Efeu - Die Kulturrundschau

Blumensträuße der Reifezeit

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09.06.2023. Die NZZ erliegt in Winterthur der bizarren Schönheit von Wimperntierchen in den Werken von Odilon Redon, die FAZ sieht sich mit Diane Arbus in Arles derweil in Nudistencamps und Altersheimen um. FAZ, SZ und Freitag versuchen die teils bizarren Kommentare zur Rammstein-Debatte einzuordnen. Die SZ schaut sich in der Berliner Akademie der Künste außerdem die Knusperhäuschen der Nazis an. Die taz hört japanischen Postpunk von Non Band und Saboten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.06.2023 finden Sie hier

Kunst

Odilon Redon: Jeune fille aux coquelicots, um 1905. © Kunst Museum Winterthur


"Redon erzählt nicht, sondern verrätselt. Er lässt Farben und Formen klingen, aber nach einer Melodie, die nie jemand gehört hat. Man hat ihn als Symbolisten bezeichnet - doch ist er es eigentlich? ", fragt sich Maria Becker in der NZZ beim Besuch der Odilon Redon-Ausstellung "Rêve et Réalité" im Winterthurer Museum Reinhart. Unter den Zeitgenossen blieb er ein Solitär, "ein Grenzgänger zwischen den Sphären", schreibt sie: "Wer nach Symbolen sucht bei Redon, wird enttäuscht. So zeichenhaft manche Gestaltungen scheinen - sie weisen nicht über sich selbst hinaus. Näher liegt der Mikrokosmos, den Redon von Clavauds Naturwissenschaft ableitet. Der Künstler erkennt darin die bizarre Schönheit von Wimperntierchen und anderen Zellstrukturen und lässt sie in freien Ornamenten neu erstehen. Seine Blumensträuße der Reifezeit sind analoge Phantasien zur Natur. In gewissem Sinn ist Redons Bildwelt den kunstvollen Quallen- und Seeigelformationen seines Zeitgenossen Ernst Haeckel verwandt."

Diane Arbus: A Box of Ten Photographs, 1970. Bild: Marc Domage

Auch die amerikanische Fotografin Diane Arbus faszinierte das Bizarre und Abseitige, wie Marc Zitzmann (FAZ) nicht erst in der umfassenden Ausstellung "Constellation" in der Fondation Luma in Arles feststellt: "So begeisterte sie sich für Krabbel- und Stabwirbel-Wettbewerbe, für Nudistencamps, Altersheime und Tanzlokale. Daneben fotografierte sie Menschen mit ihren Hunden als 'odd couples', Doppelgänger berühmter Zeitgenossen, Künstlerpartner, Zwillinge, Kleinwüchsige, Transvestiten, Oben-ohne-Tänzerinnen, nicht zu vergessen die geistig Behinderten, denen sie sich in ihren drei letzten Lebensjahren immer wieder widmete und die sie bisweilen in seltsamen Maskeraden zeigte. Der bis heute verbreiteten Auffassung, sie habe sich spezialisiert auf 'subjects perverse and queer', wie selbst ihr Bruder 1965 in seinen Memoiren schrieb, widersprach sie vehement. Es gehe ihr nicht darum, entgegnete sie, einen 'schmutzigen Katalog' zu erstellen. Vielmehr bemühe sie sich ja gerade darum, die Menschen nicht als Freaks zu zeigen, sondern als Individuen, deren Anderssein sie heraushebe, ja adele. "

Besprochen werden: Die Ausstellungen "Juan de Pareja, Afro-Hispanic Painter" im New Yorker Metropolitan Museum of Art (Welt), "Wall Works 1983-2023" von Bridget Riley in der Galerie Max Hetzler (Monopol), "Van Gogh in Auvers-sur-Oise: Die letzten Monate" im Amsterdamer Van-Gogh-Museum (SZ) und "Wasser Botschaften" im Hamburger Museum am Rothenbaum (taz).
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Musik

