9punkt - Die Debattenrundschau

Kontrolle über die Rotation

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.12.2017. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung erklärt Thomas Wagner, Autor des Buchs "Die Angstmacher", was die Neue Rechte ist und wie sie hochkommen konnte. Vier Bundesländer wollen mit einer Bundesratsinitiative den Paragrafen 219a kippen, meldet die taz. Der Guardian hat eine Idee: Lasst und das Rad abschaffen, aber bitte nicht ohne "Übergangsperiode". Netzpolitik fragt, was "Presseähnlichkeit" sein soll.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.12.2017 finden Sie hier

Europa

Vier Bundesländer wollen den Paragrafen 219a kippen, der es Ärzten verbietet, über Schwangerschaftsabbruch zu informieren, berichtet Dinah Riese in der taz: "Am kommenden Dienstag soll die Bundesratsinitiative im Senat eingebracht werden, sagte Berlins Justizsenator Behrendt der taz. 'Wenn alles gut läuft, können wir das Vorhaben dann am Freitag im Bundesrat einbringen.' Der tritt am 15. Dezember das letzte Mal in diesem Jahr zu einer Plenarsitzung zusammen."

Matthew d'Ancona fasst im Guardian den bisherigen Verlauf des Brexit in einer kleinen Parabel zusammen: "Hier ist eine Idee. Lasst uns das Rad verbieten. Befreien wir uns von der Tyrannei dieses runden Geräts und geben wir das Geld, das wir für Achsen und Reifen sparen, für - hm, ich weiß nicht - na vielleicht das nationale Gesundheitssystem aus. Wir sollten wieder die Kontrolle über die Rotation gewinnen! Aber Moment. Wir können das nicht über Nacht tun. Wir brauchen noch eigene Transportmittel für uns und unsere Güter, bis wir auch formell aufs Rad verzichtet und uns auf ein neues Gerät geeinigt haben. Wir werden eine 'Übergangsperiode' brauchen, in der wir mit dem runden Format 'verbunden' bleiben."

Im Interview mit der NZZ - online nachgereicht vom Samstag - weicht der Schriftsteller Edouard Louis der Frage nach der teilweisen Ununterscheidbarkeit von extremen Linken und Rechten aus und fordert statt dessen eine neue Linke, die sich mit Eribon, Lagasnerie und Mélenchon an Black Lives Matter orientieren müsse: "Was mich wirklich in Rage bringt, sind Leute wie Macron oder Bücher, die sich aggressiv gegen Frauen, Homosexuelle oder Minderheiten richten. Und eine meiner größten Ängste ist es, dass mein neuestes Buch im Figaro positiv rezensiert werden könnte!"

Thomas Schmid blickt in der Welt nochmal zurück auf die "Cérémonie d'hommage populaire" für Johny Hallyday, die am Samstag Hunderttausende auf die Champs-Elysées brachte, die ihn in Präsenz Präsident Macrons und zweier Ex-Präsidenten feierten - und ist ein wenig verwundert über das maue Interesse in Deutschland: "Gewiss, es gab keinen Grund, die französische Emphase zu kopieren. Aber neugierig hätten wir schon sein können. Heißt es doch immer wieder, die deutsch-französische Verständigung sei der Urmeter der europäischen Einigung. Verhielte es sich wirklich so, dann wären beide Länder darin geübt, sich gegenseitig im Anderen zu spiegeln. Das tun sie aber nicht. Offensichtlich ist uns ziemlich egal, was die Franzosen beschäftigt und erregt. Und umgekehrt dürfte es sich nicht viel anders verhalten."

