9punkt - Die Debattenrundschau

Ernsthafte Kulturprobleme

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.10.2021. Zur Not auch gegen die Guten: Deniz Yücel wird als Präsident des deutschen PEN-Club die Meinungsfreiheit verteidigen, und zwar wirklich, hoffen taz und FAZMark Zuckerberg ist seinen Aufgaben nicht gewachsen, sagt Kara Swisher im NY Mag, aber wer genau könnte Facebook schon? Sascha Lobo fragt bei Spiegel online: Wie weit kann ein Internetmob gehen, ohne dass der Staat interveniert? Die EU hat Polen zu einer Geldstrafe verurteilt. Aber "was, wenn Polen nicht zahlt?", fragt die Zeit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.10.2021 finden Sie hier

Ideen

Deniz Yücel ist der neue Präsident des deutschen PEN-Zentrums, dem er erst vor kurzem beigetreten ist. Gegenüber Jan Wiele von der FAZ zeigt er sich "überzeugt, 'dass wir als PEN aus Prinzip und für unsere Glaubwürdigkeit im Zweifel immer für die Freiheit des Wortes und der Kunst sein müssen. Auch für die Freiheit des dummen Wortes, auch für die Freiheit der bescheuerten Kunst, auch dann, wenn es wehtut. Gegen die Mächtigen, gegen die Bösen - und wenn es sein muss, auch gegen die Guten.' ... Man müsse ertragen können, wenn jemand bei einer offiziellen Veranstaltung plötzlich ans Mikrofon dränge wie die Stadtverordnete Mirrianne Mahn, die bei der Verleihung des Friedenspreises in der Paulskirche die Rede des Oberbürgermeisters Peter Feldmann unterbrochen hatte, um zu kritisieren, dass 'schwarze Frauen auf der Buchmesse nicht willkommen' gewesen seien. Befremdlich aber findet Yücel die Reaktion Feldmanns, daraufhin sofort nachzugeben und sich für den Ausschluss bestimmter Verlage von der Buchmesse auszusprechen."

Der reichlich fußlahme deutsche Pen-Club kann einen wie Deniz Yücel gut gebrauchen, meint Jan Feddersen in der taz: "Freiheit versteht er im kulturellen Ausdruck nicht geschmackspolizeilich grundiert. Yücel ist im Gegenteil 'auch für die Freiheit des dummen Wortes, auch für die Freiheit der bescheuerten Kunst'. Und: 'Gegen die Mächtigen, gegen die Bösen - und wenn es sein muss, auch gegen die Guten.' Mit anderen Worten: Diese Bewerbung überzeugte."
Archiv: Ideen

Internet

James D. Walsh unterhält sich im New York Magazine mit Kara Swisher, vielleicht der Journalistin, die Mark Zuckerberg am besten kennt und die ihn mehrfach ausführlich interviewen konnte. In jüngst enthüllten "Facebook Papers" kam heraus, dass Facebook keineswegs immer systematisch gegen Hate Speech agiert und zur Not auch mit Diktaturen kungelt, um das Land nicht verlassen zu müssen. Swisher schildert ihn als gehemmt und überfordert: "Ich glaube einfach, dass er der Aufgabe nicht gewachsen ist, also ist es egal, ob er versucht hat, zu lernen. Er hat mehr abgebissen, als er kauen kann. Das ist eines der Hauptprobleme - dass das, was er sein soll, eine fast unmögliche Aufgabe für jeden ist und er aufgrund seiner mangelnden Kommunikationsfähigkeiten besonders schlecht geeignet ist. Er ist für den Job, den er hat, unterqualifiziert, denn er ist nicht einfach ein Techniker, er ist de facto ein Sozialingenieur. Und zwar ein sehr mächtiger, der keine Rechenschaft ablegen muss. Er ist wie der römische Kaiser, den er so bewundert; er war ein Fan von Augustus. Das war sein Held. Aber Augustus war auch nicht wirklich dazu geeignet, Kaiser zu sein, oder? So viel Schmerz und Leid." Auf Zeit Online liefert Jakob von Lindern Hintergründe zu den Facebook Papers.

Sascha Lobo erzählt bei Spiegel online die Geschichte des Youtubers "Drachenlord", eines jungen Mannes aus Franken, der bei Youtube schlicht sein Leben erzählt und Opfer eines unglaublichen Internetmobs geworden sei. Dieser Mob hat sein Haus attackiert, das Grab seines Vaters geschändet, ihn bloßgestellt. Geholfen hat ihm niemand, und durch einige Wirren ist er nun selbst zu Gefängnis verurteilt worden: "Die bittere Erkenntnis des Falles 'Drachenlord' ist: Wenn ein Tausende Köpfe starker Hassmob im Netz beschließt, eine Person fertig zu machen - kann die Bundesrepublik dem nichts entgegensetzen. Schlimmer noch - der Hassmob ist durch die Unwissenheit und den Zynismus von Staatsorganen und der medialen wie sozialmedialen Öffentlichkeit in der Lage, den Staat zum Komplizen zu machen."

