetz der Erde, weshalb manche Autoren den Plural 'Seidenstraßen' bevorzugen." Mark Siemons erklärt in einem zweiten Artikel das neue chinesische Seidenstraßenprojekt.
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Europa

Mit dem Brexit und Figuren wie Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg ist die britische Klassengesellschaft wieder in den Blickpunkt gerückt. Sie wird geprägt durch eine alte, aristokratische Elite, die nebenbei teilweise sehr reich ist und auf jeden Fall "posh" sein will. Josh Glancy analysiert den Begriff der "Poshness" in Foreign Policy: "Poshness wird manchmal mit einem Stimmklang wie von Kristallglas verglichen, klar und sorgfältig artikuliert. Und mit der Stimme kommt eine Sprechweise: 'Loo', nicht "Toilet"; 'Scent', nicht 'Perfume', und 'Napkin', nicht 'Serviette'. Die verbotenen Begriffe sind französisch und werden deshalb mit bürgerlichen Aufsteigern assoziiert, die sich einer scheinbar noblen Sprache bedienen wollen. Viele Ausländer halten 'posh' für ein Kompliment, aber nur Leute aus dieser Sphäre sehen es als solches - und auch sie nicht immer. Alle anderen in Großbritannien benutzen das Wort als Beleidigung. Außerhalb der Posh-Sphäre als 'posh' bezeichnet zu werden, heißt, dass man als verwöhnt, privilegiert oder prätenziös gesehen wird."

Na, das ist ja mal eine originelle Idee: Steuern senken für alle, fordert Cerstin Gammelin in der SZ. Denn die Bundesregierung erlebt steuermäßig zum fünften Mal hintereinander ein Überschussjahr, was Gammelin zeigt: "Es ist etwas faul im deutschen Steuersystem. Und höchste Zeit für die große Koalition, sich darum zu kümmern. Die Steuereinnahmen des Bundes sind seit 2005 von damals 190 Milliarden Euro auf zuletzt rund 326 Milliarden Euro gestiegen. Weil sich zugleich die Zinszahlungen des Bundes mehr als halbiert haben, konnte sich seit 2014 jede Bundesregierung fühlen wie Dagobert Duck aus Entenhausen, sie kam kaum nach mit dem Geldzählen."

Weiteres: Beim Kampf gegen den Antisemitismus sollte man den Blick "vornehmlich auf die rechte Seite richten", fordern Shimon Stein und Moshe Zimmermann im Tagesspiegel. "Mit Blick auf Linke oder Muslime von den Hauptverdächtigen abzulenken schadet dem gesamten Kampf gegen Antisemitismus." Cord Aschenbrenner besucht für die NZZ die neue europäische Kulturhauptstadt Rijeka.
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Medien

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen, fragen Martin Beglinger und Marc Tribelhorn von der NZZ Gabor Steingart, den ehemaligen Spiegel-Star und Handelsblatt-Chef, der heute den höchst erfolgreichen Newsletter Steingarts Morning Briefing betreibt. "Bis der letzte Traditionsleser stirbt", antwortet er: "Wenn jemand sagt, er lese gern auf Papier, ist das keine Meinungsäußerung, sondern eine Altersangabe." Das heutige Klima im deutschen Journalismus kritisiert Steingart: "Viele Journalisten haben Neugier durch Haltung ersetzt. Diese Transformation war nicht vorgesehen, sie hat auch nichts mit dem Internet zu tun. Unsere Aufgabe ist Neugier, auf Fehler zu gucken. Aber dass jetzt Haltung zu unserem Hauptanliegen werden soll und wir nicht über Klimaschutz berichten, sondern ihn einfordern und Journalisten sich als Aktivisten verstehen, das halte ich für falsch." Das Morning Briefing wird maßgeblich von Springer mitfinanziert.
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Kulturpolitik

Der Streit um die Potsdamer Garnisonkirche ist noch nicht ausgestanden. In den nächsten Tagen stehen einige wichtige Diskussionsveranstaltungen zu dem umstrittenen Projekt an, dem Nationalismus und Militarismus vorgeworfen werden (unsere Resümees). Der neue Potsdamer Bürgermeister Mike Schubert hat den Sitz seines Vorgängers im Kuratorium der Aufbaustiftung nicht eingenommen, berichtet Marco Zschieck in der taz: "Ein weiteres, akustisches Signal gab es im Sommer. Da ließ Schubert mit Zustimmung der Wiederaufbaustiftung das rund 200 Meter entfernt aufgestellte Glockenspiel abschalten. Zuvor hatten rund hundert Künstler, Wissenschaftler und Architekten in einem offenen Brief auf den problematischen Inhalt der Inschriften auf dem Geläut hingewiesen, das die 'Traditionsgemeinschaft Potsdamer Glockenspiel' unter dem Ex-Oberstleutnant Max Klaar 1991 aufstellen ließ. Seitdem bimmelte es im Halbstundentakt abwechselnd 'Üb' immer Treu und Redlichkeit' und 'Lobe den Herrn'." Schubert schlägt nun für das ebenfalls aufzubauende Kirchenschiff ein internationales Jugendbegegnungszentrum vor.
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Stichwörter: Garnisonkirche, Militarismus