Die Diskussion um Rammstein-Sänger Till Lindemann geht weiter: Diese "Debatte um die Vorwürfe nimmt teils bizarre Züge an", findet Anna Vollmer in der FAZ mit Blick darauf, dass den jungen weiblichen Fans, die sich auf Backstage-Treffen einladen ließen, teils Naivität unterstellt wurde. Auch Özge İnan wechselt im Freitag-Kommentar auf die Meta-Ebene und sortiert die verschiedenen Meinungslager der männlichen Debattenteilnehmer - vor allem die "professionellen Drübersteher" findet sie schauderhaft. Die Annahme, dass in Kunst und Kultur sich nur hehre Menschen mit hohen ethischen Standards tummeln, ist so irrig wie seit Jahren obsolet, meint Nils Minkmar in der SZ und zeichnet ein Pandämonium bekannt gewordener Übergriffe der letzten Jahre: "Kunst und Kultur, das Showbusiness bieten perfekte Bedingungen, um Systeme zu errichten, in denen kriminelles Verhalten straffrei passieren kann. ... Dabei gibt es graduelle Abstufungen: Mancher erlaubt sich Wutanfälle, Launen, die Aura der Kunst und des Genies dienen als legitime Rechtfertigung."

Katrin Basaran (FR) und Julia Lorenz (ZeitOnline) berichten vom ersten von insgesamt vier Rammstein-Konzerten in München. Die geplanten Rammstein-Konzerte in Bern sollten abgesagt werden, findet Andreas Tobler im Tages-Anzeiger. Lindemann selbst lässt derweil via seine Anwälte verlauten, dass die "Vorwürfe ausnahmslos unwahr" seien, wie die Agenturen melden.

Themenwechsel: In der taz freut sich Gregor Kessler wie einige Wiederveröffentlichungen von Non Band und Saboten die Rolle von Frauen in der Geschichte des japanischen Post-Punks nun auch im Westen allmählich begreiflich machen. "Weit abgeschieden von den Blicken der Welt haben sich Künstler:Innen westliche Subkultur im Fernen Osten angeeignet und weiterverarbeitetet." Im Fall von Saboten etwa entstand "eine erfrischend undogmatische Form von Pop. In einer offenen Produktion laufen zarte Bass- und Gitarrenmelodielinien neben- und gegeneinander. Es gibt weder eine Leadgitarre noch Akkorde. Jedes Instrument sucht sich seinen eigenen Weg. ... Manche Hooklines von Saboten erinnern an den extrem reduzierten Minimalpop des walisischen Trios Young Marble Giants, anderes an die unbeschwerte Abenteuerlust der Raincoats. Dann taucht unvermittelt eine Surf-Adaption auf, gefolgt von Space-Age-Synthiepop. Ein absolut eigenständiger Musikmix  wie ein Abenteuerspielplatz."



Außerdem: Max Dax plaudert für die FR mit Vincent Mason von De La Soul. Julia Friese spricht für ZeitOnline mit Christine and the Queens unter anderem über die Verehrung von Prince. Für den Tagesspiegel blickt Frederik Hanssen auf die Pläne des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin für die Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Jazzpianisten Kenny Barron zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Ulrich Gutmairs "Wir sind die Türken von morgen" über die Punk-Ursprünge der Neuen Deutschen Welle um 1980 (Jungle World), ein Auftritt von Peter Fox (FR), das Album "Pancakes" des georgischen Elektro-Produzenten Gacha Bakradze (taz) und Bob Dylans "Shadow Kingdom" (FR). Wir hören rein:

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Literatur

Zu Beginn des Berliner Poesiefestivals dokumentiert der Tagesspiegel einen Essay des aus der Ukraine stammenden, seit 1999 in Deutschland lebenden Dichters Yevgeniy Breyger über lyrische Sprache im Krieg. "Wo der Krieg einen angeht, da verlässt der Gedankengang nach dem Inneren und Äußeren im Schreiben seine logische Beweisführung. Immanenz. Transzendenz. Man muss sie sich leistn können. Wie kann man schreiben im Krieg? Wie kann man denken und sein im Krieg? Im Krieg? Und sitzn in Sicherheit. Halyna Kruk hält am siebzehnten Juni 22 die Rede zur Eröffnung des dreiundzwanzgstn poesiefestivals und sagt sinngemäß - was meine Erinnrung mir lässt - An der Front werden sie sich keine Gedichte leisten können, in der Ukraine werden sie keine guten zum Krieg schreiben können, irgendwo im Westen wird sitzen Dichter:in, die's toll beschreibt bildhaft weil aus Ferne, Distanz. Aber die will ich doch sicher nicht sein - mir schaudert."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Besprochen werden unter anderem Tove Ditlevsens Erzählungsband "Böses Glück" (taz), Toni Morrisons "Rezitativ" (FAZ), eine Ausstellung im Straßburger Musée Tomi Ungerer zu Ehren der französischen Comiczeichnerin Catherine Meurisse (FAZ), Edmund Edels "Der Snob" (Tsp), das von Gabriele Radecke, Peer Trilcke und anderen herausgegebene "Theodor Fontane Handbuch" (Welt), Bodo Hells "Begabte Bäume" (NZZ), Paul Brodowskys "Väter" (SZ) und neue Sachbücher, darunter Alexandra Przyrembels "'Im Bann des Bösen'. Ilse Koch - ein Kapitel deutscherGesellschaftsgeschichte 1933-1970" (FAZ).
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Bühne

"Abteilung Leben" am Theater Basel. © Ingo Höhn.

Büromief auf der Bühne - was langweilig klingen mag, wird für Simon Strauß (FAZ) in Christoph Marthalers Inszenierung "Abteilung Leben" am Theater Basel trotz leichter Längen ein anregender und atmosphärisch dichter Abend, wie er es von dem Schweizer Regisseur gewohnt ist, nicht zuletzt dadurch, dass er die Aufführung in ein altes Birsfeldener Gemeindeamt verlegt: "Die ausgesonderte Amtsstube bietet an sich schon eine wehmütig-verblichene Atmosphäre, die von Bühnenbildner Duri Bischoff noch unterstrichen wird: In einem der Zimmer scheint eben erst eine Weihnachtsfeier zu Ende gegangen zu sein, Lampions, Girlanden, Sektflaschen zeugen als traurige Überreste von einer gezwungenen Gemütlichkeit. Andernorts reinigt sich eine Kaffeemaschine alle fünf Minuten selbst und unterbricht damit den gelangweilten Redefluss einer Vorzimmerdame. Über Lautsprecher wird die aktuelle Höhe der Bestechungssumme für Baugenehmigungen durchgegeben - ganz ohne sozialkritische Spitze soll auch diese Inspektion nicht vonstattengehen."

Außerdem: Dem Frankfurter English Theatre, das größte seiner Art im kontinentalen Europa, droht eine Räumungsklage der Commerzbank, meldet die FR. Besprochen werden: Die Inszenierungen "Onkel Wanja" von Tomi Janežič und "La Obra" von Mario Pensotti (FAZ), "Song of the Shank" von George Lewis, "Contes et légendes" von Joel Pommerat und "Extinction" von Julien Gosselin (alle drei Standard), die bei den Wiener Festwochen aufgeführt werden.
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Film

Filmemachen als therapeutischer Akt: Lina Lužytės "Picknick in Moria"

