Efeu - Die Kulturrundschau

Frösche küssen

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05.09.2015. Weite Wege und posthumanistisches Rauschen erlebt die FAZ bei der Biennale in Istanbul. Bei moviepilot erklärt Werner Herzog rigoros, nicht der Kultur der Wehleidigkeit anzugehören wie all die anderen Hollywood-Weicheier. Der Tagesspiegel hört einen hypnotischen Schönberg. In der Literarischen Welt erzählt Übersetzer Juri Elperin, warum Pasternak nie grüßte. Die Theaterkritiker saßen in Weimar beim Rimini-Protokoll-Abend "Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.09.2015 finden Sie hier

Kunst

In Kassel kämpfte sie für das Wahlrecht von Bienen und Erdbeeren, nun verteilt die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev ihr buchstäblich ausufernd verzweigtes Programm der Biennale in Istanbul auf so viele, weit auseinander liegende Orte, das man ohne Karte (Bild links) und lange Reisen aufgeschmissen wäre, berichtet Kolja Reichert in der FAZ, der etwas matt zusammenfasst, was einem hier unter anderem geboten wird: "ein physischer Knotenpunkt der Geistesgeschichte (Trotzkis Haus); die suggestiven Gesten eines Gegenwartskünstlers; ein posthumanistisches Hintergrundrauschen; und vor allem - weite Wege. ... So kämpft man sich tagelang durch die Stadt und erreicht doch nie das Gefühl, dass man eine Ausstellung gesehen hat."

Weitere Artikel: Alexandra Barcal berichtet in der NZZ über die Triennale de l"art imprimé contemporain in Le Locle. In der FR führt uns Daniel Kortschak durchs Programm der Ars Electronica, deren Schwerpunkt das Thema "Mobilität der Zukunft" darstellt. In der Berliner Zeitung stellt Günter Marks die ethnologischen Sammlungen aus Berlin-Dahlem vor.

Besprochen wird die Ausstellung "Tanz auf dem Vulkan" im Stadtmuseum in Berlin (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Musik

Im Tagesspiegel berichtet Udo Badelt vom Auftakt des Musikfests Berlin mit John Adams" "Chamber Symphony", aufgeführt vom Frankfurter Ensemble Modern, und Kollege Frederik Hanssen erzählt vom Schönberg-Konzert mit Daniel Barenboim, bei dem man lernen konnte, wie meisterlich schon Schönbergs erster, von ihm als "vollgültig" verstandener Wurf war: "Ein Gedicht Richard Dehmels, in dem eine Frau ihrem Geliebten bei einem nächtlichen Spaziergang eröffnet, dass sie von einem anderen schwanger ist, und der Mann verspricht, das im Mutterbauch wachsende Menschenwesen als sein eigenes anzusehen, inspiriert Schönberg zu einem Streicherstück, das Wagners hypnotische "Tristan"-Klänge mit der Dichte von Brahms" Kammermusik sowie Richard Strauss" Konzept der sinfonischen Dichtung verbindet." "Großartig" war das, lobt Christiane Tewinkel in der FAZ: "Rauschender Beifall."

Weitere Artikel: In der SZ denkt Jan Kedves über den Wandel der DJ-Kultur nach. Im Interview mit Robert Rotifer für die Berliner Zeitung teilt Ur-Punk John Lydon wie eh und je nach allen Seiten aus: Ihr Fett kriegen unter anderem IT-Konzerne, die klassische Musikindustrie und deren Nachfolger, London und West-Berlin, das ja nun wie Ost-Berlin sei, weg - sein Schlusswort: "Viva la Revolución, möge sie eine passive sein." Mit der Initiative "Zeit zu handeln!" positioniert sich eine Gruppe deutscher Rockbands gegen Rassismus, meldet Jens Uthoff in der taz. Und Sylvia Prahl berichtet von ihren Erlebnissen beim Berliner Forever-Now-Festival, wo man als Besucher Yogamatten zu improvisierter Musik klatschen lassen und dann so lange meditieren kann, "bis sich das nicht zusammengehörend Erscheinende von Esoterik und Realität gut ineinander [fügt]".

