Efeu - Die Kulturrundschau

Ein relativ unbestreitbares Sexismus-Problem

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.06.2023. Die Feuilletons stehen fassungslos vor dem Abgrund, der sich mit Rammsteins Ausbeutungsystem vor ihnen auftut. Die Welt fragt, warum Till Lindemanns Vergewaltigungsfantasien so lange mit dem lyrischen Ich verharmlost werden konnten. Der taz war das Spektakel um die Band eh nie geheuer. Die SZ lässt sich derweil von Bonaventure Ndikung in den Bann des Pluriversums schlagen. Die FAZ fragt nach Kyle Abrahams Choreografie "Mixed Repertoire", warum der moderne Tanz jemals Körper nach Geschlechtern trennte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.06.2023 finden Sie hier

Musik

Mit den Vorwürfen gegen Till Lindemann tun sich Abgründe auf. Mehrere Fans werfen dem Rammstein-Sänger Übergriffigkeiten und sexuelle Ausbeutung vor. Recherchen von SZ und NDR zeichnen das Bild eines professionellen Zuführungssystems, bei dem Fans mit einschlägigen Absichten auf Social Media rekrutiert und gecastet werden. Lindemanns Verlag KiWi, wo vor wenigen Jahren seine Porno- und Vergewaltigungsgedichte erschienen sind, hat sich unterdessen von ihm getrennt - insbesondere auch, weil Lindemann sich in einem Gewaltporno inszenierte und dabei auch sein bei KiWi veröffentlichtes Buch von einem Dildo penetrieren ließ. Die Band lehnt in einem Statement ihre "Vorverurteilung" ab. Jakob Biazza ist in der SZ entsetzt, dass es Jahre nach MeToo offenbar noch immer solche Rekrutierungssysteme gibt: "Wie kann es sein, dass es all dies noch immer gibt und eine Menge Leute davon gewusst haben müssen und schwiegen? ... Der Metal, der Rock, der Rap, im Grunde die meisten der Genres, die unter den sehr weiten Begriff der populären Musik fallen, haben ein relativ unbestreitbares Sexismus-Problem."

Ist dies "das Ende des Dumpfbacken-Spektakels", fragt sich Julian Weber im taz-Kommentar mit Blick auf die Grenzen austestende Rammstein-Ästhetik: "Aus der Ferne winkt Punk als Kläranlage von Machismo. Frech haben Rammstein die Vorzeichen umgedreht und kreuzen toxische Maskulinität mit Punkdrastik." Doch "Punk war die Absage an Machotum, Frauen konnten sich dabei ebenso von Rollenbildern lösen. Anders als in der Exploitationshölle von Rammstein." Lange hatte man Lindemanns Texte und Inszenierungen unter dem Begriff des lyrischen Ichs in Schutz genommen, schreibt Michael Pilz in der Welt. Doch nun werde "die Schicht aus jenem Ich und einer eisenharten Ironie, durch die Till Lindemann und Rammstein 30 Jahren lang geschützt waren, durchlässig und wirkungslos, auch wenn sich vielleicht nichts beweisen lassen wird."

Jürgen Kaube lässt in der FAZ keinen Zweifel daran, dass er Lindemanns angebliches Verhalten - so sich die Vorwürfe als wahr entpuppten - und dessen Gewaltporno schlicht widerwärtig findet. Justiziabel würde dies alles aber erst, wenn Lindemann tatsächlich KO-Tropfen verwendet hat, um Frauen gefügig zu machen. Bislang sei die Lage unklar, daher werde auch von Machtmissbrauch gesprochen, um aufs moralische Argument zu zielen - nur welche Macht sollte Lindemann ausgenutzt haben? Stellen hat er ja keine zu besetzen. Hier werde die Argumentation "wolkig", meint Kaube, schließlich signalisiere Lindemanns Selbsinszenierung glaubhaft "Gefahr: "Die Mädchen sind insofern nicht überrumpelt worden, es sei denn von ihrer eigenen Naivität."