Die Freilassung von Julian Assange ist zwingend!, ruft Basha Mika in der FR dem Obersten Gerichtshof in London zu, der beim jetzigen Berufungsverfahren erneut über die Auslieferung an die USA entscheidet: "'Bei einer Auslieferung würde Assange wohl zu Tode gefoltert', sagt UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer. Will sich das Oberste Gericht der Beihilfe schuldig machen?"
Archiv: Internet

Europa

Der Europäische Gerichtshof hat entschieden: Eine Million Euro Zwangsgeld soll Polen pro Tag zahlen, bis sich die Disziplinarkammer am Obersten Gericht auflöst, die die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet. Richtig findet Albrecht Meier im Tagesspiegel die Entscheidung, denn: "Eine solche Kammer, welche die Entlassung politisch missliebiger Richter und Staatsanwälte ermöglicht, ist mit den Prinzipien der Gewaltenteilung unvereinbar." Aber die EU braucht Polen, räumt Christoph B. Schiltz in der Welt ein und fordert: "Die EU-Eliten sollten endlich - trotz aller Konflikte - den Dialog mit unserem Nachbarland verstärken. Warum etwa reisen europäische Spitzenpolitiker so selten nach Polen?"

"Schritt für Schritt eskaliert die Sache, auf den Druck aus Luxemburg hin erhöht Polen den Gegendruck, woraufhin der EuGH, auf Antrag der Kommission, seinerseits den Druck weiter steigert", schreibt Heinrich Wefing auf Zeit Online und fragt: "Was, wenn Polen nicht zahlt? Wenn es die eine Million Euro pro Tag nicht überweist? Heute nicht, morgen nicht, womöglich nie. Und auch nicht reagiert, sollte das Zwangsgeld weiter erhöht werden? Was dann? Die EU kann ja weder einen Gerichtsvollzieher noch die Polizei vorbeischicken, auch die Haft, die von Zivilgerichten notfalls verhängt wird, wenn ein Bürger ein Zwangsgeld nicht zahlt, kommt nicht in Betracht. (…) Ein Gericht, dessen Anordnungen dauerhaft und folgenlos ignoriert werden können, droht seine Autorität zu verlieren. Die polnische Regierung könnte, wenn sie hart und unnachgiebig bleibt, den EuGH ziemlich schwer beschädigen. Ihn mindestens als harmlos und hilflos vorführen. Das würde die Desintegration der EU weiter beschleunigen."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Im Welt-Gespräch mit Ute Cohen spricht die Kulturwissenschaftlerin Evke Rulffes, die gerade das Buch "Die Erfindung der Hausfrau" veröffentlicht hat, über den "paternalistischen Blick" von Historikern und einen Backlash hinsichtlich weiblicher Bildung durch Religion: "Das kann offenbar jederzeit passieren, wie man in Afghanistan sieht. Ich finde es unerträglich, was dort gerade geschieht. Man läuft immer wieder Gefahr, dass Frauen Rechte verlieren und benachteiligt werden. Überall auf der Welt durften Mädchen nach den Lockdowns nicht mehr zur Schule gehen, weil sie arbeiten müssen oder verheiratet wurden, Teenagerschwangerschaften haben zugenommen. Religion spielt als Verstärker in patriarchalischen Gesellschaften sicher eine Rolle."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Die SZ räumt ihre Medienseite frei, um ihren ehemaligen Mitarbeiter und neuen Bild-Chef Johannes Boie zur Zukunft der Bild zu befragen. Das Interview führen Caspar Busse und Claudia Tieschky. Die Chefredaktion teilt sich Boie mit Alexandra Würzbach und Claus Strunz, das letzte Wort hat aber er, wie er betont. Dass die Reichelt-Affäre Schaden angerichtet hat, schließt er nicht aus, die Angriffe würden allerdings "extrem hart und zum Teil auch inakkurat geführt", meint er: "Wenn ich immer höre, die Schlagzeilen bei Bild machen alte weiße Männer - nee, die macht auch eine junge Frau. (…) Gleichwohl gibt es bei Bild in manchen Bereichen ernsthafte Kulturprobleme. Das ist überhaupt nicht kleinzureden. Und das werde ich verändern. Eine Kultur des Respekts muss gestärkt werden. Das bedeutet einerseits, wir werden ein empathisches Miteinander prägen, ohne die für Bild typische Härte - auch in der politischen Linie - nach außen zu verlieren. Wir werden keinen Millimeter Machtmissbrauch und Drangsalierung, Einschüchterung oder Schlimmeres dulden."
Archiv: Medien

Kulturpolitik

Ein Berufungsgericht in Amsterdam hat entschieden, dass das so genannte Skythen-Gold, rund 2000 Artefakte aus Gold, Keramik, Holz und Bronze, die auf der Halbinsel Krim ausgegraben wurden, der Ukraine gehört, meldet Frank Herold im Tagesspiegel. Der Streit begann, als Russland vor sieben Jahren die Krim annektierte - Russland ist verärgert über die Entscheidung: "Es sei eine 'politisierte' Entscheidung, ließ sich Grigori Karassin vernehmen, der Chef des Außenpolitischen Ausschusses des Föderationsrates. 'Die ganze Kollektion gehört der Krim und Russland.' Das Kulturministerium in Moskau drohte, russische Museen würden keine Kunstwerke für Ausstellungen in den Niederlanden zur Verfügung stellen, sollte die Gerichtsentscheidung Bestand haben."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Russland, Ukraine, Skythen, Krim, Keramik