Lina Lužytės Dokumentarfilm "Picknick in Moria" zeige "einmal mehr die widerwärtige, entmenschlichende Art, auf die mit Geflüchteten und Migranten auf diesem Kontinent umgegangen wird", schreibt Philipp Stadelmaier in der SZ. Der Film begleitet den afghanischen Filmemacher Talibshah Hosini und dessen Familie, die im Lager Moria unter widrigen Bedingungen ein Asylgesuch zu stellen versuchen. Doch "erschöpft sich der Film nicht im mitleidigen Blick der europäischen Filmemacherin auf die Geflüchteten, sondern diese erzählen von sich aus ihr Leben, machen ihre eigenen Bilder. Lužytė filmt Hosini, wie dieser versucht, einen Film zu machen, mit Hilfe seines Kameramannes, eines iranischen Kurden. ... Die Zufälle des Wirklichen, die den Zauber des Kinos ausmachen, haben keinen Platz bei ihm. Aber wie könnten sie auch. Für Hosini geht es darum, Kontrolle zurückzugewinnen. Das Filmemachen wird zum therapeutischen Akt inmitten totaler Machtlosigkeit."

Weitere Artikel: In der Welt porträtiert Elmar Krekeler die aus der Ukraine stammende Schauspielerin Janina Elkin, die in der ARD-Komödie "Sayonara Loreley" eine Frau aus dem Donbass spielt. Besprochen werden Mario Martones "Nostalgia" (FAZ), eine DVD-Ausgabe von Ingemo Engströms "Fluchtweg nach Marseille" aus dem Jahr 1977 mit Katharina Thalbach (Filmdienst), der neue "Transformers"-Blockbuster (Filmdienst, unsere Kritik hier), die Netflix-Dokuserie "Tour de France" (Tsp) und die bei Paramount+ laufende Serie "Kohlrabenschwarz" (FAZ).
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Architektur

Parallel zu den vier Bänden mit Aufsätzen und Materialien, die die vom Bundesbauministerium eingesetzte "Unabhängige Historikerkommission Planen und Bauen im Nationalsozialismus" nun vorgelegt hat, ist eine Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste zu sehen, die sich den baulichen Hinterlassenschaften der Nazis widmet. In der SZ fällt es Peter Richter schwer, hier auf "bauliche Qualitäten" zu achten: In Wort und Bild wird etwa "die konservative Großstadtfeindlichkeit der Baupropaganda seitens der Nazis vor ihrer Machtergreifung dargelegt, ihre Idealisierung ländlicher Selbstversorgersiedlungen mit Knusperhäuschen unter extrahohen Satteldächern als Gegenentwurf zur Flachdach- und Stahlrohrmoderne im Umfeld des Bauhauses. Nun weiß man, wie kühl Hitler schon bald die alten Fürsprecher einer deutschtümelnden Heimatschutzarchitektur als 'Rückwärtse' abkanzeln sollte. Auch an scheinbaren Kuriositäten wie dem sogenannten Führer auf dem moderat modernistischen Stahlrohr-Freischwinger wird nun greifbar, wo neben den ideologischen Abgrenzungen die praktischen Kontinuitäten lagen. Am Ende war schließlich auch ein Bauhaus-Schüler unter denen, die die Baracken von Auschwitz projektiert haben."

Nicht mal ein Viertel der geplanten 400.000 Wohnungen hat Bauministerin Klara Geywitz bisher umgesetzt und auf das von namhaften Architekten vor sechs Wochen geforderte Abrissmoratorium gab es bisher keine Reaktion, schreibt Dankwart Guratzsch in der Welt. Dabei ist Weiternutzung von Ressourcen durch die Rettung von Gebäuden umsetzbar, lernt Guratzsch in der Ausstellung "Energiekulturfabrik" im GEH8 Kunst Raum Atelier in Dresden-Pieschen: "Baukultur-Zeugnisse sind Dreifach-Ressourcen: Geschichtsvermittler, Identitätsstifter und Energiespeicher zugleich. Vor diesem Hintergrund zielt das Projekt ENICU darauf ab, leerstehende, als 'Schandflecken' wahrgenommene Fabriken in funktionierende Zukunftsorte, in 'Energie-Kultur-Fabriken', zuwandeln', bekräftigt Christian Henkel, einer der 'Tonangeber' von 'Gribs'."
Archiv: Architektur