9punkt - Die Debattenrundschau

Bregret oder Regrexit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.07.2016. Die Krimiautorin Esmahan Aykol schildert in der Berliner Zeitung, wie sich die Angst in alle Kapillaren der türkischen Gesellschaft verbreitet. Necla Kelek analysiert die Ereignisse für emma.de und porträtiert Fethullah Gülen als feindlichen Bruder Erdogans. In der NZZ beobachtet Tanja Dückers das Sinken der Hemmschwelle für terroristische Akte. Die Kolumnisten recherchieren zu einer hochrangig besetzten Tagung über "Islamophobie". Im Kluwer Copyright Blog bedauert die EU-Parlamentarierin Julia Reda das Fehlen der Briten in künftigen europäischen Urherberrechtsverhandlungen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.07.2016 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt Türkei:

Und wohin geht die Türkei jetzt? Can Dündar, Chefredakteur der türkischen Zeitung Cumhuriyet, der gerade wegen Spionage zu fast sechs Jahren Haft verurteilt wurde, weil er über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an radikale Islamisten berichtet hatte, sieht sie in der Zeit auf dem Weg in die Diktatur: Erdogan "kehrte bereits zu seinem Credo von 1993 zurück: Wenn das Volk ein autoritäres Regime will, muss man das respektieren. Und wer das nicht will? Wer wird in unserem Land, in dem jetzt unter Demokratieparolen Galgen errichtet werden, noch widersprechen?"

Necla Kelek bereitet in einem längeren Kommentar für emma.de das ganze Elend der türkischen Situation auf. Unter anderem macht sie klar, dass Fethullah Gülen bei Erdogan wohl so verhasst ist, weil er ihm so ähnelt: "Der in Amerika lebende Prediger Fethullah Gülen ist wie Erdogan ein Islamist. Seine Hizmet-Bewegung hat über Jahrzehnte konspirativ den 'Marsch durch die Organisationen' betrieben. Seine mehrheitlich gut ausgebildeten Anhänger - Gülen setzt auf dem Weg zur Macht auf Bildung - haben sich durch ihr Verhalten selbst in die Rolle der 'Verräter' manövriert. Seit Jahrzehnten arbeiten sie konspirativ wie ein islamischer 'Opus Dei', verleugnen ihre Zugehörigkeit zu Gülen, tarnen ihre Vereine und verfolgen eine unbekannte Agenda. Weil Gülens Bewegung sich nicht dem demokratischen und öffentlichen Disput gestellt hat, ist es jetzt umso leichter, sie als Putschisten zu diffamieren."

Die Krimiautorin Esmahan Aykol schildert in der Berliner Zeitung, wie sich wie durch ein Kapillarsystem die Angst überall in der Türkei ausbreitet: "Frauenorganisationen haben vor der Gewaltwelle Angst. Der Regierungssprecher Numan Kurtulmus sagte, dass es wegen des Putsches erleichtert wird, einen Waffenschein zu bekommen. Der Staat führt seit Jahren keine Statistiken mehr, aber nach Angaben von Frauenorganisationen werden jeden Tag vier Frauen von ihren Ehemännern oder Verwandten umgebracht. Von daher ist die Frage mehr als berechtigt, gegen wen diese Waffen gerichtet werden."

Um Demokratie ging es in der Putschnacht keiner der beiden Seiten, erklärt in der FAS auch die türkische Journalistin Ece Temelkuran die das Geschehen in Istanbul miterlebte: "Es ist halb zwei in der Nacht und von allen Minaretten in der Türkei erklingt unablässig dieser spezielle lange Gebetsruf, der bei Todesfällen zur Anwendung kommt. Endet einer, fängt schon der nächste an. Das Donnern der Kampfjets über unseren Dächern vermischt sich mit diesem ins Mark gehenden Gebetsruf, der für uns den Tod verkündet. Als die Gefechtsgeräusche verstummen, kommen von den Moscheen Durchsagen zum Widerstand gegen das Militär: 'Dies ist ein Dschihad. Geht für Allah auf die Straße!'"

Auch außen- und wirtschaftspolitisch bieten sich laut Jürgen Gottschlich in der taz eher trübe Perspektiven: "Statt vom Beitritt zur EU träumt Erdogan von einer islamischen Wirtschaftsunion, in der seine Türkei den entscheidenden Part spielen könnte. Finanziert werden soll diese Wirtschaftsunion mit saudischem und katarischem Öl - und Gas-Geld. Nicht zufällig bemüht sich Erdoğan seit einem Jahr um eine Allianz mit den Saudis, angetrieben von einem gemeinsamen Interesse im Krieg in Syrien."