Wissenschaft

In der NZZ macht die Soziologin Sandra Kostner "politisch links stehende Wissenschaftler" der 68er Generation verantwortlich für das oft diskussionsfeindliche Klima an heutigen Universitäten, denn sie erst hätten die Wissenschaften mit einer Agenda besetzt: "Wo Agendawissenschaftler das Feld beherrschen, ist intellektuelle Schonkost das Gebot der Stunde - ein Gebot, das sie an ihre Studenten weitergeben. Letztlich entsteht so bei Studenten der verheerende Eindruck, dass Wissenschaft vor allem Vermeidung kontroverser Themen sowie Sprechen in moralisch vorgestanzten Schablonen bedeutet. Sollte sich dieses Verständnis dereinst durchsetzen, wäre es das Ende ernstzunehmender Wissenschaft."
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Gesellschaft

Auf Zeit online träumt sich Walter Osztovics die Welt, wie sie 2030 nach Umsetzung der EU-Klimaziele aussehen könnte. Zum Beispiel in der Landwirtschaft: "Müssen die großen Rinderzuchtbetriebe schließen, weil sie die Methan-Grenzwerte überschreiten? Müssen Sie sich durch Emissionshandel freikaufen? Oder wird Rindfleisch schlicht durch Treibhausgas-Steuern verteuert? Ein durchaus plausibles Szenario geht davon aus, dass Fleisch nur mehr aus extensiver Weidehaltung stammen und entsprechend teuer sein wird, während überall dort, wo heute Massenprodukte verwendet werden - Burger, Würste, Fast-Food-Schnitzel -, vegane Ersatzprodukte zum Einsatz kommen. Viele landwirtschaftliche Flächen werden aufgeforstet werden, denn CO₂ muss nicht nur eingespart, sondern auch aktiv der Atmosphäre entzogen werden, weshalb sich die schlauen Bauern wohl über kurz oder lang das Anlegen von dauerhaften Wäldern durch Prämien belohnen lassen werden."

Man kann's mit dem Umweltschutz auch übertreiben, seufzt Rainer Haubrich in der Welt mit Blick auf Stuttgart21, wo Naturschützer schaffen könnten, was anderen nicht gelang: Das ganze Projekt zu Fall zu bringen wegen 4000 Mauereidechsen: "Nicht nur in Stuttgart hat der Artenschutz inzwischen groteske Züge angenommen. Für die Autobahn A44 in Hessen wurde ein vier Kilometer langer und 50 Millionen Euro teurer Tunnel gebaut, um eine Molchkolonie zu schützen - das waren 10.000 Euro pro Lurch."

Der Schriftsteller Philipp Weiß schickt dem Standard den zweiten Teil seiner Reportage aus Chile. Hier blickt er auf die Verwüstungen, die der Abbau von Rohstoffen auf Landflächen angerichtet hat, auf denen indigene Völker lebten: "Würde man eine Geschichte der Ungleichheit Chiles schreiben wollen, man könnte sie in Quitor beginnen lassen und ohne Unterbrechung bis in die Gegenwart Chuquicamatas fortschreiben. Die Sedimente der Ungleichheit liegen hier offen, in diesem bis vor wenigen Jahren größten Kupfertagebau der Welt, einem gigantischen, im Verlauf von mehr als hundert Jahren über tausend Meter tief in die Erde gesprengten Loch. Diesem Loch verdankt Chile seinen Reichtum. Es klafft im größten Kupfererzkomplex des Planeten und auf der seit Jahrtausenden bewohnten Erde der Atacameños. Über ein Drittel des in den Weltmärkten gehandelten Erzes stammt aus dieser Region. Und über die Hälfte aller Exporte des Landes sind Kupferkonzentrate. In Form von Stromleitungen überziehen sie unseren verkabelten Planeten. Loreto und Jorge warnen mich, bevor ich aufbreche: 'Wenn du zu den Minen fährst, nimm eine Atemmaske mit! Die Menschen dort sind alle krank.'"
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