9punkt - Die Debattenrundschau

Der schreckliche Nachname

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.03.2015. Die Zeit wundert sich, warum erst in den neuesten Bänden der Heidegger-Ausgabe antisemitische Passagen auftauchen, in allen anderen aber nicht. Golem fragt: Warum sollte man nicht wieder die gute alte deutsche Suchmaschine Metager benutzen? Telepolis erklärt, warum Heiraten in Saudi Arabien so schwierig ist. Die NZZ bilanziert die Verluste historischer Bauwerke im Irak. Und Frankreich beugt sich über den Abgrund Front national.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.03.2015 finden Sie hier

Europa

Dieser Ausriss zeigt eine Karte mit den Wahlkreisen an der Mittelmeerküste in Frankreich. "In der Region liegt der Front national selten unter 30 Prozent", zitiert Slate.fr den Politologen Joel Gombin. In den dunkelsten Bezirken liegt der Anteil des Front national bei über 45 Prozent. Bei Slate.fr kann man die einzlenen Wahlkreise anklicken und Näheres erfahren.



Sehr interessant denkt Laurent David Samama in La Règle du Jeu über die Banalisierung des Front national in den französischen Medien nach. Lange wurde die Partei mit der Kneifzange angefasst, und nun entfalte sie einen veritablen "Glamour-Faktor": "Denken wir nur mal darüber nach, dass man es sich angewöhnt hat, Marine nur mit ihrem Vornamen zu nennen, so wie man von "Loana", dem Star der Reality Show "Loft Story" spricht, und dann tut man so, als würde man den schrecklichen Nachnamen Le Pen einfach vergessen. Denken wir kurz nach: Nennen wir Hollande einfach mal "François"? Oder Sarkozy "Nicolas"? Niemals. Der Mediensieg des FN lässt sich auch in solchen Details erkennen."

Nicht erst in den letzten Jahren der akuten Krise, sondern bereits seit 1945 hat Griechenland kontinuierlich Ansprüche auf deutsche Kriegsschulden vorgebracht, doch sie wurden stets "mit einer oft von Faktenverzerrung und -leugnung geprägten Abwehrstrategie" abgeschmettert, schreibt der deutsch-griechische Historiker Hagen Fleischer in der SZ: "Differenzen zwischen Partnern lassen sich aber nicht einseitig mit dem Recht des Stärkeren "abschließen", sondern unter Mitwirkung von Juristen, Historikern und anderen Experten. Erst die Bereitschaft Berlins zu Gesprächen setzt daher dem absurden Zustand ein Ende, dass die konkrete "deutsche (Teil-)Schuld", die sogar von den Nazis anerkannt, berechnet und bedient wurde, von allen demokratischen Regierungen bestritten wird."
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Politik

Seit dem vergangenen Sommer hat der IS im Irak über dreißig historische Bauwerke gesprengt und damit vollständig zerstört. Die Leiterin der Außenstelle Bagdad des Deutschen Archäologischen Instituts, Dr. Margarete van Ess, schreibt in der NZZ einen Nachruf auf einige der zerstörten Stätten, etwa das Mausoleum Imam Dur, eines der wenigen aus der Seldschuken-Zeit stammenden Bauwerke im Irak: "Imam Dur war im Jahr 1085 für Sharaf al-Dawla Muslim ibn Quraish, Gouverneur der Region, errichtet und zuletzt in den 1990er Jahren restauriert worden. Der zentrale Raum dieses Mausoleums, ein Gebetsraum, ist durch eine hohe konische Kuppel gekennzeichnet, die im Inneren durch "Muqarnas", eine für die islamische Architektur sehr typische, wabenartige Form des Raumdekors, gestaltet war. Sie war die älteste derartige bekannte Kuppel der islamischen Welt und hatte eine unmittelbar berührende, sakrale Raumwirkung."

In der taz erklärt der jordanische Politikwissenschaftler Rami Khouri im Gespräch mit Christian Kreutzer, warum Verschwörungstheorien im Nahen Osten so verbreitet sind: "In ihrem Umfeld können die Menschen meist nicht ihr eigenes Land kritisieren, weil sie das direkt ins Gefängnis oder in eine Folterkammer bringt. Die Menschen sind in ihren eigenen Gesellschaften machtlos. Sie dürfen politisch nicht mitreden, niemanden zur Verantwortung ziehen, sie werden nicht korrekt informiert. Darum fühlen sie sich hilflos und den Wünschen Fremder ausgesetzt. Ausländer, wie Amerikaner, Briten, Türken, Iraner oder Israelis zu kritisieren, ist da einfach leichter."
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Überwachung

Laut einem neuen Gesetzentwurf, sollen die Abhörkompetenzen des BND noch erheblich erweitert werden, berichtet Andre Meister in Netzpolitik und zitiert den Anwalt Niko Härting, der schon einmal gegen die anlasslose Massenüberwachung des BND geklagt hat: "Es ist kaum zu glauben, dass die Bundesregierung die Abhörbefugnisse des BND massiv erweitern möchte. Kriminelle Angriffe auf deutsche IT-Systeme sollen mit einer massiven, anlasslosen Überwachung bekämpft werden. Dies ist unverhältnismäßig, verfassungswidrig und ein Zeichen der Geringschätzung des laufenden NSA-Untersuchungsausschusses."
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Medien