Besprochen werden das Debüt von Schnipo Schranke (Jungle World), ein Konzert von Linkin Park an der Alten Försterei in Köpenick beim 1. FC Union Berlin (Welt, Berliner Zeitung), das Debüt "Company" von Will Archer ("fantastisch gelungen", jubelt Ji-Hun Kim auf Das Filter), das Soundcloud-Album von Miley Cyrus (Pitchfork), das neue Album vom Fetten Brot (FAZ), ein Konzert des Schlagzeugers Martin Grubinger (FR) und Sidos neues Album VI" ("es erreicht auf der Naidoo-Skala für deutschen Christenpop - von drei wie Dreifaltigkeit, bis sieben wie Vollkommenheit - eine glatte sechs", urteilt Julia Friese in der Welt).
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Architektur


Grimmwelt, Wand mit Tellern. Foto Soremski

Nach langen Auseinandersetzungen hat in Kassel die Grimmwelt eröffnet. Für die FR hat Christian Thomas das Gebäude besucht und war überrascht: Es ist weder verschroben gediegen noch klassizistisch. "Von nun an sind Exponate und Installationen, Screen oder das gute alte Buch eingehaust worden hinter einer modernen Fassade. Es ist keine von knuspriger Gestalt. ... Terrassenartig ist das Gelände des Weinbergs geformt, treppenartig fügt sich darin ein das Museum mit seiner köstlichen Travertinfassade. Dahinter, in einem Aufgang, wird auf den Stufen geschrieben stehen: treppe und trappa, tropp und drapp, drabka und drabina. Auch die Treppe findet ein Bild dafür, dass die Brüder Grimm einem ungeheuren Reichtum an etymologischen Varianten entschieden nachgingen."

In der Welt warnt Uwe Schmitt vorsorglich: "Sollten sich chinesische Reisegruppen in die "Grimmwelt" zu Kassel verirren, die Frösche küssen, an Zöpfen Türme erklimmen und Rotkäppchen aus dem Wolfsbauch befreien wollen, wird große Ratlosigkeit ausbrechen. Nichts liegt der Ausstellung ferner als der disneyeske Selfie-Aktivismus Orlandos. Es sollen die Grimms in Kassel wohl gehört, gefühlt, gesehen werden; aber tief, nicht flach, ruhig denkend, nicht kreischend selbstvergessen. Deutsch, mit anderen Worten, in einer Welt, nicht Out of this World. Das ist gut so."
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Literatur

Joseph Wälzholz besucht für die Literarische Welt den heute 98-jährigen Übersetzer Juri Elperin in seiner Wohnung in Berlin Charlottenburg. Elperin erzählt ihm von seinem höchst bewegten Leben in der Sowjetunion und seinen Begegnungen mit den großen russischen Autoren: "Richtig angriffslustig wird er, wenn es im Gespräch um Übersetzungskritik geht. In Peredelkino lernt Elperin Boris Pasternak kennen und begleitet ihn des Öfteren auf Spaziergängen. Man habe Pasternak geradezu am Arm rütteln müssen, wenn man ihm auf der Straße begegnet sei und mit ihm habe sprechen wollen: Pasternak schaute da eigentlich immer in die Luft, das heißt, er war so höflich, niemanden in die Verlegenheit zu bringen, ihn, Pasternak, die Persona non grata, grüßen zu müssen."

Weitere Artikel: Auf ZeitOnline amüsiert sich Christoph Schröder über aktuelle Buchbetitelungsmoden. Patrick Bahners besucht für die FAZ die öffentlichkeitsscheue Schriftstellerin Anne Tyler, die ihre Einfälle für neue Romane in einer blauen Schachtel hinterlegt, selbst wenn diese schwarzweiß ist. Im FAZ-Kurzgespräch verkündet der Schriftsteller Douglas Preston gegenüber Felicitas von Lovenberg, dass mal wieder mindestens ein Weltuntergang aus dem Internet droht: "Amazon ist dabei, den freien Ideenfluss in unserer Demokratie zu beschränken."

Besprochen werden u.a. Andrei Mihailescus Debütroman "Guter Mann im Mittelfeld" (NZZ), Jonathan Franzens "Unschuld" (Welt), Rafik Schamis "Sophia oder Der Anfang aller Geschichten" (FR), Clemens J. Setz" "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" (taz, SZ) und Kazuo Ishiguros "Der begrabene Riese" (FAZ).
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Bühne


Foto © Candy Welz

Na, Tabubruch geht anders, meint in der Welt Barbara Möller, die sich beim Rimini-Protokoll-Abend "Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2" in Weimar eher gelangweilt hat: "Zwei Stunden mäandert das Pro und Contra dahin. Den machtvollsten Augenblick erfährt dieser Theaterabend, wenn sich Alon Kraus zu voller Größe erhebt und die ersten Sätze aus "Mein Kampf" auf Hebräisch vorträgt: "Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, dass das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies ..." Im Übrigen ist diese Collage aus persönlichen Erinnerungen, Einspielern - Eichmann in Jerusalem, Knesset-Debatte über die von israelischen Historikern verlangte Übersetzung ins Hebräische - und Auszugslesungen vor allem politisch korrekt. Routiniert wie alles, was Helgard Haug und Daniel Wetzel seit Jahren machen."

