9punkt - Die Debattenrundschau

Dieser gigantische Informationskrieg

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.03.2022. Inzwischen ist die Frage fast nicht mehr, was Kiew bereit ist für den Frieden zu tun, sondern zu welchen Zugeständnissen Moskau bereit ist, schreibt Lawrence Freedman in seinem Blog. Er glaubt nicht, dass die Ukraine einen Neutralitätsstatus akzeptieren sollte, Richard Herzinger auch nicht. Eine Recherche des Newlines Mag zeigt, wie intensiv Russland an der Vernetzung der extremen Rechten in Europa arbeitet. Der Soziologe Ulrich Bröckling warnt in der FR vor der "nahezu hyperaktiven Vorstellung, alles müsse sofort und unbedingt in Bewegung gesetzt werden, um dem Morden Einhalt zu gebieten".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.03.2022 finden Sie hier

Europa

Inzwischen ist die Frage fast nicht mehr, was Kiew bereit ist für den Frieden zu tun, sondern zu welchen Zugeständnissen Moskau bereit ist, schreibt  der Oxforder Militärhistoriker Lawrence Freedman in seinem Blog - denn Moskau kommt mit seiner Offensive nicht voran und muss sich teilweise sogar zurückziehen. Die Bedingungen eines Friedensschlusses müssten von Kiew gesetzt werden. Denkbar wäre etwa Neutralität, aber mit Sicherheitsgarantien, auch von befreundeten Ländern. Freedman ist skeptisch: "Sicherheitsgarantien, selbst von befreundeten Staaten, sind von Natur aus problematisch. Sie erfordern, dass man sich darauf verlässt, dass andere, die nicht direkt bedroht sind, große Risiken für einen selbst eingehen. Der Ukraine wurden schon früher Sicherheitsgarantien gegeben, die sich 2014 und jetzt wieder als wertlos erwiesen haben. Deshalb wird die Ukraine einer 'Entmilitarisierung' nicht zustimmen, wenn sie ihr Überleben der Hartnäckigkeit ihrer Verteidigungsanlagen verdankt."

Der Westen sollte eingreifen, nicht nur aus Solidarität mit der Ukraine, sondern auch um Putin zu kippen, meint Richard Herzinger in seinem Blog: "Davon, dass er sich seiner Nomenklatura sowie der gleichgeschalteten russischen Öffentlichkeit als Triumphator und unfehlbarer Führer präsentieren kann, hängt nämlich der Erhalt seiner Macht ab, die auf der Selbstermächtigung zur Anwendung unbegrenzter gesetzloser Gewalt gründet. Deshalb braucht Putin den permanenten Krieg und den Nimbus der Unbesiegbarkeit seiner Kriegsmaschine. Damit aber bietet er dem Westen jetzt eine große Chance, ihn zu Fall zu bringen." An Neutralität - auch mit westlichen Sicherheitsgarantien - glaubt auch Herzinger nicht: "Putin und seine Spießgesellen haben oft genug klargestellt, das sie unter 'Neutralität' nicht anderes verstehen als die Unterwerfung der Ukraine unter den Vorherrschaftsanspruch Moskaus."

Putin ist zwar auch bei vielen "Antifaschisten" beliebt, aber das hindert ihn nicht, als Hauptsponsor der extremen Rechten in Europa Strippen zu ziehen. Eine Recherche beim Newlines Mag, die zusammen mit anderen Medien geführt wurde, zeigt mittels geleakter Emails die intensiven Vernetzungstätigkeiten der Organisation Tsargrad und des Oligarchen Konstantin Malofejew: "Ein von der Organisation im März 2021 ausgearbeiteter Plan sah die Gründung eines Netzwerks mit dem Namen 'Altintern' vor, möglicherweise eine Anspielung auf das alte sowjetische Einflussorganisation Komintern, eine Abkürzung für Kommunistische Internationale, ein in Moskau ansässiges Organ, das Ausländer anwerben sollte, um den Bolschewismus zu fördern und Putsche im Ausland zu schüren. Zu denjenigen, die beitreten sollten, gehörten die Abgeordneten der Fraktion Demokratie und Identität, die 64 der 705 Sitze im Europäischen Parlament innehat."