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Demokratie als Herrschaft der Mehrheit ist eben keine Demokratie, wenn nicht zugleich die Minderheiten geschützt werden. Eine Lektion, die auch Polen, Ungarn, Russland, die AfD und der Front National noch lernen müssen, meint Jens Jessen in der Zeit: "Es bleibt dabei, dass eine Demokratie sich auch auf demokratischem Wege schrumpfen oder barbarisieren kann - und übrigens sogar abschaffen. Das war lange nur eine theoretische Möglichkeit. Jetzt werden ihre realen Umrisse sichtbar."

Wer gedacht hatte, dass das Brexit-Votum den Rechtspopulisten in Europa nutzen würde, sieht sich zumindest vorerst getäuscht, schreibt Lind Zeilina auf politico.eu, denn es gibt angesichts des britischen Chaos eher eine pro-EU-Stimmung: "Selbst die Idee eines EU-Referendums wirkt wie ein faux pas in Europa. Populistische und Anti-Establishment-Parteien scheinen sich auf andere Themen als die EU fokussieren zu müssen. Ein Beispiel ist die Empörung, die eine Rechtspartei in Finnland auslöste, als sie ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft des Landes vorschlug. Zahllose Versprechen wurden nach dem Leave-Votum in Britannien gebrochen - und Europäer sind eher in einer 'Bregret' oder 'Regrexit'-Stimmung."

Nach Nizza und Würzburg schreibt Tanja Dückers in der NZZ: "Die Hemmschwelle, als einzeln agierender Terrorist in Erscheinung zu treten, scheint merklich gesunken zu sein. Die Gründung einer komplexen konspirativen Zelle ist nicht mehr nötig, Voraussetzung ist vor allem eine Persönlichkeitsstruktur, die zum Morden und zum Verzicht auf das eigene Leben befähigt."

Weiteres: Aiman Mazyek vom "Zentralrates der Muslime " fürchtet im Tagesspiegel, dass man nach dem Attentat von Würzburg "mit den Fingern auf uns Muslime zeigt".
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Gesellschaft

Niklas Maak inspiziert für die FAZ die Trump Towers, für die der republikanische Präsidentschaftskandidat oft genau jene ärmeren Städter vertrieb, die ihn heute wählen: "Es ist ein Phänomen, das noch kommende Generationen beschäftigen wird, wie ausgerechnet ein Mann, der mit rücksichtsloser Immobilienpolitik seine Milliarden gemacht und ganze Bevölkerungsgruppen aus den Innenstädten herausgentrifiziert hat, zum politischen Hoffnungsträger all derer werden konnte, die der großen Immobilienkreditkrise von 2008 zum Opfer gefallen waren: der Immobilienmogul als Retter einer vom Immobilienwahnsinn zerstörten Nation."

In der NZZ stellt Barbara Villiger Heilig in ihrer neuen Kolumne Pariser Leben das Restaurant Les Cuistots migrateurs vor, wo Flüchtlinge Gerichte aus ihrer Heimat kochen.
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Kulturpolitik

Peter Laudenbach macht sich in der SZ Sorgen um die Rotstiftpolitik in der eigentlich prosperierenden Stadt Karlsruhe: "Die Subventionskürzungen von im Schnitt 3,6 Prozent betreffen nicht nur das Staatstheater, sondern alle von der Stadt mitfinanzierten Kultureinrichtungen, vom soziokulturellen Kulturzentrum Tollhaus auf dem Schlachthofgelände bis zum international renommierten Zentrum für Kunst- und Medientechnologie (ZKM).