Ueli Bernays von der NZZ sieht hingegen zwischen dem 60-jährigen Lindemann und seinen jungen Fans, von denen einige "offenbar im Teenageralter" sind, ein "Verhältnis von äußerster Ungleichheit" vorliegen. "Kunst bleibt Kunst, solange sie sich auf Andeutung beschränkt und sich gegen die Banalität des Realen abgrenzt. Kippmomente waren bisher charakteristisch für Rammstein." Doch Lindemann hat "die Grenze der Kunst zur Realität gleich mehrfach überschritten. Er hat sexuelle Suggestionen ins Pornografische konkretisiert. Und er identifiziert sich nun offenbar mit der eigenen Kunstfigur, um im Tournee-Alltag jenes pornografische Skript zu verwirklichen, das er im Video vorgezeichnet oder allenfalls auch nachgeliefert hat." Und auch die Soziologin Nadia Shehadeh will die Band im Standard-Interview nicht so davonkommen lassen: "Dass es schwerfällt, sich vorzustellen, dass junge Menschen auf Konzerten in der ersten Reihe nicht sexualisierte Begegnungen, sondern eine gute Zeit erwarten, sollte zu denken geben."

Uwe Schütte liest für die taz im Lichte aktueller Ereignisse den 2022 erschienenen Rammstein-Reader, in dem eine Gruppe Akademiker der Rammstein-Ästhetik nicht so sehr auf den Grund, sondern nach Schüttes Ansicht vor allem auf den Leim gehen. Für ihn ein Fall "akademischer Verharmlosung", denn "nix Genaues weiß man nicht, wenn hier elf kluge Köpfe über den rechts kodierten 'Sound of Germany' nachdenken. Vielleicht auch eine Art intellektuelles Kollektivversagen."

-------------

Die Feuilletons trauern zudem um die finnische Komponistin Kaija Saariaho, die im Alter von 70 Jahren einem Tumor erlegen ist. Zu früh, viel zu früh findet Manuel Brug in der Welt. Ihr im August uraufgeführtes neues Werk "Hush" wird damit zum Vermächtnis: "Hush. Stille. Das ist auch ein schöner Begriff für die kostbaren, schillernden, eben oft auch um die Stille kreisenden Saariaho-Klänge." Seit ihrer Zeit am Centre Pompidou in den frühen Achtzigern charakterisieren diese "auch computergestützte Strukturen, Tonband und Live-Elektronik ihre trotzdem meist zauberhaft sphärischen Werke, die sie für große wie kleine Formationen, diverse Instrumente und Gelegenheiten vorrätig hatte. ... Diese zarte, feine rothaarige Frau die Menschen mit ihrer Musik verzaubert und verzückt. Weil sie eben nicht abstoßend wirkte, sich erst erarbeiten lassen wollte und musste, sondern bei aller Komplexität zugänglich und verstehbar war." Weitere Nachrufe schreiben Judith von Sternburg (FR) und Tomi Mäkelä (FAZ). Wir hören ihren "Lichtbogen" aus den Achtzigern:



Besprochen werden Bob Dylans Soundtrack zu seinem Konzertfilm "Shadow Kingdom" (BLZ) sowie Konzerte von Michael Wollny (FR), Herbert Grönemeyer (FR), Muse (Presse) und DJ Bobo (TA).
Archiv: Musik

Architektur

Im Tagesspiegel wünschte sich Nikolaus Bernau, Berlin würde in den internationalen Architekturdebatten wieder eine Rolle spielen. In der taz porträtieren Sophie Jung und Maxi Broeicking den nigerianischen Künstler und Kulturvermittler Demas Nwoko, der mit 87 jahren auf der Architekturbiennale von Venedig den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk erhielt (mehr hier).
Archiv: Architektur

