9punkt - Die Debattenrundschau

Wie Perestroika in Zeitlupe

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.02.2014. Die NZZ inspiziert die Armee der Auftragsblogger, die in der Türkei Propaganda für die Regierung machen. Jaron Laniers Abrechnung mit dem Internet kommt in den Zeitungen weiter gut an. Jetzt kommt der Rechtspopulismus in die Städte, fürchtet Jean-Stéphane Bron, der einen Dokumentarfilm über Christoph Blocher gemacht hat, in Rue89. Malcolm Gladwell fürchtet in der FR, dass David in seinem Kampf gegen Goliath die Haager Konvention verletzte. An der Homophobie in Afrika ist eindeutig der Westen schuld, meint Kuratorin Koyo Kouoh in der SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.02.2014 finden Sie hier

Europa

Jean-Stéphane Bron hat einen Dokumentarfilm über den Schweizer Populisten Christoph Blocher gemacht, der in Frankreich in dieser Woche startet. Jacques Pezet berichtet in Rue89 und erklärt unter anderem, warum Bron lieber von Populisten als von "Rechtsextremen" spricht: "Es gibt heute keine Ideologen mehr, erklärt Bron, diese Parteien produzieren keine Texte, keine klare Doktrin. Ihre einzige Regel ist dort Kampagne zu machen, wo es eine Tendenz zum Schlimmeren gibt. Und schlimmer kann es immer werden! 'Ich fürchte, es gibt heute noch ein großes Stimmenreservoir für die Populisten - und das liegt bei den Beamten. Heute versuchen sie, die Lehrer zu verführen. Die Herausforderung für den Populismus ist die Eroberung der Städte und des öffentlichen Dienstes." Bei Rue89 ist auch der Trailer des Films zu sehen.
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Medien

Cigdem Akyol beschreibt in der NZZ, wie die türkische AKP von Premierminister Erdogan Auftragsblogger einsetzt, um in sozialen Netzwerken regierungsfreundliche Stimmung zu verbreiten: "Nach den Gezi-Protesten im letzten Jahr beschloss die Regierung, 6000 ehrenamtliche Twitterer und Blogger in einem Koordinationszentrum soziale Netzwerke in Ankara auszubilden. Sie sollen möglichst unauffällig über Twitter, Facebook, Youtube und andere Kanäle von den Glanzleistungen der Regierung, den Fehltritten der Opposition oder unbeugsamen Bürgern berichten. Alle AKP-Provinzorganisationen wurden von der Parteizentrale aufgefordert, Verantwortliche für soziale Netzwerke zu bestimmen."

Der Internet-TV-Dienst Netflix, der unter anderem die Serie "House of Cards" produzierte, soll nach Deutschland und auch nach Frankreich kommen. Joel Morio unterhält sich für Le Monde mit Pascal Rogard von der Société des auteurs et compositeurs dramatiques, der dem Kommen des Dienstes optimistisch entgegensieht. Auf die Feststellung, dass es in Frankreich schon ähnliche Anbieter gibt, antwortet er: "Netflix hat wichtige Trümpfe. Es ist nicht teuer und leicht kündbar. Man kann eine Serie sofort und ganz sehen. Seine Empfehlungssoftware zeigt Ihnen Programme, die Ihnen gefallen könnten. Netflix kann Serien bringen, sobald sie in Hollywood produziert wurden."

Sascha Lehnartz versucht in der Welt die Meldung zu verkraften, dass ausgerechnet Philippe Starck aus der Liberation eine Erlebnismarke mit Bar und sozialem Netzwerk machen soll: "Kaum etwas dürfte die Tiefe des kulturellen Grabens, der den Hauptaktionär der Zeitung Libération, Bruno Ledoux, von den Mitgliedern der Redaktion trennt, so gut vermessen wie der Name des französischen 'Star'-Designers, der seit den Achtzigerjahren so ziemlich alles in ein belangloses, pseudo-freches, minimal-konsenstaugliches Konsumprodukt verwandelt hat. Manch einer erinnert sich vielleicht noch an seine triefende Alessi-Zitronenpresse 'Juicy Salif'. Sah ganz gut aus, produzierte aber vor allem klebrige Arbeitsflächen in der Küche."
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Internet

Andrian Kreye liest in der SZ Jaron Laniers Buch "Wem gehört die Zukunft", das besonders bei Zeitungsredakteuren große Zustimmung findet: "Das Buch steht aber auch exemplarisch für die generelle Enttäuschung über einen ideologischen Irrweg, den die digitale Kultur sehr früh eingeschlagen hat. Deswegen schmerzt sie ja auch so, die Desillusionierung des Jahres 2013, das Lanier als Schlüsseljahr identifiziert." Auch Thomas Thiels gestriger Artikel aus der FAZ steht jetzt online.
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Überwachung