Die Ukrainer setzen Gesichtserkennung ein, um gefallene russische Soldaten zu identifizieren, berichtet Thomas Brewster bei Forbes: "Finden Sie ein Foto eines toten russischen Soldaten in den sozialen Medien. Laden Sie es in eine Gesichtserkennungssoftware hoch. Erhalten Sie einen Identitätsabgleich aus einer Datenbank mit Milliarden von Bildern in sozialen Medien. Identifizieren Sie die Familie und Freunde des Verstorbenen. Zeigen Sie ihnen, was mit dem Opfer von Putins Krieg und der Verteidigung der Ukraine geschehen ist. Dies ist eine der Strategien der Ukraine, um die Russen, die nur begrenzten Zugang zu nicht staatlich kontrollierten Medien und Informationen haben, über den Tod zu informieren, den die Invasion ihres Präsidenten über sie gebracht hat."

Belarus wird wohl nicht als Kriegspartei in den Krieg eintreten, auch wenn Lukaschenko gerne wollte, vermutet FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt: "Hintergrund ist, dass der Krieg in Belarus nicht beliebt ist, große Ängste weckt, kaum unterstützt wird, nicht in der Gesellschaft und laut Porotnikow auch nicht in den Streitkräften. Diese bestünden überdies zu 60 Prozent aus Wehrpflichtigen, deren Dienstzeit im Mai ende und die keinerlei Lust verspürten, jetzt noch in den Krieg geschickt zu werden."

Selenski ist über Nacht "zu einer globalen Autorität" aufgestiegen, sagt im FR-Interview mit Harry Nutt der Soziologe Ulrich Bröckling. Aber: "Selenskis Auftritte beunruhigen zutiefst, manchmal haben sie sogar etwas Verstörendes. Man fühlt sich schuldig bloß zuzuschauen, schuldig, den Warnungen, die es gab, zu wenig Gehör geschenkt zu haben. Das Desinteresse an der politischen Lage der Ukraine war weit verbreitet, und es gibt nur wenige, die sich da ausnehmen können. Ein schlechtes Gewissen ist allerdings so wenig ein guter Ratgeber wie die Faszination, die von Heldenfiguren ausgeht. Hierzulande entsteht gerade ein enormer Sog, die nahezu hyperaktive Vorstellung, alles müsse sofort und unbedingt in Bewegung gesetzt werden, um dem Morden Einhalt zu gebieten." Wirklich seltsam diese Vorstellung, wie kommen die Leute nur darauf?

Putin hat etwas "Dämonisches", er verkraftet nicht, dass die Russen nicht vorankommen, während es den mittel- und osteuropäischen Staaten, die unter der Herrschaft der Sowjetunion standen, nun durch die EU besser geht, sagt Theo Waigel im großen SZ-Gespräch mit Willi Winkler: "Merkel und Putin haben mehr als ein Jahrzehnt miteinander geredet, sie konnten sich fließend unterhalten - doch daraus erwuchs kein Vertrauen wie zwischen Kohl und Gorbatschow. Mit Jelzin haben wir offen geredet, wieso ist euer Energieinstrumentarium so miserabel und so weiter. In einem Ton, der ihn nicht desavouiert hat. Das ist mit Putin aber nicht möglich. Seit dem Historikerstreit darf man ja keine Vergleiche mehr anstellen, aber es erinnert schon an Stalin und Hitler."