Kunst

Großer Auftrieb im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Der neue Intendant Bonaventure Ndikung feierte seinen Einstand und die Eröffnung des "Pluriversums", in dem westliche und nicht-westliche, archaische und moderne Weltsichten und Lebenspraktiken "in Solidarität" miteinander existieren sollen, wie Jörg Häntzschel in der SZ berichtet: "Ndikung hat dafür Kuratoren aus der ganzen Welt geholt. Dass sie jetzt an einer staatlichen deutschen Institution arbeiten, ist so bereichernd für Berlin, wie es für diese selbst auch problematisch ist. Roth legte den Finger in die Wunde, als sie zu Ndikung, der längst einen deutschen Pass hat, sagt: 'Sie sind Teil einer Täternation geworden.' Ndikung will nicht nur über die Schrecken und Folgen des Kolonialismus reden, so wie am alten HKW darüber und über vieles mehr geredet wurde, er will die abgerissenen, zerstörten Traditionen hier, mitten in Berlin, wieder rekonstruieren, spielen mit ihnen, schauen, ob der Zauber auch hier wirkt."

Juan de Pareja (ca. 1608-1670), gemalt von Velázquez

Als "Wiederentdeckung des Jahres" feiert Benjamin Paul in der FAZ den afrohispanischen Maler Juan de Pareta, dem das New Yorker Metropolitan Museum eine große Ausstellung widmet. Bevor Pareja eigenständiger Künstler werden konnte, musste er als Sklaven dienen, und zwar niemand anderem als Diego Velazquez. Pareta war eine Ausnahmeerscheinung, betont Paul: "Das lag gewiss auch daran, dass er bei Velázquez eine veritable Ausbildung genossen haben muss, bevor er vier Jahre nach dem gemeinsamen Romaufenthalt freigelassen wurde. Erst danach scheint er eigenständige Werke geschaffen zu haben, die er dann auch selbstbewusst signierte. Der ihm sicher zugeschriebene Corpus umfasst gerade mal vierzehn Bilder, von denen immerhin fünf im Met versammelt sind, darunter auch mit der Berufung des Matthäus (1661) und der Taufe Christi (1667) seine Hauptwerke aus dem Prado. Bei diesen gigantischen Gemälden fällt besonders auf, dass Pareja sich stilistisch eben gerade nicht an Velázquez orientierte."

Weiteres: Willi Winkler schreibt in der SZ zum Tod der Kunstkritikerin Petra Kipphoff. Ebenfalls in der SZ empfiehlt Alexander Menden nachdrücklich die Schau "Die Befreiung der Form" der Bildhauerin Barbara Hepworth im Duisburger Lehmbruck-Museum.
Archiv: Kunst

Bühne

Kyle Abrahams" Mixed Repertoire". Foto: Christopher Duggan / Kampnagel

Alles Wichtige über schwarze Kultur und schwarze Geschichte sieht FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster von Kyle Abraham und seiner New Yorker Tanzkompanie A.I.M. verhandelt. Aber der Abend "Mixed Repertoire" auf Hamburgs Kampnagel öffnete ihr auch in anderer Hinsicht die Augen: "Zwei Mitglieder des ausschließlich schwarzen Ensembles definieren sich als non-binär, und auch darin ist dieser Tanz auf poetische und unideologische Weise politisch. Es wird nämlich deutlich, dass Abrahams Tänze, die im wechselseitigen künstlerischen Vertrauen mit den Tänzern entstehen, jeden ihrer Körper in seinem ganz eigenen, besonderen Körpergefühl tanzen lassen. Was noch lange auch im zeitgenössischen Tanz klar aufgeteilt war - hier die Männer, athletischer, größer, stärker, hilfreich haltend, hebend und tragend, und dort die Frauen, zarter, elegischer, schmaler, elfenhafter und anschmiegsamer -, das ist hier auf eine Weise individualisiert, die keine Fragen aufkommen lässt. Plötzlich ist klar: Diese Entwicklung ist nur folgerichtig und natürlich. Alle können so sein, wie sie möchten. Verblüffend, dass das je anders war im sogenannten modernen Tanz!"