Außerdem: In der FR berichtet Arno Widmann von einem Berliner Gespräch des Zeit-Chefs Giovanni di Lorenzo mit Roberto Saviano unter anderem über die "Avantgarderolle" Italiens (er meint das nicht positiv).
Archiv: Europa

Urheberrecht

Vor einigen Tagen wurde gemeldet, dass das Europäische Parlament die Vergabe europäischer Lizenzen in den Mediatheken doch erleichtern könnte (so dass man in Deutschland etwa die Inhalte französischer Mediatheken sehen könnte). Morgen ist die Abstimmung. Michael Hanfeld trommelt in der FAZ noch einmal heftig dagegen und zitiert aus eine Brief der Produzenten, die ihre Lizensen Land für Land vergeben können möchten. Aber es "könnten Lizenzen schon heute europaweit vergeben werden, nur müssten sie von den Sendern dann auch entsprechend vergütet werden (was nicht geschehe). Die Klärung der Rechte sei einfach, da zumeist der Produzent über sie verfüge - und sich eben auch dafür entscheiden können müsse, sie länderweise zu vergeben."
Archiv: Urheberrecht

Religion

Sufis sind keine Sekte, sondern eine spirituelle Bewegung innerhalb des Islam, möchte Marian Brehmer in der NZZ klar stellen: "Ironischerweise bedienen sich die islamischen Fundamentalisten für die Rechtfertigung ihrer Gewalt ähnlicher Kategorien wie mangelhaft informierte Beobachter im Westen: Sie unterscheiden zwischen einem orthodoxen Islam, den sie für den 'wahren' halten, und einem mystischen, der für sie 'fehlgeleitet' ist. Der hier zugrunde liegende Denkfehler, welcher auf einem Paradigma der Spaltung beruht, ist - auch wenn er in gegenteilige Einschätzungen des Sufismus mündet - der gleiche. ... Wenn wir die Sufis vom Islam trennen, bestätigen wir unwissentlich nicht nur die Argumentationsmuster der Extremisten, sondern diskreditieren auch die übrigen Muslime. Nur die Sufis für tolerant und friedlich zu halten, impliziert, dass der Rest der Muslime nicht tolerant und friedlich sei."

In der SZ wünscht sich der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi insgesamt einen moderneren humanistischeren Islam.  Dazu müsste man sich aber erst mal eingestehen, dass es ein Problem gibt: "Gefahr droht nicht allein von den Salafisten. Viel gefährlicher sind die sogenannten moderaten Islamisten, die ständig betonen, dass es keinen Extremismus in ihren Gemeinden gibt. Indem sie die Augen vor den Gefahren des Islamismus und seinen Predigern verschließen, bieten sie ihnen den Hort, den sie benötigen, um Anhänger zu gewinnen und ihre Lehre der Gewalt zu verbreiten. Zu den Apologeten gehören die konservativen Dachverbände, die einerseits meisterhaft die Opferrolle pflegen und andererseits in der Öffentlichkeit den Ton des Überlegenen anschlagen, der zu fordern und nicht so sehr zu liefern hat. Ihre konservative Islamkonzeption und ihre Opferhaltung werden gewiss keinen Beitrag zur Integration der hier lebenden Muslime und der Deradikalisierung der Islamisten leisten, ganz zu schweigen von der Verwirklichung einer Islamreform."
Archiv: Religion

Geschichte

Arno Widmann besucht für die FR eine Ausstellung über die gegenseitigen Einflüsse von Judentum, Christentum und Isalm im Gropius-Bau und ist nur halb zufrieden: "Aber irgendwann erhebt sich der Betrachter und denkt: Das ist doch nicht die Ausstellung 'Juden, Christen, Muslime im Dialog der Wissenschaften 500 - 1500'"! Das ist eine Schau höchst sehenswerter Objekte aus Medizingeschichte und Astronomie, nirgends aber ist auch nur eine einzige Überlegung sichtbar zum Beispiel über das Verhältnis von Wissenschaft und Religion in den Kulturen und Epochen." In der Süddeutschen freut sich Gustav Seibt über die vielen "glanzvoll schönen, unglaublich interessanten Bücher und Handschriften".