Für die SZ ist Sonja Zekri nach Lwiw gereist, wo die Cafes voll sind und die Kulturgüter verhüllt und geschützt werden. Und sie spricht mit Myroslaw Marynowytsch, Vizerektor der Katholischen Universität in Lwiw, der sich bisher um Aussöhnung mit Russland bemühte: "'Jahrelange Freunde erzählen mir, dass die Ukraine und Russland gleichermaßen Opfer Chinas und der USA sind', sagt er. 'Der russische Liberalismus endet dort, wo unsere Souveränität beginnt, er endet an der Grenze zur Ukraine.' Das Leiden zerreiße ihm das Herz, zugleich sieht er es als Preis für die Geburt einer ukrainischen Nation: 'Für die Russen wäre es wichtig, dass sie Verantwortung übernehmen wie die Deutschen nach der NS-Zeit, dass sie die Möglichkeit bekommen zu leiden, um als neue Gesellschaft wiedergeboren zu werden.'"

In ihrem ukrainischen Tagebuch, ebenfalls in der SZ, schreibt Oxana Matiychuk davon, wie der Krieg zum Alltag wird, auch außerhalb der Ukraine: "Es ist klar, dass sich eine gewisse Müdigkeit ausbreitet, eine Nachricht auf Whatsapp besagt genau das: 'Hier verdrängt man langsam alles und vergisst dabei fast Euch.' Wir hier im Hinterland dürfen nichts verdrängen - nur so viel, wie es zum Durchhalten nötig ist, aber es stellt sich tatsächlich eine gewisse Routine ein."

Außerdem: Putin-Lobbyist und Ex-Kanzler Gerhard Schröder hat sich in einer Konferenz in einigen nebulösen Sätzen zu Putins Krieg gegen die Ukraine geäußert, meldet unter anderem rnd.de.

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Die Popularität von Eric Zemmour ist Symptom der "verdrängten" Geschichte Frankreichs, schreibt die deutsch-französische Autorin und Journalistin Geraldine Schwarz in der Welt. Ausgerechnet Zemmour, Kind algerischer Juden, verteidigt Marshall Petain und das Vichy-Regime, das bei der Durchführung des Holocaust mit den Nazis kollaborierte, so Schwarz: "Die Haltung Zemmours geht über die bloße Instrumentalisierung der Geschichte hinaus. Sie offenbart pathologische Leugnung, was einer Studie der Soziologinnen Joëlle Allouche-Benayoun und Doris Bensimon zufolge für viele Juden aus Algerien symptomatisch ist. Deren Wunsch, sich in die französische Gesellschaft einzufügen, sei nach dem Krieg so stark gewesen, dass er sie erlittene Diskriminierungen vergessen ließ. Doch bei Zemmour geht es um mehr als ums Wegschauen: Er verteidigt Vichy und übernimmt sogar einen Teil seiner Ideologie. Seine Hetze gegen Einwanderer, insbesondere gegen Muslime, die er erniedrigt, stigmatisiert und am liebsten staatlich diskriminieren würde, erinnert an die Rhetorik von damals. Er projiziert seine eigenen Träume auf die Zugezogenen. Er verlangt, dass sie genauso wie er die Zähne zusammenbeißen und sich assimilieren, und zwar bedingungslos." Zemmours Umfragewerte sinken allerdings, vor allem wegen seiner allzu häufig geäußerten Putin-Bewunderung, notiert Niklas Bender in der FAZ.
Archiv: Europa

Geschichte

Der Historiker Paul-Moritz Rabe hat die Aufzeichnungen des jungen Niederländers Jan Bazuin nun editiert und veröffentlicht, die dieser nach seiner Verschleppung im Januar 1945 von Rotterdam zur Zwangsarbeit ins Lager Neuaubing nahe München, niederschrieb. Im FR-Gespräch mit Peter Riesbeck erklärt Rabe, wie versucht wurde, nach Zwangsarbeitern aus Ost- und Westeuropa zu trennen und wie allgegenwärtig Zwangsarbeit war: "Wir wissen von ungefähr 13,5 Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die allein auf dem Gebiet des damaligen Deutschen Reichs eingesetzt waren, der Großteil kam aus Osteuropa. Weitere rund zwölf Millionen Menschen wurden in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten zur Zwangsarbeit herangezogen. In den letzten Kriegsmonaten waren mehr als ein Drittel der Beschäftigten in deutschen Unternehmen Zwangsarbeiter, in manchen Rüstungsbetrieben lag der Anteil bei weit über 50 Prozent. Zwangsarbeiter hielten nicht nur die Kriegsindustrie, sondern die gesamte deutsche Volkswirtschaft am Laufen. Denn sie waren in vielen Familienbetrieben, der Landwirtschaft oder der öffentlichen Verwaltung beschäftigt."
Archiv: Geschichte

