9punkt - Die Debattenrundschau

Der nächste logische Schritt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.08.2021. Der Anschlag von Kabul zeigt, dass der weltweite Dschihadismus Auftrieb erhält. Sein größter Nährboden, schreibt der Economist, sind schlechte Regierungen. In der taz erklärt der Historiker Philipp Lenhard, wie gut der Postkolonialismus China ins ideologische Konzept passt. Die FAZ blickt mit der Frauenrechtlerin Aljona Popowa auf die systemische Gewalt in Russland. Und in der SZ trauert A.L. Kennedy mit Charlie Watts auch um sozialen Aufstieg Wohlstand und Hoffnung in Britannien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.08.2021 finden Sie hier

Politik

Der grausame Anschlag am Flughafen von Kabul wurde von einem Ableger des Islamischen Staats verübt, informiert Thomas Ruttig in der taz, dem vor allem im Grenzgebiet von Afghanistan und Pakistan operierenden ISKP: "Wie in allen Phasen der seit 1978 ununterbrochenen afghanischen Bürgerkriege trägt erneut die Zivilbevölkerung - in diesem Fall die vor den Taliban Flüchtenden - die größte Opferlast. Wie alle Parteien in diesem Konflikt nimmt auch der ISKP keine Rücksicht auf Zivilist:innen. Wegen der terroristischen Mittel, die auch die Taliban einsetzen, sieht die betroffene Zivilbevölkerung keinen Unterschied zwischen beiden Organisationen. Dabei trennen sie politisch-ideologisch Welten: Der IS strebt ein weltweites islamisches Kalifat an, die Taliban ein nationales Emirat."

Der Abzug aus Afghanistan wird dem weltweiten Dschihadismus Auftrieb geben, aber nicht er allein, mahnt der Economist. Viel gravierender sind schlechte Regierungen: "Dschihadisten sind nicht alle gleich. Viele sind sich über ihre Doktrin uneinig. Viele hassen und bekämpfen sich. Die Anhänger des Islamischen Staats verachten die Taliban, absurderweise, als Amerikas Handlanger. Als eine ihrer ersten Handlungen holten die Taliban vorige Woche in Kabul den Führer des IS von Südasien aus dem Gefängnis und brachten ihn um. Die meisten dschihadistischen Gruppen sind motiviert durch lokale Missstände: eine räuberische Regierung, ethnische oder sektiererische Spaltungen, ungläubige Invasoren. Dabei zapfen sie auch globale Narrative an. Auf ihren Telefonen sehen sie tagtäglich die Beweise dafür, dass ihre Unterdrückung Teil eines weltweiten Musters ist, der Verfolgung von Muslimen, von den Gulags in Xingjiang bis zur verwüsteten Landschaft von Gaza.  Wenn Dschihadisten irgendwo auf der Welt Erfolg haben, fühlen sich alle stolz - und zu Taten aufgerufen."

Im Perlentaucher fürchtet Richard Herzinger, dass sich China und Russland nach dem Rückzug der USA zu neuen Aggressionen ermuntert sehen könnten: "An erster Stelle wird sich nun das demokratische Taiwan verschärftem Druck vonseiten des Pekinger Regimes ausgesetzt sehen. Zwar haben die USA erst kürzlich ihre Beistandsverpflichtung gegenüber Taipeh bekräftigt. Doch nachdem Washington bereits die völkerrechtswidrige Gleichschaltung Hongkongs weitgehend tatenlos hingenommen hat, befeuert das afghanische Desaster die Zweifel, ob die USA im Ernstfall tatsächlich einen Krieg mit China riskieren würden. "

Die zwanzigjährige Intervention in Afghanistan zielte weder auf wirtschaftliche noch auf geopolitische Interessen, sondern auf den Export westlicher Werte, meint jetzt auch in der taz der ubiquitäre Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Dass sich jetzt auch Joe Biden von regime change und nation building verabschiedet hat, deutet Münkler als Zäsur, ohne dies zu bedauern: "Es dürfte ein Regime der Einflusszonen entstehen, in dem die USA und China, Russland und Indien sowie die Europäische Union, sofern sie handlungsfähiger wird, als Akteure auftreten. Der neuralgische Punkt dieser Ordnung werden die Überschneidungszonen und Zwischenräume der Einflusszonen sein sowie die Territorien, an denen keiner der großen Akteure interessiert ist, weswegen er sich weder um deren politische Stabilität noch wirtschaftliche Prosperität sorgt. Parallel dazu werden die Nichtregierungsorganisationen, die als Wertebeobachter und Normverwalter auftreten, an Bedeutung und Einfluss verlieren, jedenfalls in globalen Fragen."