Jens Bisky fehlte zwar die Spannung, doch sah er immer "große geschichtspolitische Intelligenz" am Werk, schreibt er in der SZ: "Der Nazi-Dreck wird als Material, Quelle, Überbleibsel behandelt, nicht rückblickend auratisiert und mystifiziert, wie das in Filmen und Fernsehdokumentationen immer wieder gewinnbringend geschieht. Tazlerin Katrin Bettina Müller findet den Abend als "kollektive Theaterlektüre sinnvoll, aber auch steif und sperrig": Eine "Anstrengung - aber eine angemessene." FAZler Hubert Spiegel erlebte einen weitgehend "hölzernen" Abend, der ihn nostalgisch an Taboris Farce "Mein Kampf" aus dem Jahr 1987 denken lässt. Christian Eger bescheinigt dem Projekt in der Berliner Zeitung, " ein gut recherchiertes Sozial-Feature, sozusagen ein szenisches Hörspiel mit sichtbaren Menschen" zu sein. In der nachtkritik lobt Frauke Adrians den Abend als "skurril, hintersinnig, detailverliebt".

"Nein. Einfach nein", empört sich Simon Strauss in der FAZ nach dem Besuch eines Projekttags am Deutschen Theater Berlin, wo sich eine Handvoll Regisseure unter der Überschrift "Götter - Ein Abend über Glaubensfragen" mit Lessings Ringparabel befassten: "Man kann doch nicht ernsthaft einen Abend zu einem der brennendsten, gefährlichsten Themen dieser Tage veranstalten, und dann fällt einem nicht mehr dazu ein als eine Quizshow und ein bisschen spirituelles Speeddating." Auch Wolfgang Behrens von der Nachtkritik stößt sich an der "Häppchen-Mentalität" der Veranstaltung, selbst wenn "die größte Zumutung", aber "damit vielleicht auch der interessanteste Teil des Abends" bereits nach 20 Minuten überstanden ist.
Archiv: Bühne

Film

In seinen Interviews zur "Königin der Wüste", die diese Woche anläuft (unsere Kritik hier), zeigt sich Werner Herzog so erfreulich unbescheiden wie eh und je. Gegenüber Patrick Heidmann (FR) äußert er sich über seine Zusammenarbeit mit Hollywoodstars, die bei ihm angeblich Schlange stehen: Nicole Kidman "wäre mir überallhin gefolgt. Vorausgesetzt natürlich, dass das Team und ich die gleichen Bedingungen gehabt hätten. Deswegen hat sie sich mit den Dromedaren auch in einen Sandsturm schicken lassen: weil wir alle mitgegangen sind - und jeder von uns wusste, dass das so vor uns noch niemand gemacht hat." Und für das in Hollywood grassierende Wehklagen hat er auch wenig übrig, wie wir seinem Gespräch mit Matthias Hopf auf Moviepilot entnehmen können: "Ich bin der Einzige, glaube ich, der nicht dieser Kultur der Wehleidigkeit angehört. In der Filmbranche gibt es, glaube ich, keinen, der mit relativ kleinem Budget so große Sachen auf die Leinwand bringt. "Fitzcarraldo" zum Beispiel ist ein großer Film, der mit fast keinem Geld hergestellt wurde."
 
Vom Filmfest Venedig: Cristina Nord erklärt in der taz, was geschieht, wenn die für Netflix entstandene Kiew-Doku "Winter on Fire", die restaurierte Fassung von Sergei Eisensteins "Alexander Newski" und Sokurows "Francofonia" einander die Türklinke in die Hand gebe. Im Tagesspiegel bringt Christiane Peitz ihre Festivalnotizen, unter anderem sah sie in "Black Mass" Johnny Depp mit "lächerlicher Halbglatze", was aber immerhin für "klassisches Genrekino" gut war. Für die Berliner Zeitung berichtet Frank Olbert. Und in der SZ schwärmt Thomas Steinfeld von Alexander Sokurows Essay über den Louvre, "Francofonia": "Selbstverständlich ist das gebildetes Kino, aber die Bildung hat hier einen besonderen Sinn: Denn es gibt sie nicht ohne das Bewusstsein von Vergeblichkeit."

Weitere Artikel: Für das Buch Zwei der SZ ist Tobias Kniebe zu den unverschämt erfolgreichen Pixar-Studios in die USA gereist. Und Michael Hanfeld hat für die FAZ Dieter Hallervorden besucht, der heute 80 Jahre alt wird.
Archiv: Film