Efeu - Die Kulturrundschau

Wehe Salonschönheit

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03.06.2023. Die FAZ fragt sich mit der amerikanischen Autorin R.F. Kuang, wie kreative Freiheit und Ideologie zusammenpassen. In der Welt denkt der 101-jährige Georg Stefan Troller ganz wunderbar über die Liebe nach. Der Filmdienst widmet dem zeitgenössischen Kino Argentiniens einen Essay. Monopol bewundert bildschöne Synthesen aus Pflanzen und Maschinen beim New Now Festival für Digitalkunst in Essen. Die Filmkritiker trauern um die Schauspielerin Margit Carstensen, deren sibyllinisches Lächeln sie vermissen werden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.06.2023 finden Sie hier

Literatur

Susanne Klingenstein porträtiert in "Bilder und Zeiten" der FAZ die amerikanische Fantasyautorin R.F. Kuang, die in ihrem satirischen Roman "Yellowface" (hier die Rezension der New York Times) ihre Probleme damit verarbeitet, dass die Buchbranche sie über die "divers"-Schiene vermarktet: Der Roman "ist eine phantasievolle, wilde, sprachlich rohe Anklage gegen die ideologischen Zwänge, in die sich die amerikanische Kultur manövriert hat, und gegen die heuchlerische ökonomische Ausbeutung der Antirassismuswelle, deren Darstellung Kuang leider auf das Verlagswesen beschränkt. Es ist der Autorin natürlich klar (das sagte sie schon in der Tolkien Lecture), dass sie selbst von ihrer Vermarktung als 'divers' profitiert. Kein Mensch würde diese Möglichkeit ausschlagen. Bedauerlich ist, dass sie einerseits kreative Freiheit für sich fordert und andererseits, wie sie [bei einer Buchpräsentation] sagt, stets mitreflektiere, wie zwei 'people of color' im Verlag auf ihren Text reagieren würden."

In einem Interview mit der Literarischen Welt denkt der mittlerweile 101-jährige Georg Stefan Troller über zwei Zeitungsseiten hinweg über das Wesen und die Kulturgeschichte der Liebe nach: "Ich glaube, die ideale Ehe wäre die, in der man das genaue Gegenteil voneinander findet und gleichzeitig totale Übereinstimmung. Gibt es so etwas auf der Welt? Hat man das Recht, das zu verlangen? Verdient man so etwas? Oder wäre das Zufall? Ich weiß es nicht. Man wird als Halbwüchsiger auf die Liebe eingestimmt als etwas, das man erwarten darf und das zu geben Pflicht ist. Das bringt das Ganze schon in eine schwere Konfliktsituation. Liebe ich wirklich? Ich habe mich das immer gefragt. Ist das nun die richtige, echte, wahre Liebe, wie man sie eben in der romantischen Literatur oder Musik vorgeführt bekommt?"

In Frankreich witzelt man über eine wenige Zeilen zählende Sexzsene im neuen Roman von Bruno Le Maire, der im Brotjob Frankreichs Wirtschafts- und Finanzminister ist - dabei ist sie auch "nicht wilder ist als andere", schreibt Marc Zitzmann in der FAZ. "Eine legitimere Polemik betraf den Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans. Frankreich steckt in einer durch die jüngste Rentenreform ausgelösten Sozialkrise, die Staatsschuld hat unlängst die Marke der drei Billionen Euro überschritten. ... Darf ein Minister überhaupt schriftstellerisch tätig sein? Le Maire ist seit sechs Jahren im Amt und hat in dieser Zeit ebenso viele Bücher veröffentlicht - sollte nicht seine ganze Arbeitskraft im Dienste des Staates stehen?"

Außerdem: Die Schriftstellerin Christina Maria Landerl denkt in der "10 nach 8"-Reihe auf ZeitOnline über Obdachlosigkeit in Buenos Aires und ihr eigenes Gefühl der Heimatlosigkeit nach. Nina Apin erzählt in der taz von ihrem Spaziergang mit dem Schriftsteller Till Raether, der gerade mit "Die Architektin" einen neuen Roman veröffentlicht hat. Johanna Adorján spricht für die SZ mit Arun Schaechter Viswanath, der die "Harry Potter"-Romane ins Jiddische übertragen hat. FR-Kritiker Christian Thomas stellt sich Bernhard Sterns "Fürst Wladimirs Tafelrunde" aus dem Jahr 1892 in seine ukrainische Bibliothek. Im Standard erinnert sich Karl Fluch an seine Kafka-Lektüren. Die FAZ dokumentiert Nico Bleutges Rede zum Auftakt der Lyriktage Frankfurt.