In ein ähnliches Horn stoßen in der NZZ der Politikwissenschaftler Benedikt Korf und die Sozialanthropologin Christine Schenk: Der Westen kann mit einem überhöhten moralischen Anspruch an den Niederungen der Praxis nur scheitern: "'Fixing Failed States', so hieß der Titel einer Weltbankstudie, verfasst u. a. von Ashraf Ghani, dem letzten Präsidenten Afghanistans vor der Machtübernahme der Taliban... Im Begriff 'fixing' klingen zugleich die Stimmung von Machbarkeit und der Überlegenheitsduktus einer globalen Elite an. Es ist die Idee, man könne und müsse fragile Staaten mit technischen Massnahmen und westlicher Expertise reparieren und auf ein solides Fundament stellen. Schließlich könne man die Menschen in diesen Weltregionen nicht ihrem Schicksal überlassen. Dieser Anspruch führt direkt in den Moralismus einer globalen Mission, die sich als unentbehrlich darstellt. Widerspruch oder Kritik wird moralisch zurückgewiesen: 'Wir können doch nicht nichts tun!'"
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Internet

Schlimm genug, dass Banking-Apps nur über Google oder Apple laufen, findet die Soziologin Gesa Lindemann auf ZeitOnline, aber dass sich deutsche Städte und Behörden komplett von den amerikanischen Monopolisten abhängig machten, sei fatal: "Andere europäische Verwaltungen haben hingegen erfolgreich auf Linux umgestellt - so etwa die französische Polizei und die französische Nationalversammlung. In Italien wird freier Software sogar grundsätzlich Vorrang eingeräumt, wenn es um die Ausstattung der Verwaltung geht. Der Staat beteiligt sich auch an der Entwicklung freier Software. Der Grund hierfür ist natürlich auch finanzieller Art, denn Open-Source-Software kostet keine Lizenzgebühren. Andererseits berücksichtigt es aber auch, was anderswo in Vergessenheit zu geraten scheint: wie die Digitalkonzerne in die Überwachungsaktivitäten der US-amerikanischen NSA verstrickt waren, die Edward Snowden aufgedeckt hat. Und es scheint auch in Vergessenheit zu geraten, dass die USA politische Gegner durch ein Handelsembargo erpressen können."
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Europa

In der SZ trauert A.L. Kennedy um Charlie Watts, der ihr nicht nur als stilvoller gutgekleideter Drummer der Stones fehlen wird, sondern als Sinnbild eines besseren Landes. Schließlich seien Ringo Starr oder auch Noel Gallagher fast schon so peinlich wie Boris Johnson! "Und das ist nicht nur traurig, weil der Verlust eines guten Mannes immer traurig ist. Es ist traurig, weil Charlie ein Teil dieses kleinen Jahrzehnts war, als Großbritannien kurz mal echten sozialen Aufstieg erlebte, Bildung im großen Stil, Gesundheitsversorgung, Wohlstand und Hoffnung. Für all das bekamen wir kreative Belohnungen. Wir sind nicht in Vietnam einmarschiert und traten 1973 der Europäischen Gemeinschaft bei, weil das der nächste logische Schritt war, um unsere Stärken zu verwirklichen."
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Ideen