In der NZZ erzählt die Luzerner Philosophin Christine Abbt von Diderots Besuch im Russland Katharinas II., wo der französische Aufklärer lernen musste, dass ein zu großes Machtgefälle jede echte Diskussion verhindert: "Die Gegner der Aufklärung hatten ihn in Paris ins Gefängnis gesetzt, die Freundin der Aufklärung ließ ihn sich als Narr begreifen. Er spürte im Umgang mit Katharina II. unmittelbar, dass Einsicht, Erkenntnis und Intellekt gegen den Willen zur Macht nicht ankamen."

Außerdem: In der FAZ schreibt Karl Schlögel  über die Wahl des Obers­ten So­wjets am 12. De­zem­ber 1937 und ihren Zusammenhang zu dem im gleichen Jahr losgetretenen "Großen Terror". Klaus Hillenbrand bespricht in der taz die Ausstellung "Welcome to Jerusalem" im Jüdischen Museum in Berlin. In der FAZ schreibt Regina Mönch über die Ausstellung.
Archiv: Geschichte

Ideen

Im Gespräch mit Kai Schlieter von der Berliner Zeitung erklärt Thomas Wagner, Autor des Buchs "Die Angstmacher - 1968 und die Neuen Rechten", was die neue Rechte ist (ein Intellektuellenzirkel mit Einfluss auf die AfD) und wie Politiker wie Helmut Kohl und Angela Merkel halfen, den AfDlern ein Terrain zu geben: "Merkel verfolgt erfolgreich die Strategie, möglichst alle gesellschaftlichen Strömungen einzubinden, sodass sie ihrem Machterhalt dienen. Im Bundestag spielen Auseinandersetzungen eine viel geringere Rolle als in den siebziger und achtziger Jahren. Da ging es hoch her. Heute gibt es meist nur noch Scheingefechte, weil man sich in den wesentlichen Punkten einig ist. Deswegen hat die AfD mit ihrem Parteinamen: 'Die Alternative' einen klugen Schachzug gemacht."
Archiv: Ideen

Medien

Hinter der  Debatte über die "Presseähnlichkeit" von Online-Inhalten der Öffentlich-Rechtlichen versteckt sich eine andere Frage, meint Leonhard Dobusch, der im Fernsehrat des ZDF setzt, in seiner Netzpolitik-Kolumne: "Presse im Internet ist ein multimedialer Mix aus Text, Bild, Video- und Audiomaterialien. Presseähnlichkeit als Kriterium hat sich damit überlebt. Vielmehr geht es um die Grundsatzfrage, ob es beitragsfinanzierten Journalismus online geben soll oder nicht. Wenn das mit 'Ja' beantwortet ist, stellt sich nur noch die Frage, ob dieser im Gegenzug werbefrei sein sollte - was er in Deutschland auch weitgehend ist." Und das heißt, dass die Sender ungehindert im Netz expandieren können sollten?

Außerdem: In der NZZ erklärt Stefan Mey, wie Medien das Darknet nutzen.
Archiv: Medien

Kulturpolitik

In Frankreich hat Präsident Macron verkündet, in der Kolonialzeit geraubte Kulturgüter nach Afrika zurückgeben, berichtet Joseph Hanimann in der SZ. So versprach Macron bei einem Besuch in Algerien nicht nur, "37 Schädel von Rebellen zurückerstatten", sondern erklärte auch, er "könne nicht hinnehmen, dass das Kulturerbe zahlreicher afrikanischer Länder sich weitgehend in Frankreich und anderen westlichen Ländern befinde ... Das afrikanische Kulturerbe müsse neben Paris auch in Dakar, Lagos und Cotonou gezeigt werden. Der Präsident kündigte an, er werde dafür sorgen, dass in fünf Jahren die Voraussetzungen für eine zeitweilige oder endgültige Rückkehr der Exponate nach Afrika geschaffen seien. Die Pariser Museumswelt ist in Aufregung."
Archiv: Kulturpolitik