Laura Poitras und James Risen berichteten schon am Samstag in der New York Times, dass auch eine amerikanische Anwaltsfirma vom australischen Counterpart der NSA abgehört wurde. Das gehe aus Dokumenten von Edward Snowden hervor: "The disclosure offers a rare glimpse of a specific instance in which Americans were ensnared by the eavesdroppers, and is of particular interest because lawyers in the United States with clients overseas have expressed growing concern that their confidential communications could be compromised by such surveillance. The government of Indonesia had retained the law firm for help in trade talks, according to the February 2013 document. It reports that the N.S.A.'s Australian counterpart, the Australian Signals Directorate, notified the agency that it was conducting surveillance of the talks, including communications between Indonesian officials and the American law firm, and offered to share the information."
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Gesellschaft

An der Schwulenfeindlichkeit in Afrika ist eindeutig der Westen schuld, meint die Kuratorin Koyo Kouoh im Gespräch Jonathan Fischer in der SZ: "Viele der diesbezüglichen Gesetze, die wir in Senegal anwenden, entstammen noch der dritten französischen Republik. Frankreich schaffte die Diskriminierung Homosexueller in den Achtzigerjahren ab. Aber in Afrika lebt die alte Politik fort. Sie hat Identitäten geformt, die im Gegensatz zu traditionellen afrikanischen Freiheiten stehen."

Arno Widmann unterhält sich in der FR mit dem Autor Malcolm Gladwell über Problemlösung, Kriegsführung und die Kunst, Übermächtige zu besiegen. Davids Sieg über Goliath hält er zum Beispiel für sehr zweischneidig: "Ich nenne das nicht Naivität. Für mich ist es Unerschrockenheit, Verwegenheit, Dreistigkeit. Konventionen interessieren David nicht. Auch keine Haager Konvention. Er setzt die Schleuder ein in einem Konflikt, in dem man keine Schleuder einsetzen darf. Es war so, als würde heute jemand chemische Waffen einsetzen. Schleudern hatten damals alle. Die Philister hätten gut zurückschleudern können, aber der Schock war zu groß. David ist einer, der Regeln bricht. Er schert sich um keinen Konsens. Er ist nicht an Übereinstimmung interessiert."
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Politik

Der kubanische Schriftsteller José Manuel Prieto spricht im Interview mit Bernd Pickert die zaghaften Reformen unter Raúl Castro: " Ich habe die Zeit der Perestroika in der Sowjetunion miterlebt. Damals hat die kubanische Regierung sich all jenen Reformen verweigert - und aus der Sicht der Macht mit guten Gründen. Heute, fast 30 Jahre später, beginnt unser Land mit Reformen, die an damals erinnern, aber sehr, sehr vorsichtig, zurückhaltend und langsam, um auf keinen Fall irgendwie die Kontrolle zu verlieren. Es ist wie Perestroika in Zeitlupe. Die Langsamkeit lässt die Bevölkerung ein bisschen verzweifeln."

Einat Wilf, Abgeordnete der Arbeiterpartei in der Knesset, kritisiert in der SZ Martin Schulz, der in seiner Rede vor der Knesset falsche Zahlen zum Wasserverbrauch der Israelis und Palästinenser verbreitet habe, ohne sie geprüft zu haben: "Wenn er also wirklich an den Fakten interessiert wäre, hätte er genug Zeit gehabt, sie zu prüfen. Eine Rede in der Knesset jedenfalls ist ein merkwürdiger Zeitpunkt, eine Recherche zu starten. Natürlich geht es um mehr als um einen Faktencheck. Der implizite Vorwurf der Behauptung, die Schulz zitiert, lautet: Die Israelis verschwenden Wasser, während die Palästinenser dürsten, und all das organisiert der israelische Staat." Die wirklichen Zahlen laut Wilf: " Meist geht man davon aus, dass Palästinenser zwischen 73 bis 129 Kubikmeter Trinkwasser pro Person und Jahr verbrauchen. Die Israelis verbrauchen diesen Zahlen zufolge zwischen 170 und 180 Kubikmeter Trinkwasserpro Person und Jahr - hinzu kommt noch wideraufbereitetes Brauchwasser."
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Weiteres

Gerhard Matzig macht in der SZ im deutschen Streit um Stromtrassen von Nord nach Süd eine "besonders bittere Pointe" aus: "Es geht eigentlich, man vergisst das fast, um regenerative Energiegewinnung, um Zukunftsfähigkeit. Um: Natur. Weshalb jetzt beeinträchtigt werden soll: Natur. Es ist ein großes Dilemma."

Internetskeptiker Evgeny Morozov denkt in seiner FAZ-Kolumne über die Modevokabel "Awareness" nach. Gina Thomas berichtet ebendort vom Versagen der Politiker bei der großen Flut in Englands Südwesten.
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Stichwörter: Energiewende, Morozov, Evgeny