Efeu - Die Kulturrundschau

Spuren von Strychnin

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04.09.2015. In der Berliner Philharmonie blieb Ai Weiwei auch im Gespräch mit Liao Yiwu bei seinen gemäßigten Tönen, berichten leicht enttäuscht die Zeitungen. Die Presse besucht die Feininger-Kubin-Ausstellung in Wien. Die Filmkritiker berichten aus Venedig über Cary Fukunagas Wettbewerbsfilm "Beasts of No Nation". Presse, SZ und Spex wollen Miley Cyrus jetzt ernst nehmen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.09.2015 finden Sie hier

Kunst


Links: Lyonel Feininger, Der große Mann, 1909. Rechts: Alfred Kubin, Jede Nacht besucht uns ein Traum, 1900-1903

Was hatten Lyonel Feininger und Alfred Kubin, gute Freund von 1912 bis März 1919, gemeinsam? Die "Überzeugung, dass die Gegenwart ungenügend ist", lernt Presse-Rezensentin Bettina Steiner in der Feininger-Kubin-Ausstellung in der Albertina. "Und die Unterschiede? Kubin ist durchgehend unheimlich - sogar wenn er eine "Groteske Maskerade" mit einem schweinsköpfigen König zeichnet. Bei Feininger kommt einem dagegen noch vor einem mit "Melancholie" betitelten Blatt ein Lachen aus: So grimmig arrogant schreitet der Melancholiker durch den hellsten Sonnenschein."

In der Berliner Philharmonie trafen Ai Weiwei und der in Deutschland lebende Schriftsteller Liao Yiwu zum Gespräch aufeinder, geladen hatte das Internationale Literaturfestival und im vollen Saal wimmelte es von Abgesandten der Feuilletons, die dem zuweilen nicht nur unterschwellig konfliktreichen Gespräch dieser zwei, sich allerdings sehr unterschiedlich positionierender, Dissidenten konzentriert zuhörten. So beobachtet Mark Siemons (FAZ) etwa, dass Liao in der bewusst gewählten Rolle des Fragenstellers diese "freiwillige Unterordnung nutzen möchte, um als Repräsentant einer Öffentlichkeit aufzutreten, die von Ai wieder die konfrontativen Aussagen haben will, die ihn berühmt gemacht haben. Und dass Ai, immer wenn ihm das zu viel wird, zu einem Tritt vors Schienbein ausholt." Eigentlich kam es nie zu einem richtigen Gespräch, meint Sieglinde Geisel in der NZZ.

Natürlich ging es auch um Ais umstrittene Äußerungen in einem Interview für die Zeit, die ihm den Vorwurf einbrachten, Übergriffe des Regimes kleinzureden. Ein Missverständnis, wie Gregor Dotzauer vom Tagesspiegel erklärt: "Er will [seine Äußerungen] vor dem Hintergrund eines chinesischen Jahrhunderts verstanden wissen, in dem Millionen einfach vernichtet oder ums Leben gekommen seien. Wenn die Kommunistische Partei in den vergangenen 30 Jahren also ein Justizsystem eingeführt habe, das zwar keinen Rechtstaat, aber immerhin grundlegende Gesetze eingeführt habe, sei das eine bemerkenswerte Entwicklung. Es müsse jedem Anwalt aber klar sein, dass er Recht in einem Land vertritt, dessen juristisches System nur in Rudimenten vorhanden íst." Arno Widmann bringt in der FR einige Auszüge aus dem Gespräch. Für die taz berichtet Simone Schmollack, für die SZ Tobias Lehmkuhl. Und in dieser Playlist gibt es einige Ausschnitte:



Weiteres: Samuel Herzog (NZZ) steht nach dem Besuch des Rain Room im Yuz Museum in Schanghai schutzsuchend in einem Hauseingang und meditiert über den Unterschied zu "richtigem" Regen. Katrin Strohmaier spricht im Freitag mit dem Fotografen Sankar Sarkar. Das russische Landart-Festival Archstoyanie erfreut sich enormer Popularität, berichtet Kerstin Holm in der FAZ.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Berliner Zwanziger Jahre im Stadtmuseum (Berliner Zeitung), die Ausstellung "Romantik. Licht. Unendlichkeit" in Jena (Welt), die Ausstellung "Carrefour/Treffpunkt: Die Marrakech-Biennale und darüber hinaus" in der Berliner ifa-Galerie (taz) und die Mondrian-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin (Berliner Zeitung, SZ).
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Architektur

Bernhard Schulz bringt im Tagesspiegel Hintergründe zum Ideenwettbewerb für das Museum der Moderne in Berlin. Andreas Rossmann besucht für die FAZ die Ausstellung über Friedrich Weinbrenner in der Städtischen Galerie Karlsruhe (mehr dazu hier).
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Film


Projiziert aufs Außen: Cary Fukunagas "Beasts of No Nation". Bild: Filmfestival Venedig.