Besprochen werden Katharina Mevissens "Mutters Stimmbruch" (taz), Anne Berests "Die Postkarte" (FR, SZ), Katharina Peters Debüt "Erzählung vom Schweigen" (FAZ) und J.M. Coetzees "Der Pole" (Literarische Welt).
Archiv: Literatur

Kunst

Sabrina Ratté: Inflorescences (2023). Foto © Dirk Rose / Stiftung Zollverein


Endlich guckt auch mal jemand optimistisch in die Zukunft, freut sich Jörg Restorff, der bei monopol über das New Now Festival für Digitalkunst in der Essener Zeche Zollverein berichtet. Natur und Technik werden hier nicht als Gegensätze oder Bedrohung gedacht, sondern als zwei Seiten einer Medaille. Typisch für die Ausstellung, so Restorff, "sind Installationen, die um das Leitmotiv Pflanze kreisen. Was Sinn macht, wenn man sich vor Augen führt, dass Kohle über einen Zeitraum von Jahrmillionen aus abgestorbenen Pflanzen entstanden ist. So basiert Sabrina Rattés Arbeit 'Inflorescences' zwar auf Elektroschrott aus dem Ruhrgebiet - Scans der Geräte hat die kanadische Künstlerin zum Ausgangspunkt ihrer Videos und Skulpturen gemacht. Doch geht der Technikmüll mit Phantasiegebilden, die an Pflanzen oder Pilze erinnern, eine bildschöne Synthese ein. Bei 'Neophyte - an industrial opera of plants and pioneers', dem Beitrag von Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten, spielen sogenannte Pionierpflanzen die erste Geige. Im Gepäck von Rohstoffen aus aller Welt wanderten die Samen dieser Pflanzen einst in Essen ein und eroberten das Zollverein-Areal. In seiner Multimedia-Oper, deren Gesang durch KI kreiert wurde, vergleicht das Künstlerduo diese vegetative Besiedelung mit der Migration von Menschen."

Durar Bacri, Cactus on the roof, 2021


Kommenden Donnerstag wird im Berliner Haus am Lützowplatz "Who by Fire" eröffnet - eine Ausstellung israelischer Künstler, die in Israel offenbar keine Chance auf Finanzierung mehr hätte. Dabei ist sie wichtig, versichert Boris Pofalla in der Welt. "Extrem ist die Ausstellung nicht. Die Kunstwerke sind direkt und oft privat, aber eher symbolisch als agitativ. Ein Gemälde des in Tel Aviv lebenden, arabischisraelischen Malers Durar Bacri zeigt eine Kaktusfeige vor der Skyline von Tel Aviv. Die Feige, lernen wir, steht symbolisch für die vertriebenen Araber und Araberinnern Israels, aber auch für die neuen Bürger, die in Israel geboren wurden, nachdem ihre jüdischen Eltern dorthin eingewandert waren. Ein doppeldeutiges Bild." Und eben deshalb findet Pofalla die Ausstellung wichtig: "Sie lässt sich keiner Seite eindeutig zurechnen, stellt Perspektiven aus dem Land selbst vor, nicht die Projektion von außen."

Außerdem: Sebastian Frenzel begutachtet für monopol das neue Haus der Kulturen der Welt, das Intendant Bonaventure Soh Bejeng Ndikung vom Team bis zur Außenanlage komplett umgebaut hat und dieses Wochenende eröffnet: "Glich die typische Besucherphysiognomie früherer HKW-Ausstellungen einer Laterne - tiefgebeugt über mit Theorie und historischen Abhandlungen gefüllten Glasvitrinen - bitten im neuen HKW schwungvolle Bodenzeichnungen zum Tanz, schwirren Papierdrachen von der Decke." In der taz freut sich Julia Hubernagel schon darauf, im HKW "postkoloniale Machtverhältnisse in den Blick" zunehmen. Und der chilenischen Künstler Bernardo Oyarzún spricht im taz-Interview über seine Installation "El Medán" über die Kultur der Mapuche.

Besprochen werden noch Cindy Shermans Ausstellung "Anti-Fashion" in der Staatsgalerie Stuttgart (SZ), eine Ausstellung mit Schätzen aus Usbekistan im Neuen Museum Berlin (Tsp) und zwei Wiener Ausstellungen von Elisabeth Wild und ihrer Tochter Vivian Suter im Mumok und in der Secession (FAZ).
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Bühne

Besprochen werden Tilo Nests "mitreißende" Adaption von Anthony Burgess' Roman "Clockwork Orange" am Berliner Ensemble, mit Maeve Metelka in der Rolle des vergewaltigenden und mordenden Alex ("zeitlos gut", schwärmt in der FR Marc Hairapetian, der sich für seinen Artikel mit Nest, Kubricks Nachlassverwalter Jan Harlan und dem Film-Alex Malcolm McDowell unterhalten hat), Milo Raus Inszenierung von "Antigone in the Amazon" im Frankfurter Mousonturm (FR) und die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos neuer Oper "Venere e Adone" in Hamburg (FAZ-Kritiker Jürgen Kesting hört ein "glänzend vorbereitetes Orchester unter Kent Nagano, das "feinste Klanggespinste" produziert, "bei denen selbst Anblasgeräusche einen Eigenwert bekommen".
Archiv: Bühne
Stichwörter: Berliner Ensemble, Rau, Milo