In der SZ-Reihe "Dem Geheimnis auf der Spur" erzählt Fritz Göttler, wie und warum der französische Philosoph Louis Althusser 1980 seine Frau Hélène ermordete: "Melancholische Depression war der Befund angesichts seiner Tat gewesen, verstärkt durch den Einfluss von Medikamenten. Der Mann hatte keine Kontrolle mehr über das, was er fühlte, dachte, tat - ein schauriger Befund, eine tragische Ironie für einen Philosophen, der sich beschäftigt mit Bewusstsein und Identität, dem freien Willen, dem Cogito ergo sum."
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Gesellschaft

In der FAZ porträtiert Kerstin Holm die russische Geschäftsfrau und Frauenrechtlerin Aljona Popowa, die erstaunlicherweise bei den Duma-Wahlen im September antreten darf und für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt streitet: "Die 38 Jahre alte Popowa bekennt, sie habe selbst nie häusliche Gewalt erlitten und sich lange vom Feminismus distanziert, bis vor sieben Jahren ihre schwangere Freundin von ihrem Partner derart verprügelt wurde, dass sie ihr Kind verlor. Der Mann blieb unbehelligt. Heute sei ihr klar, dass die Gewalt das russische System wie eine Klammer zusammenhalte, dass die Faust in der Familie immer auch die Faust des Staates sei, die zivilgesellschaftliche Initiativen plattmache. Symptomatisch sei, dass Präsident Putin seinen Gegnern gedroht habe, ihnen 'die Zähne auszuschlagen'.

Frühere Sängerinnen des Mädchenchor des Dänischen Rundfunks werfen dem einstigen Leiter sexuelle Übergriffe vor, wie Kai Strittmatter in der SZ berichtet. Und da der Chor eine Institution sei, der Stolz des Landes, bereiten diese Vorwürfe dem Land großes Unbehagen: "Mehr als ein Dutzend Betroffene haben bislang öffentlich geschildert, wie sie als junge Mädchen in eine 'megasexualisierte' Umgebung eingeführt wurden, wie sie ungewollt begrabscht und geküsst wurden und sexuellen Avancen ausgesetzt waren. Eine der Betroffenen, die unter dem Chorleiter Michael B. sang, sagte, sie habe sich bisweilen gefühlt, als sei sie Teil eines 'Harems', gewesen, 'Michaels Mädchen'."
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Geschichte

In der taz erklärt sich der Münchner Geschichtswissenschaftler Philipp Lenhard den neuen Historikerstreit (unsere Resümees) um die Singularität des Holocaust, die kolonialen Verbrechen und Achille Mbembe auch mit dem Wandel globaler Hegemonie: "Erst in einigen Jahren wird sich abschließend beurteilen lassen, wie der zweite Historikerstreit ausging - und zwar nicht zuletzt abhängig davon, wie der Westen aus der globalen machtpolitischen Auseinandersetzung mit China hervorgehen wird. Schon jetzt nutzt der chinesische Imperialismus den Postkolonialismus als ideologische Soft Power, um seinen Einflussbereich in Afrika und Südostasien auszuweiten und die westliche Hegemonie zu torpedieren. Dabei stört das Wissen um die Spezifik des Holocaust nur insofern, als dieser sich eben nicht in das Schema des bösen westlichen Kolonialismus einfügen lässt. Solange die Vernichtung der europäischen Juden als ein 'westlicher Genozid' unter anderen rubriziert werden kann, kommt das Holocaustgedenken der chinesischen Staatsideologie dagegen nicht in die Quere."

In der Welt erinnert Kulturstaatsministerin Monika Grütters an die Vertreibung der Russlanddeutschen, die am 28. August 1944 von Stalin dekretiert wurde und ihrer Ansicht nach zu wenig Raum findet in der deutschen Erinnerung: "Rund 900.000 unschuldige Menschen wurden aus der Wolgaregion, aus den östlichen Gebieten der Ukraine, von der Krim, dem Kaukasus und aus weiteren Gebieten nach Sibirien und Kasachstan zwangsumgesiedelt. Rund 350.000 mussten unter qualvollen Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Soweit sich das heute noch nachvollziehen lässt, kamen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs rund 150.000 Menschen durch Aussiedlung, Hunger und Zwangsarbeit ums Leben."

Weiteres: In der FR erinnert Arno Widmann an die Ermordung des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger vor hundert Jahren.
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