Mit Cary Fukunagas "Beasts of No Nation" hat der Wettbewerb in Venedig offiziell begonnen. Aufsehen erregte das Afrika-Drama schon im Vorfeld dadurch, dass der Streaminganbieter Netflix mit dieser Produktion nun auch nach dem Kino greift (mehr zu dieser Debatte in Variety). Cristina Nord (taz) stößt sich sehr daran, wie der Film Missstände in einem namenlos bleibenden Land um ihrer selbst willen in den Vordergrund rückt: "Dieser Abstand macht es leicht, faul zu bleiben. Man muss sich nicht informieren - was man hier und dort aufgeschnappt hat, reicht. ... Gut, es handelt sich ja nur um Fiktion. Allerdings ist eine Fiktion, die mehr über ihre Erfinder verrät als über irgendetwas anderes. Eine Fiktion, die von dem Bedürfnis, Grausamkeit und Wahnsinn abzuspalten und auf ein Außen zu projizieren, durchdrungen ist."

Bei Susan Vahabzadeh (SZ) ist von solchen Bedenken wenig zu spüren: Dieser Film "ist wunderbar gefilmt", komme an "Apocalypse Now" zwar nicht heran, sei "aber trotzdem ein ziemlich guter Kriegsfilm. ... Die Schlachterei, auf der großen Leinwand manchmal unerträglich, oder eine Totale der Rebellen, die gerade eine Stadt ausrotten - das sind Einstellungen, die fürs Kino gemacht sind." Im Tagesspiegel beschreibt das Christiane Peitz ganz anders: "Regisseur Fukunaga hat sich mit der ersten Staffel der HBO-Serie "True Detective" einen Namen gemacht, "Wire"-Star Idris Elba spielt den mephistophelischen Rebellenkommandanten und firmiert als Koproduzent. Kein Wunder, dass der Film dick aufträgt und sich Freiheiten nimmt, wie bei den fantastischen Hippie-Uniformen der Kindersoldaten. Er ist weniger für die große Leinwand gemacht als für den Bildschirm und die mobilen Monitore der Tablets und Smartphones. Die Macher von "Beasts of No Nation" wollen ein junges Publikum fesseln, es vom Zappen abhalten."

Besprochen werden weiter die Netflix-Serie "Narcos" (Welt, Presse), Marie Wilkes Dokumentarfilm "Staatsdiener" über junge Polizisten in der Ausbildung (Tagesspiegel), die Komödie "Die Kleinen und die Bösen" mit Christoph Maria Herbst (Tagesspiegel), Audrey Danas "French Women" (Tagesspiegel) und die neue DDR-Komödienserie "Sedwitz" (FR).
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Literatur

Im Freitext-Blog auf ZeitOnline fordert die Schriftstellerin Nora Bossong, dass Facebook gegen rassistische Postings vorgehen soll. Für die Deutsche Welle spricht Sabine Peschel mit Sigrid Löffler über Migration in der Weltliteratur. Raus aus dem Elfenbeinturm: In der Jungle World wünscht sich Manuel Clemens einen populistischen Zweig der Literaturwissenschaft, der es der sehr auf sich bezogenen Forschung gestatten soll, wieder in die Gesellschaft zu wirken. Im Logbuch Suhrkamp setzt Andreas Maier den Bericht von seinem "Jahr ohne Udo Jürgens" fort. Henning Klüver (SZ) schreibt zum 90. Geburtstag des Schriftstellers Andrea Camilleri.