Besprochen werden René Polleschs Spektakel "Mein Gott, Herr Pfarrer" mit Sophie Rois an der Berliner Volksbühne (das Nachtkritikerin Stephanie Drees als "Gaga-Komödie der Extraklasse" würdigt, SZ), das "Das Tove-Projekt" am Schauspiel Frankfurt (FR), Jette Steckels Inszenierung von Tschechows "Die Vaterlosen", auch als "Platonow" bekannt, an den Münchner Kammerspielen (SZ, Nachtkritik) und Aufführungen bei den Wiener Festwochen (Standard).
Archiv: Bühne

Literatur

Sergei Gerasimow setzt hier, dort und da in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Die seit vielen Jahren um die Welt reisende, australische Schriftstellerin Josephine Rowe denkt in der NZZ über ihr Ankommen in der Schweiz nach und ihre Heimatgefühle für Zürich nach. Die FAZ hat Nico Bleutges Rede zur Eröffnung der Lyriktage Frankfurt online nachgereicht.

Besprochen werden unter anderem Esther Kinskys "Weiter Sehen" (Jungle World), J. M. Coetzees "Der Pole" (FAZ, Welt), Saša Stanišics Kinderbuch "Wolf" (FR), Igorts Comic "Berichte aus der Ukraine - Tagebuch einer Invasion" (SZ) und neue Krimis, darunter Erin Flanagans preisgekröntes Debüt "Dunkelzeit" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Rüdiger Görner über Rainer Maria Rilkes "Das Einhorn":

"Der Heilige hob das Haupt, und das Gebet
fiel wie ein Helm zurück von seinem Haupte:
denn lautlos nahte sich das Niegeglaubte ..."
Archiv: Literatur

Film

"Mavka" ist der bislang erfolgreichste ukrainische Animationsfilm

Mitten im Krieg haben Oleg Malamuzh und Oleksandra Ruban mit "Mavka - Hüterin des Waldes" allen Widrigkeiten zum Trotz einen ukrainischen Animationsfilm fertiggestellt, berichtet Moritz Baumstieger in der SZ. Obendrein handelt der Film noch von einer Märchengeschichte, in der Waldbewohner sich gegen Eindringlinge wehren müssen. Der Film ist eine Adaption des Dramas "Das Waldlied" von der 1913 verstorbenen und heute als ukrainische Nationaldichterin angesehenen  Schriftstellerin Lesya Ukrainka. "Animierte Indoktrination zur Hebung des Nationalgefühls ist 'Mavka' dennoch nicht - sondern in erster Linie ein gut gemachtes Märchen", so Baumstieger. Es zeigt sich: "Die Filmszene regt sich wieder, der Staat, der eigentlich jeden Hrywnja für die Verteidigung braucht, hat die Filmförderung wieder aufgenommen. Dienst an der Kamera, auch weil die Bevölkerung Ablenkung und Zerstreuung braucht. ... Wie stark, das zeigte sich, als 'Mavka' im Februar zuerst in die Kinos der Ukraine kam: Obwohl viele von ihnen in den östlichen Landesteilen außer Funktion sind, spielte der Film gleich am ersten Wochenende mit 190 000 Zuschauern 24,9 Millionen Hrywnja ein (mehr als 600 000 Euro), ist mittlerweile der erfolgreichste in der Ukraine produzierte Animationsfilm."

Außerdem: Andreas Kilb schreibt in der FAZ zum Tod von Margit Carstensen (weitere Nachrufe bereits hier). Besprochen werden Laura Citarellas "Trenque Lauquen" (Jungle World, mehr dazu bereits hier) und Rob Savages Stephen-King-Verfilmung "The Boogeyman" (Standard).
Archiv: Film