Hannah Lühmann ist in der Welt immer noch geschockt vom Museumssprech, mit dem der eigentlich sehr sympathische Paul Spies sein Konzept für die Berlin-Ausstellung im Humboldt-Forum vorstellte.
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Ideen

In der taz denkt Nina Scholz anlässlich von Andi Zeislers kürzlich auf Englisch erschienenem Buch "We Were Feminists Once" über die neue, allzu beliebte und vermarktbare Version des Feminismus nach, einen Feminismus, der zu Pop-Kultur geworden ist. Zeisler kritisiere diese Entwicklung zwar und liefere jede Menge Beispiele, gebe jedoch keine Antworten auf Fragen wie die, warum der Lean-In-Feminismus so gut ankommt: "Dabei liegt die Antwort so nahe: Wir leben in einer Welt, die von den Mythen des Neoliberalismus durchzogen ist. Und natürlich wollen Frauen glauben, dass alles gut wird, wenn sie nur sehr fleißig, sehr angepasst, überhaupt sehr marktkonform sind. Das ist ein Glaube an die Erfolgsmythen des Kapitalismus, der sich hartnäckig hält, egal wie oft diese Mythen widerlegt werden."
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Wissenschaft

In der NZZ stellt Georg Renöckl die "viel frischen Südwind" versprechenden neuen Leiter zweier österreichischer Wissenschaftskollegs vor: Shalini Randeria, die neue Direktorin des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) und Thomas Macho, der das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) übernommen hat.
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Religion

Henryk Broder führt mit seiner Kollegin Eva Marie Kogel, einer Islamwissenschaftlerin, über drei Seiten in der Welt ein Streitgespräch über die Frage "was das alles mit dem Islam zu tun hat" und zieht dabei einen einfachen Vergleich: "Wenn jemand mit einer Axt auf Reisende in einem Zug losgeht und dabei 'Sieg Heil!' und 'Heil Hitler!' ruft, dann würden wir bestimmt nicht fragen, ob und wann er der NSDAP beigetreten ist. Es würde reichen, dass er 'Sieg Heil!' und 'Heil Hitler!' ruft, um ihn als Nazi zu identifizieren." Worauf Kogel antwortet: "Verstehe. Aber wenn Sie zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt gehen, dann wird der Ihnen ja auch erklären, dass es unterschiedliche Formen von Asthma gibt. Und nur eine sehr extreme Ausprägung von Asthma dürfte einen ins Grab bringen."

In seinem Blog brachte der irakische Satiriker Faisal Saeed al-Mutar das ganze Dilemma dieses Streits wunderbar auf den Punkt mit seiner Klage: "I am a jihadist and I am tired of not being given credit."

Ein Kongress zum Thema "Islamophobie in Europa" in Sarajewo wäre vielleicht nicht weiter der Rede wert, wenn dort nicht hochprominente elder statesmen wie die ehemaligen Außenminister von Großbritannien und Frankreich, Jack Straw und Bernard Kouchner, sowie der ehemaligen spanische Ministerpräsident Jose Luis Zapatero teilgenommen hätten. Organisiert wurde er allerdings von Organisationen, die der Muslimbruderschaft nahestehen, haben Nina Scholz und Heiko Heinisch bei den Kolumnisten herausgefunden, die die alte Problematik des Begriffs "Islamophobie" auch noch mal erläutern: "Die Schwäche der Diagnose 'Islamophobie' zeigt sich darin, den Unterschied zwischen Islamkritik und Muslimfeindschaft nicht wahrzunehmen oder als unerheblich zu betrachten, und damit zu einer Polarisierung in 'Islamfeinde' und 'Islamfreunde' beizutragen. Der Terminus differenziert nicht zwischen Ressentiment beladener Hetze gegenüber Muslimen und der Aufklärung verpflichteter, Kritik an der Religion, sondern wird umstandslos dazu genutzt, Kritik abzuwehren. "
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Urheberrecht

(Via David Pachali) Das Kluwer Copyright Blog interviewt die Europaabgeordne Julia Reda von der Piratenpartei zu verschiedenen europäischen Urheberrechtsthemen und auch zu den Folgen des Brexit für die Thematik: "Falls Britannien die EU verlässt, aber Teil des Gemeinsamen Marktes bleibt, wird es die Copyright-Gesetzgebung umsetzen müssen, ohne mitbestimmen zu können. In diesem Fall wird eine wichtige Stimme in der Copyright-Gesetzgebung, die die Notwendigkeit unabhängiger wissenschaftlicher Untersuchungen und technologischer Neutralität betonte, fehlen."

Weiteres: Deprimierend liest sich, was Patrick Beuth bei Zeit online über einen langwierigen Prozess der SZ gegen ein kleines Start up in Namen des total verkorksten Leistungschutzrechtes für Presseverleger führt. Unter anderem müssen die Gerichte jetzt definieren, wie lang ein "Snippet" sein darf.
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