Besprochen werden Gary Shteyngarts "Kleiner Versager" (FR), Jonathan Franzens "Unschuld" (Zeit, taz, Standard, SZ), Karl-Heinz Otts "Die Auferstehung" (FR), Ismail Kadares "Die Schleierkarawane" (Tagesspiegel), Elisabeth Zöllers "F.E.A.R." (SZ) und der von David Lagercrantz verfasste vierte Teil von Stieg Larssons "Millennium"-Reihe (FAZ).
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Bühne


helium x, Die große Schlacht. Im Stadion Rankhof. Foto © Nelly Rodriguez

Bei den Treibstoff Theatertagen in Basel probt man den Krieg, berichtet eine leicht verstörte Geneva Moser in der nachtkritik. Zum Beispiel die "Große Schlacht" zu St. Jakob von 1444, die helium x in einem Stadion nachgestellt haben: "Als die Letzten im Kampf fallen, wird das Stadion dunkel. Das Publikum wird auf das Feld gebeten und trotz Unterbruch und Verzögerung wirkt das verwirrte Herumstapfen auf dem stillen Schlachtfeld - das schlafende Stadion, die am Boden liegenden Körper und die verbrannte Erde - surreal und beklemmend. Das Publikum probt den Krieg im Stadion mit. Wer hier letztlich wem applaudiert, bleibt chaotisch und diffus."

Mit großer Vorfreude blickt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung auf die kommende Spielzeit der Berliner Volksbühne. Vor allem ein gestalterisches Detail im Hause gefällt ihn sehr: "Der Boden des Grundraumes ist asphaltiert. Theater auf der Straße, das Draußen als Spielfläche drinnen. .. Es ist der Volksbühne zuzutrauen, dass sie das Haus geteert an den Nachfolger Chris Dercon übergibt, aber das ist noch nicht entschieden. Eine schön ambivalente Botschaft wäre es allemal: Die Vergangenheit wird versiegelt, das Alte zugleich zur Straße ins Neue." (Man stelle sich vor die Vergangenheit wäre versiegelt gewesen für Castorf!)

Weiteres: Im ZeitMagazin träumt Sophie Rois von Christoph Schlingensief. Besprochen wird Ofira Henigs "Drei Hunde Nacht" am Deutschen Theater Berlin (SZ).
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Musik

Gute Musik, staunt Thomas Kramar in der Presse über das neue Album von Miley Cyrus, das man derzeit via Soundcloud gratis hören kann. Und nennt als Beispiel den "Floyd Song", den die Sängerin ihrem toten Hund gewidmet hat: "Der Sonnenaufgang fordere Fröhlichkeit, singt sie zu morgendlichen Gitarren, doch wie könne sie fröhlich sein, wo ihre Blume tot ist? Dann bricht der Song kurz, die Gitarre beginnt zu zittern, der Bass zu wabern, während die Orgel einfriert: Wir befinden uns in einer seltsamen Welt, und sie hört sich ganz ähnlich an wie vor fast 50 Jahren die seltsame Welt der frühen Pink Floyd, wie ein kindliches Paradies, von dessen Verlust man jäh bedroht ist. Milch und Honig, mit Spuren von Strychnin versetzt."

Platt ist auch Jan Kedves in der SZ, der Cyrus künftig als Künstlerin "viel ernster nehmen" will. So hätte man Cyrus freilich auch schon früher wahrnehmen können, meint dagegen Nicklas Baschek (Spex) nach dem Durchhören dieses "sehr guten Popalbums".

Weiteres: Der Rolling Stone spricht mit Daniel Lopatin von Oneohtrix Point Never, der gerade den ersten, von Pitchfork gefeierten und auf Youtube für Deutschand bereits gesperrtenTrack seines kommenden Albums online gestellet hat. Für The Quietus unterhält sich John Doran mit der indonesischen Band Senyawa, die mit selbst geschnitzten Instrumenten metal-artige Musik spielt (hier einige Kostproben). Die Jungle World spricht mit Breiti von den Toten Hosen. In der SZ berichtet Carlos Widmann von der deutschen Kulturwoche in Umbrien, wo die Dirigenten und Orchestermusiker gerne auch in Jeans auftreten und mitunter "eine Atmosphäre zwischen Nachtklub und Pop-Arena" herrscht.

Besprochen werden ein Abend in Sils-Maria im Gedenken an den im vergangenen Jahr gestorbenen Claudio Abbado (Tagesspiegel), das Debütalbum "Satt" von Schnipo Schranke (taz), das neue Album von Sido (taz), ein Konzert von Sufjan Stevens (The Quietus) und neue CDs des Pianisten Andreas Staier (SZ).
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