Film



Margit Carstensen ist tot. In den Siebzigern zählte sie zu den wichtigsten und präsentesten Schauspielerinnen aus der Fassbinder-Family. Unvergessen sind ihre Performances in "Martha" und "Die bitteren Tränen der Petra von Kant", später arbeitete sie auch für Christoph Schlingensief in prägnanten Rollen. Unter den Fassbinder-Schauspielerinnen war sie "die mit der aristokratischsten, ladyhaftesten Ausstrahlung und mit dem sibyllinischsten Lächeln", schreibt Christine Dössel in der SZ. Carstensen hatte "eine zittrige Nervosität" und "die Ausstrahlung einer wehen Salonschönheit. Für Rainer Werner Fassbinders Melodramen und extrakünstliche Ästhetik brachte sie eine kongeniale Aura mit. Die von ihm verlangte Künstlichkeit konnte sie bis ins Puppenhafte treiben, wobei sie stets geheimnisvoll wirkte, unergründlich noch in der devotesten Rolle." In der Welt blickt Hanns-Georg Rodek auf die mitunter von starken Konflikten geprägte Zusammenarbeit zwischen Fassbinder und Carstensen.

In einem Filmdienst-Essay befasst sich Patrick Holzapfel anlässlich des Kinostars von Laura Citarellas "Trenque Lauquen" (unser Resümee) mit dem zeitgenössischen Kino Argentiniens, das "reich, wundersam und eigenwillig daherkommt." Man könne "getrost sagen, dass die Kinematografie dieser von Geschichte und ökonomischen Wirklichkeiten geschundenen Nation den eingeschlafenen Möglichkeiten fiktionalen Erzählens mannigfach Wege aufzeigt, die es lohnt, weiter zu verfolgen." Insbesondere die Produktionsfirma El Pampero Cine tritt hier hervor: Unter anderem "Mariano Llinás, Alejo Moguillansky oder Laura Citarella erproben dort seit 2002 ein gleichermaßen auf Innovation und Tradition schielendes Kino, das sich nicht nur inhaltlich und formal, sondern auch in Bezug auf Produktionsmechanismen von industriellen Vorgehensweisen abhebt. Unabhängigkeit wird zur Essenz filmischer Arbeit erklärt, Freiheit bleibt als sich formal übertragendes Gefühl dieser Unabhängigkeit."

Besprochen werden Axel Ranischs "Orphea in Love" (ZeitOnline, unsere Kritik hier), die BluRay-Ausgabe von Sogo Ishiis "Crazy Thunder Road" aus dem Jahr 1980 ("eine lustvoll gestaltete Fratze eines seriösen Films", schwärmt Robert Wagner auf critic.de) und der neue "Spider-Man"-Animationsfilm (Standard, mehr dazu bereits hier).
Archiv: Film

Musik

Nach Recherchen von SZ und NDR (hier auf tagesschau.de gebündelt) soll Rammstein-Sänger Till Lindemann angeblich systematisch junge weibliche Fans für die allererste Reihe bei Konzerten casten und diese sich bei Aftershow-Partys zuführen lassen, wo es dann - die Protokolle der interviewten Frauen weichen teils sehr voneinander ab, auch veröffentlichte die NZZ Stimmen von Frauen mit gegenteiligen Eindrücken - auch zu Übergriffen gekommen sein soll. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch, bei dem vor einigen Jahren Lindemanns Lyrik erschienen ist, hat sich daraufhin von seinem Autor getrennt, wie die Agenturen melden - auch, weil der Verlag Kenntnis davon erlangt hat, dass Lindemann bereits vor drei Jahren einen Porno-Videoclip gedreht hat, in dem er Frauen wüst malträtiert. "Es war bisher überraschend still um MeToo in der Rock- und Popmusik", kommentiert Tobias Rüther in der FAS: Übergriffe wurden bislang eher im Zusammenhang mit schwarzen Musikern skandalisiert, wohingegen weißen Rock-Acts Groupie-Exzesse eher nachgesehen werden. "In dem Raum, der sich zwischen einem Star und seinen Fans ergibt, herrschen eigene Gesetze der Anziehungskraft. Aber die Selbstbestimmung ist hier nicht außer Kraft gesetzt. ...  Es ist höchste Zeit, sich die komplizierte Geschichte der Groupies genauer anzuschauen - und damit aufzuhören, Frauen zu Opfern der eigenen Freizügigkeit zu erklären. Es ist höchste Zeit für MeToo im Rock." Standard und Tagesspiegel fassen ebenfalls die SZ/NDR-Recherchen sowie Reaktionen darauf zusammen.

Außerdem: Andreas Schnell plauscht für die taz mit dem auf Platt singenden Sänger Helmut Debus. In "Bilder und Zeiten" der FAZ resümiert Andreas Platthaus das Wavegotik-Treffen in Leipzig.

Besprochen werden Matthew Herberts mit dem London Symphony Orchestra eingespieltes Kunst-Album "The Horse" (taz), ein von Daniel Barenboim dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker (Tsp), das Foo-Fighters-Album "But Here We Are" (Standard), Jens Balzers Buch "No Limit" über die Popkultur der Neunzigerjahre (Literarische Welt) und das Countryalbum "Weathervanes" von Jason Isbell and the 400 Unit (ZeitOnline).
Archiv: Musik