Medien

Für ZeitOnline hat der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen mit dem ukrainischen Unternehmer Misha Katsurin gesprochen, der mit seiner Website papapover.com versucht, die russische Propaganda und Informationskontrolle zu durchbrechen. Ukrainer sollen vor allem russische Verwandte und Freunde erreichen. "Wir sind nur ein einzelnes, ganz kleines Element in diesem gigantischen Informationskrieg, unterstützt durch Spenden und Freiwillige. Aber natürlich sehe auch ich die Bilder derjenigen, die in Russland den Krieg bejubeln. Natürlich erfahre auch ich, dass russische Influencer, Musiker und Blogger persönlich von Kremlleuten angerufen werden, man ihnen und ihren Familien mit Gefängnis droht, sollten sie auch nur minimal von der offiziellen Linie abweichen. Und noch etwas: Das eigentliche Drama ist, dass derzeit viele liberal und nicht nationalistisch denkende, gut ausgebildete Menschen dabei sind, das Land zu verlassen. Weil sie schlicht keine Chance mehr sehen, weiter in Russland zu arbeiten. Putin braucht also keinen stalinistischen Gulag, er zwingt Andersdenkende einfach zur Emigration."
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Ideen

In der NZZ geht Lucien Scherrer in einem epischen Artikel mit Blick auf Islamogauchismus, Mobbing gegen Professoren und abgesagte Veranstaltungen der Frage nach, wie verbreitet der woke Kulturkampf inzwischen an französischen Universitäten ist. In der französischen Debatte würden "Feindbilder konstruiert", winkt die Soziologin Gisele Sapiro ab. Die ganze Debatte diene nur dazu, "von einem geplanten 'neoliberalen Umbau' der Universitäten abzulenken - denn die Regierung denkt darüber nach, an den öffentlichen Universitäten künftig Studiengebühren zu verlangen." Der Politikwissenschaftler Pascal Perrineau ist indes der Meinung, "dass sich die universitäre Welt in einer Ideologisierungsphase befindet, wie in den 1960er und 1970er Jahren, als Stalinisten, Maoisten und Trotzkisten die Wissenschaften zu vereinnahmen versuchten. 'Der extreme Diskurs hat zwar keine Mehrheit, aber in manchen Fächern ist er signifikant'. …Dominant ist laut Perrineau nicht die republikanische, laizistische Linke, sondern die 'multikulturalistische' Linke. Diese wittere überall strukturelle Diskriminierung und verleugne die traditionelle marxistische Abneigung gegen Religionen zumindest in Bezug auf den Islam - mit dem Ziel, muslimische Migranten als neues Proletariat gegen das System zu mobilisieren."
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

In der NZZ berichtet der in Russland geborene und in Kiew aufgewachsene Schriftsteller Andrej Kurkow vom Versuch, ukrainische Kulturgüter vor der Zerstörung zu schützen, von den Kriegsfolgen für das Bildungssystem und der "kollektiven Abkehr der Ukrainer von der russischen Kultur. Sie ist bereits im Gang, und dazu bedurfte es keiner Parlamentssitzung. Das Parlament hat lediglich ein Gesetz verabschiedet, gemäß dem die Einfuhr sämtlicher russischer Bücher und Publikationen zum Verkauf in der Ukraine verboten ist. Natürlich wird es in den besetzten Gebieten keine ukrainischen Bücher und Zeitschriften geben, solange sie nicht befreit sind; dort wird alles ausschließlich russisch sein. Es gibt da bereits jetzt kein ukrainisches Radio und Fernsehen mehr, sondern nur noch russische Sender, die Kreml-Propaganda ausstrahlen."
Archiv: Kulturpolitik