Florian Harms, Chefredakteur von Spiegel Online, erklärt recht ausführlich, was alles im deutschen Internet-Leitmedium noch besser werden soll - unter anderem mehr Dokumentation und weniger Breaking News. Eine praktische Kurzzusammenfassung bietet Nils Jacobsen bei Meedia. SpOn denkt angeblich auch über paid content nach. Das NDR-Magazin Zapp hat in seiner neuesten Ausgabe über das neue Bezahlmodell des NDR-Medienpartners Süddeutsche Zeitung berichtet. Wir vom Perlentaucher sind von der neuen SZ allerdings verwirrt: Setzt man Links auf Artikel der Zeitung, kommt immer nur die Aboaufforderung, offenbar bekommen die Leser nicht mal ein paar Artikel ohne Registrierschranke. So war das mit dem "Metered Model" eigentlich nicht gemeint!
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Gesellschaft

Über eine wenig bekannte Kehrseite des Frömmlertums in Saudi Arabien berichtet Florian Rötzer in Telepolis: Mehr als die Hälfte der geplanten Ehen in dem Land werden nach Gentests "abgesagt": "Da aufgrund zahlreicher Heiraten unter Blutsverwandten der Anteil von genetischen Erkrankungen der Kinder und Totgeburten relativ hoch ist, Abtreibungen wegen Erbkrankheiten aber verboten sind, ist die Prävention eine Möglichkeit, die islamische Moral einzuhalten - und wahrscheinlich die Heirat unter nahen Verwandten wie Kusinen ersten Grades zu reduzieren."
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Internet

Sascha Lobo denkt in seiner Spiegel Online-Kolumne über die Netzreaktionen auf den Absturz der Germanwings-Maschine nach: "Verstörend, wie eng Trauer und Wut beieinander liegen. Zu den meistgeteilten Botschaften gehört Empörung über die "sensationslüsterne Journaille". Natürlich ist der nachrichtliche Umgang mit solchen Katastrophen unbedingt kritikwürdig. Aber gerade im Verbund mit den heftigen Reaktionen auf Privatpersonen, die vermeintlich unpassend reagieren, entsteht ein anderes Bild: Das digitale Trauerkollektiv möchte nach einem Moment der Bestürzung wütend sein."

(via Zeit Digital) Nach einem Relaunch bietet die nichtkommerzielle deutsche Suchmaschine MetaGer verbesserte Suchfunktionen und Einstellungsoptionen, meldet Christiane Schulzki-Haddouti auf golem.de. Zu den datenschutzfreundlichsten Suchmaschinen gehört sie ohnehin: "Der Standardzugang erfolgt über eine HTTPS-Verschlüsselung. Daten, die der Computer des Nutzers an MetaGer übermittelt, also IP-Adresse, Browser-Fingerabdruck und Zeitstempel, werden zunächst anonymisiert und so für die Verbesserung der Suche verwendet. Nach 24 Stunden werden sie ganz gelöscht."
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Ideen

Nach der Veröffentlichung von Martin Heideggers "Schwarzen Heften" fragt sich die Fachwelt, warum sich in den rund 80 zuvor erschienenen Bänden der Heidegger-Gesamtausgabe keine Hinweise auf den massiven Antisemitismus Heideggers finden. Nun hat der Verleger Vittorio E. Klostermann die Herausgeber in einem Brief dazu aufgefordert, ihm etwaige Lesefehler oder Streichungen zu melden, berichtet Adam Soboczynski in der Zeit: "Es ist ein in der deutschen Editionsgeschichte wohl einmaliger Vorgang: Die Herausgeber sollen bitte schön bekennen, ob sie etwas weggelassen oder manipuliert haben - und dürften daher fortan befürchten, dass die Verantwortung maßgeblich auf sie gelenkt wird, sollten in Zukunft weitere "Lesefehler" aufgespießt werden. Dabei ist die Ausgabe im Zusammenspiel von Verlag, Herausgebern und Familie Heidegger über Jahrzehnte gemeinsam entstanden."
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Geschichte

Ziemlich empört antwortet der Historiker Jörg Baberowski in der Zeit auf die vergangene Woche erschienene Replik seines Kollegen Gerd Koenen auf seinen Artikel über Putin und die Ukraine (unser Resümee): "Ich habe nicht verlangt, man müsse der russischen Regierung freie Hand lassen, und ich habe nicht geschrieben, dass der Leidenskult keinen Respekt verdient. Ich habe vielmehr versucht, historisch zu erklären, warum das imperiale Projekt nicht nur Feinde, sondern auch Freunde hat und warum die Ukraine ein gespaltenes Land ist, in dem unterschiedliche Geschichten über Vergangenheit und Gegenwart erzählt werden. Ich habe also nur getan, was Historiker tun sollen. Sie sollen verstehen, was sie lesen und hören. Denn sie sind weder Staatsanwälte noch Richter, die Menschen danach bemessen, ob sie ihren moralischen Ansprüchen genügen."

Am Dienstag hat die Historikerin Miriam Gebhardt ihre Studie "Als die Soldaten kamen" über Vergewaltigungen nach dem Zweiten Weltkrieg in der Berliner Topografie des Terror vorgestellt. Umstritten diskutiert wurde Gebhardts Kalkulation von 190.000 durch amerikanische GIs begangene Vergewaltigungen, berichtet Stefan Hochgesand in der taz: "Es gab in allen Bundesländern bald nach Kriegsende bis 1955 Statistiken über Kinder von Besatzungssoldaten. Die Behörden fragten die Mütter auch, ob das Kind durch Gewalt entstanden ist. 1.900 Fälle in der US-Besatzungszone sind auf diese Weise dokumentiert. Schon diese Zahl ist nicht notwendig belastbar, beruht sie doch auf Selbstaussage der Frauen. Gebhardt nutzt sie trotzdem: "Es gibt eine allgemeine Formel, dass von jeder hundertsten Vergewaltigung ein Kind entsteht.""
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